die antastbare sprache 11kultur und mediendas parlament – nr. 46/47 – 14. november 2011 f rüher fuhren die deutschen in die waschanlage. heute heißt es carwash. früher half ihnen die informationsstelle weiter. heu- te macht das der servicepoint. die billigste kleidung gab es einst im schlussverkauf. heute bekommen wir sie beim sale. wenn wir einen kaffee zum mitnehmen haben wollen, bestellen wir ihn to go. wir googeln, screenshoten, outsourcen. wir scannen, managen, chat- ten. wir rebooten, brainstormen, chillen. und verlieren dabei unsere sprache. so sieht das der verein deutsche sprache (vds). dass man im supermarkt nicht mehr ohne englisch einkaufen könne, sei je- doch nur das „i-tüpfelchen“, sagte der vor- sitzende walter krämer, professor für wirt- schafts- und sozialstatistik an der universi- tät dortmund vergangene woche vor dem petitionsausschuss. in der wissenschaft dürften fördergelder teils nicht mehr auf deutsch beantragt werden, vorlesungen würden auf englisch gehalten. darin zeige sich ein „dramatischer bedeutungsschwund und ansehensverlust der deutschen spra- che“, betonte krämer. seine lösung: der kleine passus „die spra- che der bundesrepublik ist deutsch“. aufzu- nehmen in artikel 22 des grundgesetzes. dort wird auch die hauptstadt und die far- be der bundesflagge festgelegt. mit der auf- nahme des satzes in die verfassung solle die funktion der deutschen sprache als wich- tigstes verständigungsmittel anerkannt wer- den, fordert der vds – und hat mit dem ver- ein für deutsche kulturbeziehungen im ausland eine entsprechende petition mit rund 75.000 mitzeichnern beim bundestag eingereicht (siehe auch seite 12). der peti- tionsausschuss tagte öffentlich darüber. ebenfalls gegenstand der diskussion: eine petition mit rund 3.000 mitzeichnern, die sich dafür ausspricht, den gesetzlichen sta- tus der deutschen sprache unverändert zu lassen. die festschreibung des deutschen als landessprache sei ein signal der ab- schottung gegen internationale freunde und verbündete und in deutschland leben- de menschen mit migrationshintergrund, heißt es dort. die diskussion um die neue deutsche sprachlosigkeit hat die öffentlichkeit schon einmal beschäftigt: vor rund drei jahren stimmte eine mehrheit auf dem cdu-par- teitag für die aufnahme von deutsch in die verfassung. eine umstrittene entscheidung: bundeskanzlerin merkel (cdu) bekundete öffentlich ihren unwillen. migrantenver- bände äußerten sich skeptisch. auch die fdp war dagegen. die forderung fand dann zwar eingang in die koalitionsverhandlun- gen, nicht aber in den koalitionsvertrag. »ein weltoffenes land« die auseinander- setzung im petitionsausschuss zeigte, dass die frage auch heute noch auf skepsis stößt. zugleich wurde deutlich, dass es um mehr geht als um anglizismen, die die deutsche sprache durchsetzen. es geht um integrati- on, um die frage, was ins grundgesetz ge- hört und wie man sprache verstehen kann. ist sprache ein – dem wortsinn nach eher statisches – „gerüst für bestimmte kulturel- le ausdrucksformen“, wie es in der vds-pe- tition heißt? oder ist sie einem steten wan- del unterworfen, wie agnes alpers (die lin- ke) betonte? sprachkultur werde von allen menschen einer gesellschaft entwickelt und deutschland sei eine multikulturelle gesell- schaft, sagte die bildungspolitikerin vor dem petitionsausschuss. zudem wies alpers darauf hin, dass gerade jugendliche mit mi- grationshintergrund, die eine gute zweispra- chige erziehung genossen hätten, einen ho- hen bildungsstand und gute gesellschaftli- che teilhabe nachweisen könnten. es sei nicht so, dass zuwandererfamilien sich weigerten, die deutsche sprache zu ler- nen, betonte auch sonja steffen (spd). sie wies außerdem auf das „rigide ausländer- recht“ in deutschland hin, das die halbjäh- rige, erfolgreiche teilnahme an einem inte- grationskurs verlange. migranten seien „ein nicht wegzudenkender teil unseres modernen, weltoffenen lan- des“, ergänzte der hamburger sprachwis- senschaftler anatol stefanowitsch, haupt- petent der contra-petition. mit der aufnah- me von deutsch als staatssprache ins grundgesetz werde diesen menschen ge- zeigt: „ihr gehört nicht zu uns.