4 5bundespräsidentenwahl 2012 das parlament – nr. 11/12 – 12. märz 2012 „dieses mal aber eine frau!“ schon oft er- tönte dieser ruf, wenn ein neu- es staatsoberhaupt gesucht wurde. eine kandidatin stellten die parteien freilich bis- lang nur dann auf, wenn sie in der jeweili- gen bundesversammlung absehbar keine ausreichende mehrheit hatten. bisher kan- didierten acht mal frauen für das amt des bundespräsidenten. obwohl mehr oder we- niger chancenlos, machten es manche der damen spannend. die bundesrepublik hatte bereits vier bun- despräsidenten erlebt, als die spd im jahr 1979 mit annemarie renger erstmals über- haupt eine frau ins rennen ums höchste staatsamt in die bundesversammlung schickte. mit der rolle „der ersten frau“ kannte sich renger gut aus, war sie doch von 1972 bis 1976 die erste bundestagspräsi- dentin gewesen. „ich habe in dieser zeit er- reicht, was ich wollte: es ist bewiesen, dass eine frau das kann“, bilanzierte sie nach ih- rer amtszeit. sicherlich hätte sie auch „bun- despräsident gekonnt“, jedoch hatte ihre kandidatur angesichts der mehrheitsver- hältnisse in der bundesversammlung von vornherein keine aussicht auf erfolg. den- noch ließ sich renger von ihrer partei in die pflicht nehmen, nachdem sich die sozialli- berale koalition zuvor erfolglos darum be- müht hatte, den gelehrten carl-friedrich von weizsäcker als gemeinsamen kandida- ten aufzustellen. erwartungsgemäß wurde karl carstens gewählt. ähnlich chancenlos wie renger war bei der nächsten wahl im jahr 1984 die schriftstel- lerin luise rinser, die von den ein jahr zu- vor mit 39 sitzen erstmals in den bundes- tag eingezogenen grünen als einzige ge- genkandidatin zum cdu-politiker richard von weizsäcker nominiert worden war. die „christliche sozialistin oder sozialistische christin“, wie sich rinser selbst nannte, scheiterte bereits im ersten wahlgang gegen den früheren regierenden bürgermeister von berlin. sie erhielt aber beachtliche 68 stimmen bei 117 enthaltungen. grande dame anders als renger und rin- ser hätte es hildegard hamm-brücher im mai 1994 schaffen können. die fdp bot ih- re grande dame in verärgerung über die union auf, nachdem der koalitionspartner ohne abstimmung mit den liberalen den damaligen sächsischen justizminister stef- fen heitmann (cdu) nominiert hatte. al- lerdings war hamm-brücher für die fdp nur zweite wahl, nachdem ihr langzeit-au- ßenminister hans-dietrich genscher, der bei allen parteien beste chancen gehabt hätte, eine kandidatur abgelehnt hatte. zwar nominierte die union statt des um- strittenen heitmann nach scharfer kritik den präsidenten des bundesverfassungsge- richts, roman herzog, die fdp hielt aber dennoch an der kandidatur hamm-brü- chers fest. die spd schickte den nordrhein- westfälischen ministerpräsidenten johan- nes rau ins rennen, die grünen nominier- ten den früheren ddr-bürgerrechtler jens reich. keiner der kandidaten verfügte über die in den beiden ersten wahlgängen notwendige absolute mehrheit. hätte die spd rau zu- rückgezogen und stattdessen hamm-brü- cher unterstützt, wäre diese vermutlich ge- wählt worden. zumindest wäre die schwarz- gelbe koalition unter helmut kohl (cdu) in eine kapitale krise gestürzt. der damali- ge spd-vorsitzende rudolf scharping spe- kulierte jedoch auf liberale unterstützung für rau – und verschätzte sich. denn die fdp – unter dem vorsitz von außenminis- ter klaus kinkel – unterstützte im dritten wahlgang den unions-kandidaten herzog, der dann auch tatsächlich zum bundesprä- sidenten gewählt wurde. hamm-brücher, die im ersten wahlgang 132 und im zweiten wahlgang 126 stim- men erhielt – deutlich mehr als die fdp wahlleute stellte –, wäre auch im entschei- denden dritten wahlgang angetreten, tat dies auf druck der parteiführung aber nicht. diese koalitionsräson kreidet hamm-brü- cher, inzwischen nicht mehr in der fdp, ih- rer früheren partei bis heute an. „kohl be- fahl das alles, und die fdp war gehorsam“, sagte sie unlängst in einem