“ „der vorwurf der ausländerfeindlichkeit ist lächerlich“, urteilte der wissenschaftler krä- mer. wäre die aufnahme der landessprache in die verfassung ausländerfeindlich, wären viele länder ausländerfeindlich. allein 17 der 27 eu-staaten hätten ihre sprache in der verfassung festgelegt– darunter frankreich und österreich. sogar liechtenstein habe die deutsche sprache in der verfassung. die situation in diesen ländern sei eine an- dere, widersprach stefanowitsch. so habe sich deutschland nie über eine sprache de- finiert. von den 17 genannten staaten leg- ten zudem sieben mehrere sprachen in ih- rer verfassung fest. ob es sein könne, dass österreich und liechtenstein das bedürfnis haben, deutsch als amtssprache festzule- gen, weil sie österreich und liechtenstein heißen und eben nicht deutschland, wollte der integrationspolitische sprecher der grü- nen, memet kilic, wissen. hierzulande leg- ten sowohl das gerichtsverfassungsgesetz als auch die verwaltungsverfahrensgesetze deutsch als amtssprache fest, betonte er. aus seiner sicht müsse das reichen. abschreckende wirkung ähnlich deutlich äußerte sich peter röhlinger, petitionspoli- tischer sprecher der fdp-fraktion. er wies auf die zunehmende internationalisierung von wissenschaft und wirtschaft hin. unter umständen könne es auf fachkräfte ab- schreckend wirken, wenn sie zunächst deutsch lernen müssten. unentschlossen zeigte sich die union: in ih- rer fraktion gebe es noch keine „einhellige meinung“ zu diesem thema, sagte sabine weiss (cdu). sie fragte, wie eine grundge- setzänderung konkret den bedeutungs- schwund der deutschen sprache aufhalten oder aber den minderheitenschutz gefähr- den könne. zudem wollte sie wissen, ob bei den 17 staaten die bildungs- und integrati- onspolitik von der aufnahme der sprache in die verfassung profitiere. tatjana heid ❚ petitionsausschuss deutsch in die verfassung? die abgeordnete sehen das mehrheitlich skeptisch die antastbare sprache d er nationalsozialistische ras- senwahn gipfelte in der ns-zeit in der radikalen rassenhygiene. zwangsstrerilisationen, zwangsabtreibungen und vernichtung „le- bensunwerten lebens“ wurden mit letzter konsequenz betrieben. „lebensunwert“ war in der ideologie der nationalsozialisten je- der mensch – egal welchen alters – mit schwerer körperlicher oder geistiger behin- derung. sogar kinder fielen den ns-„eutha- nasie“-morden zum opfer. die industriali- sierte vernichtung der juden fand ihr perfi- des pendant in der organisierten vernich- tung des „lebensunwerten lebens“. die berliner tiergartenstraße 4 beherbergte damals die zentrale dienst- und verwal- tungsstelle zur planung und durchführung der ermordung zehntausender behinderter menschen. die adresse war namensgeber für die sogenannte „aktion t4“. sie kostete von januar 1940 bis august 1941 mehr als 70.000 psychiatriepatienten das leben. wider das vergessen dass diese opfer des nationalsozialisitischen regimes nicht in vergessenheit geraten dürfen, darüber be- steht interfraktionelle einigkeit. deshalb debattierte der bundestag vergangenen donnerstag im plenum über ein adäquates gedenken. „die opfer sind zu würdigen“, hob bundestagsvizepräsident wolfgang thierse (spd) in der debatte hervor. seine fraktion hatte gemeinsam mit den fraktio- nen von cdu/csu, fdp und grünen einen antrag (17/5493) zur aufwertung des ge- denkortes „t4“ eingebracht. bislang gibt es nur wenige hinweise in der tiergartenstra- ße 4 auf das organisierte grauen, das hier vor rund 60 jahren geplant wurde: eine ge- denktafel und ein kleines denkmal. in der debatte herrschte konsens darüber, nicht nur den gedenkort in der tiergarten- straße selbst aufzuwerten, sondern auch ein dokumentationszentrum zu schaffen, bei- spielsweise integriert in die nahegelegene stiftung „topographie des terrors“. deshalb wurde die aufwertung des gedenkens vom bundestag mehrheitlich beschlossen. ein- zig die linksfraktion enthielt sich bei der abstimmung. sie fordert ein dokumentati- onszentrum direkt in der tiergartenstraße 4. dass unter vier der fünf fraktionen einig- keit herrschte, zeigte für den cdu-abgeord- neten marco wanderwitz, „dass sich das parlament in diesem wichtigen punkt seiner gesamtgesellschaftlichen verantwortung bewusst ist“. verena renneberg ❚ im namen der opfer von oben links nach rechts: walter krämer, kersten steinke (linke), anatol stefanowitsch, sabine weiss (cdu), sonja steffen (spd), memet kilic (grüne), agnes alpers (linke) und peter röhlinger (fdp) diskutieren die festlegung der landessprache im grundgesetz. ©picturealliance/ulideck/bundestag.de/collage:stephanroters weitere informationen: www.nomos-shop.de/14285 nomos stiftung presse-grosso informationsfreiheit und pressevertrieb in europa zur funktionsleistung des grosso-systems in ausgewählten staaten der europäischen union von prof. dr. michael haller 3. auflage 2011, band 3, ca. 300 s., brosch., ca. 44,– € isbn 978-3-8329-7140-3 erscheint ca. dezember 2011 anzeige ns-»euthanasie« gedenkort wird aufgewertet b raucht deutschland ein filmerbe- gesetz, das festlegt, welcher film der nachwelt erhalten bleiben soll? diese und ähnliche fragen hat der kultur- und medienausschuss ver- gangenen mittwoch diskutiert. der regis- seur hans w. geißendörfer und sechs wei- tere experten waren geladen, um fachfragen zum thema „filmerbe – archivierung und digitalisierung“ zu beantworten. die digitalisierung im audiovisuellen be- reich beschäftigt die kultur- und medienpo- litiker schon seit geraumer zeit. sie wollen das deutsche filmerbe einem möglichst breiten publikum dauerhaft zugänglich ma- chen und dabei die interessen der film- branche, der rechteinhaber und -verwerter, der filmfördereinrichtungen, archive und stiftungen berücksichtigen. der ausschuss diskutierte mit den experten die möglich- keiten, wie der bund die sicherung, den er- halt und die zugänglichmachung des fil- merbes mit modernen technischen verfah- ren bewerkstelligen kann. auswahl des filmerbes „wenn das filmer- be digitalisiert wird, muss eine auswahl ge- troffen werden“, schon allein aus kosten- gründen, erklärte rainer rother, künstleri- scher direktor der stiftung deutsche kine- mathek. es müssten allgemein gültige kriterien festgelegt werden, denn es wäre falsch, „die tausend bekanntesten zu neh- men, die jeder kennt und die bereits auf dvd erschienen sind“. rother warf die fra- ge auf, ob es eines filmerbe-gesetzes bedür- fe. „alles ist kultur“, betonte regisseur gei- ßendörfer. „manche filme laufen gefahr, kaputt zu gehen, wenn sie nicht digitalisiert werden“, warnte er. eberhard junkersdorf von der friedrich-wilhelm-murnau-stif- tung ergänzte, dass viele alte filme bei- spielsweise aus den 1920er-jahren noch nicht einmal restauriert worden seien. die kosten für die restauration würden bei et- wa 750.000 euro pro film liegen. risiken digitaler technik auch filme aus neueren zeiten seien bedroht, erklärte jan fröhlich, experte für nachbearbeitung. es gebe neue filme, von denen kein negativ existiere, sondern nur digitale kopien. „sol- che filme sind schon komplett verlorenge- gangen. ich kenne kein speichermedium, dem ich meine daten länger als zehn jahre anvertrauen würde. das heißt, man muss al- le sieben, acht jahre umkopieren. ein her- kömmlicher negativfilm bietet eine ganz andere physikalische sicherheit“, sagte er. margarete evers von der allianz deutscher produzenten geht davon aus, dass die öf- fentlich-rechtlichen rundfunkanstalten ard und zdf, die teils eigene filme produ- zieren und an kinoproduktionen beteiligt sind, ihr material selbst archivieren. „aber ob das zur bewahrung des filmerbes aus- reicht, das kann ich nicht beurteilen.“ auf die frage einer abgeordneten, inwiefern unklare rechtslagen die digitalisierung be- hindern könnten, antwortete paul klimpel, verwaltungsdirektor der stiftung deutsche kinemathek, dass die rechtelage in der tat nicht immer eindeutig sei. vor allem bei äl- teren filmen könnte es zu problemen kom- men, beispielsweise bei der ermittlung von rechteinhabern. verena renneberg ❚ zukunft des filmerbes archivierung die chancen und risiken digitaler technik gedenktafel für „t4“-opfer in berlin ©picture-alliance/dpa ulrich kienzle abschied von 1001 nacht sagas edition 352 s. 19,90 € nach 40 jahren chaos, krieg und unterdrü- ckung begehren die menschen in weitentei- len des nahen ostens