interview. bei der bundespräsidentenwahl 1999 stell- te erstmals die union mit der parteilosen thüringer physikerin dagmar schipanski eine kandidatin auf – freilich in dem wis- sen, dass spd und grüne eine deutliche mehrheit in der bundesversammlung ha- ben würden. die wahl beinhaltete eine wei- tere premiere: zum ersten mal kandidierten mehr frauen, nämlich zwei, als männer für das höchste staatsamt. doch weder schi- panksi noch die von der pds nominierte ebenfalls parteilose theologin uta ranke- heinemann konnten sich gegen den männli- chen kandidaten jo- hannes rau durchset- zen. für schipanski be- deutete die bundesprä- s i d e n t e n w a h l allerdings den einstieg in ihre politische kar- riere. nach der land- tagswahl in thüringen wurde sie dort im herbst 1999 wissen- schaftsministerin. im märz 2000 trat schipanski der cdu bei, in deren präsidium sie wenig später gewählt wurde. zwei anläufe gleich zwei mal versuchte sich die hochschulprofessorin gesine schwan als bundespräsidentenkandidatin. im jahr 2004 nominierte die spd ihr mit- glied als kontrahenten des kandidaten von union und fdp, horst köhler. köhler er- hielt erwartungsgemäß im ersten wahlgang die absolute mehrheit, schwan „fischte“ je- doch mit ihren 589 stimmen etliche stim- men aus dem schwarz-gelben lager. bei ih- rer zweiten kandidatur fünf jahre später warb schwan – was ihr auch unter sozialde- mokraten kritik eintrug – kräftig um stim- men der linken. bei der wahl war die frü- here präsidentin der europauniversität via- drina in frankfurt/oder auf abweichler aus dem bürgerlichen lager und die stimmen der grünen sowie der linkspartei angewiesen. am 23. mai 2009 zog schwan dann aber erneut im ersten wahlgang den kürzeren gegen köhler. nach dessen überraschendem rücktritt 2010 nominierte die linkspartei ihre bundestagsab- geordnete luc jochimsen als ge- genkandidatin zu christian wulff und joachim gauck. auf ihre geringen wahlchancen an- gesprochen, sagte sie, sie sei es gewohnt, eine außenseiterin zu sein. am 18. märz tritt nun – ebenfalls als außen- seiterin – die parteilose antifaschistin bea- te klarsfeld auf vorschlag der linkspartei als kandidatin an. gegen den von fünf partei- en unterstützten gauck wird sie voraus- sichtlich im ersten wahlgang unterliegen. das höchste staatsamt bleibt damit vorerst das, was es seit 1949 ist: eine männerbasti- on. monika pilath ❚ wir sind nur die kandidatinnen frauen das höchste staatsamt ist eine der letzten männerbastionen. bewerberinnen standen stets auf verlorenem posten w enn am 18. märz die 15. bundesversamm- lung die nachfolge des zurückgetretenen christian wulff klärt, wird die letzte bun- despräsidentenwahl immerhin schon mehr als 20 monate zurückliegen. vor wulffs wahl mitte 2010 waren schließlich nur gut 13 monate vergangen, seit der später gleich- falls demissionierte horst köhler im höchs- ten staatsamt bestätigt worden war. dergleichen hatte es zuvor in der geschich- te der bundesrepublik noch nicht gegeben: heinrich lübke, der einzige vor köhler zu- rückgetretene bundespräsident, hatte von seiner zweiten amtszeit bereits mehr als vier jahre absolviert, als er im oktober 1968 sei- nen vorzeitigen abschied zum 30. juni 1969 ankündigte, zehn wochen vor ablauf der regulär fünfjährigen amtsdauer. spannende wahl eine premiere anderer art bot köhlers wiederwahl 2009, bei der mit ihm und seiner spd-herausforderin gesine schwan erstmals zwei kandidaten in der bundesversammlung antraten, die be- reits bei der vorherigen präsidentenwahl aufeinandergetroffen waren. wie 2004 setz- te sich köhler auch 2009 – jeweils von uni- on und fdp nominiert – im ersten wahl- gang gegen seine kontrahentin durch. zugleich erinnerte die konstellation von 2009 an die bislang wohl spannendste bun- despräsidentenwahl, nämlich die vom 5. märz 1969. damals regierten wie im mai 2009 union und spd zusammen in einer großen koalition die bundesrepublik. in der berliner ostpreußenhalle aber ließen sie zwei