auf. plötzlich, schein- bar aus dem nichts,erwacht ein „arabischer frühling“, den nach der jahrzehntelangen eiszeit mit eingefrorenen herrschaftsstruk- turen niemand mehr zu erhoffen gewagt hat.auch nicht einer der profiliertesten nah- ost-kenner des deutschen journalismus: ul- rich kienzle. das bekennt er freimütig in sei- nem jetzt vorgelegten buch „abschied von 1001 nacht“. kienzle hat diesen abschied über jahrzehn- te als korrespondent in den arabischen län- dern begleitet.seine erlebnisse fasst er auch gedruckt so zusammen, wie es sein publi- kum am fernseh-bildschirm gewohnt war: er erklärt zusammenhänge, vermittelt hin- tergründe, verdeutlicht probleme – und trägt damit im besten sinne des wortes zur meinungsbildung bei. seine schilderungen wecken verständnis für die arabische men- talität. und sind dabei vergnüglich zu lesen. vergnüglich? darf ein buch, das krieg, mas- senmord und grausamste verbrechen als themen nicht ausspart, vergnügen bei der lektüre bereiten? ja, darf es. jedenfalls dann, wenn die sprachlich gekonnt darge- botenen schilderungen auf den ersten blick nichtiger begebenheiten dazu dienen, das arabische denken und fühlen zu erklären. denn dieses denken und fühlen sind grund- lage für despotisches verhalten, menschen- verachtung und ausgeprägte bereitschaft zu bewaffneter auseinandersetzung. so analysiert kienzle das arabische kriegs- verständnis als einen kampf,der – entgegen der europäischen sichtweise – nicht zum ziel habe, den gegner zu vernichten. viel- mehr gehe es darum, mit waffengewalt die jeweiligen ziele durchzusetzen, im zweifel auch mitverbündeten, die in einem anderen konflikt noch bekämpft worden sind. es ist das großeverdienst dieses buches, po- litische entwicklungen durch die beschrei- bungen gesellschaftlicher merkmale im na- hen osten greifbar zu machen. der „arabi- sche frühling“ lässt sich deutlich besser ver- stehen und einordnen, wenn ulrich kienzles buch gelesen ist. jörg biallas ❚ michael lüders tage des zorns. die arabische revolution verän- dert die welt c. h. beck 207 s. 19,95 € schon johann wolfgang von goethe wusste, dass die geschichte selbst keinen standort kennt,wo sie sich sicher beobachten und ein- schätzen lässt.nirgendwo sind die dinge der- zeit mehr im fluss als in der arabischenwelt. trotz aller ungewissheiten dort bietet gleich- wohl das werk „tage des zorns“ von micha- el lüders dem leser gute orientierung über das atemberaubende und teils verwirrende geschehen.in ihm erschöpft sich der langjäh- rige nahost-korrespondent nicht in einer fak- ten-darstellung, sondern versucht, die gro- ßen linien der entwicklungen aufzuzeigen und diese analytisch einzuordnen. in seinem gutteils essayistisch geschriebenen buch von den revolutionsanfängen in tune- sien über die dramatischen geschehnisse am kairoer tahrir-platz bis hin zu aktuellen ent- wicklungen in den golf-staaten und in syrien schildert lüders plastisch die historischen, politischen und sozialen verhältnisse „vor ort“. ohne ihre kenntnis sind die revolutio- nen nicht zu verstehen. so, weshalb die um- wälzungen im stärker mittelständisch ge- prägtentunesien oder ägypten mehr erfolgs- aussichten haben als anderswo. lüders´ buch ist eine philippika gegen westliche arroganz und fehleinschätzungen über den orient:der westen habe sich „nicht sehr interessiert für die menschen in der arabisch-islamischen welt, man war irgendwie der meinung, dass islam und moderne nicht zusammengeht, man hatte vorurteile, der araber braucht eben die harte hand“. deshalb habe man gerne weggeschaut, wenn autokratische re- gime unruhen niederschlugen – schließlich ging es um geopolitische interessen,um isra- els sicherheit und sichere ölzufuhren. deshalb habe man im westen nun große schwierigkeiten, das geschehen im maghreb und nahen osten zu begreifen und positiv einzuordnen. daran führe aber keinweg vor- bei, meint lüders, auch wenn rückschläge möglich seien.im zeitalter von facebook und co. lasse sich der „arabische frühling“ nicht mehr zurückdrehen. in welche richtung er sich entwickelt – schon haben (gemäßigte) islamisten die tunesien-wahl gewonnen – weiß auch der autor nicht. hans krump ❚ kurz rezensiert