mitglieder des bundeskabinetts ge- geneinander antreten. für die union kandi- dierte gerhard schröder (nicht zu verwech- seln mit dem späteren bundeskanzler), lan- ge zeit erst innen-, dann außen-, schließ- lich verteidigungsminister. für die spd bewarb sich justizminister gustav hei- nemann, als cdu-mitglied unter adenauer einst selbst innenminister und mittler- weile sozialdemokrat. in den zwei ersten wahlgän- gen verfehlten beide die er- forderliche absolute stim- menmehrheit, wobei hei- nemann knapp vor seinem kabinettskollegen lag. im dritten wahlgang, bei dem die relative mehrheit reicht, gewann er mit 50,0 prozent der abgegebenen stimmen. ausschlaggebend war die fdp, die damit den ersten spd-politiker ins höchste staats- amt wählte – ein vorbote der soziallibera- len koalition, die die union wenig später auf die oppositionsbänke schickte. nicht jede bundesversammlung bot einen solchen „wahlkrimi“. 1979 und 1984 etwa war das ergebnis von vornherein klar, da die union die absolute mehrheit in dem gre- mium hatte. da nutzte es der spd 1979 nichts, mit ex-bundestagspräsidentin anne- marie renger erstmals eine frau ins rennen zu schicken (siehe seite 5). renger, die dem cdu-mann karl carstens unterlag, war da- bei für ihre partei nur „zweite wahl“: ur- sprünglich hatte die spd die kandidatur dem physiker und philosophen carl-fried- rich von weizsäcker angetragen, der indes abwinkte. sonst hätte er wohl mit seinem bruder ri- chard die erfahrung teilen müssen, in der bundesver- sammlung zu unterliegen. richard von weizsäcker nämlich stand 1974 als uni- ons-bewerber auf verlore- nem posten gegen die sozi- alliberale mehrheit und de- ren kandidaten walter scheel. beim zweiten anlauf erhielt weizsäcker dann 1984 auch zahlreiche spd- stimmen und erreichte stolze 80,9 prozent. bei seiner wiederwahl 1989 gab es zum ein- zigen mal keine gegenkandidaten: der amtsinhaber galt als idealbesetzung und wurde mit 86,2 prozent bestätigt – ein wert, den nur gründungspräsident theodor heuss bei seiner wiederwahl 1954 mit 88,2 prozent übertraf. heuss hatte dabei ebenfalls die zustim- mung auch der meisten sozialdemokraten gefunden. bei seiner ersten wahl 1949 musste er sich dagegen noch gegen spd- chef kurt schumacher durchsetzen, was er im zweiten wahlgang auch schaffte. adenauers »hü und hott« „pfui“-rufe gab es bei seiner wiederwahl 1954 bei bekannt- gabe des wahlergebnisses, als sich eine stimme für den noch als kriegsverbrecher inhaftierten karl dönitz fand, 1945 kurzzei- tiger nachfolger hitlers als reichspräsident. dass auf einem weiteren stimmzettel der enkel wilhelms ii. und chef des hauses hohenzollern, louis ferdinand, als staats- oberhaupt gewünscht wurde, erregte 36 jah- re nach dem ende der monarchie nur noch heiterkeit. auch auf konrad adenauer ent- fiel 1954 eine stimme, obwohl er wie dö- nitz und der preußen-prinz gar nicht nomi- niert war. eng verknüpft ist der name des ersten bundeskanzlers mit der folgenden präsidentenwahl von 1959, für die er zu- nächst seine bewerbung angekündigt hatte. drei wochen vor der wahl machte aden- auer einen rückzieher, um weiter die „richtlinien der politik“ bestimmen zu können. heuss-nachfolger wurde stattdes- sen landwirtschaftsminister heinrich lüb- ke (cdu). bei dessen wiederwahl 1964 ver- zichtete die spd – anders als die fdp – auf einen gegenkandidaten: die erste große koalition kündigte sich an. mit gleich vier gegenkandidaten hat- te es demgegenüber 1994 roman herzog zu tun. als unions-bewerber für de- ren ursprünglichen, dann aber zurückgezo- genen kandidaten steffen heitmann aus sachsen angetreten, konnte sich herzog erst im dritten wahlgang mit unterstützung der fdp gegen johannes rau behaupten. rau gelang fünf jahre später der sprung an die staatsspitze. verheiratet mit der enkelin seines politischen ziehvaters heinemann, musste er sich dabei auch gegen dessen von der damaligen pds nominierten tochter uta ranke-heinemann durchsetzen, der tante seiner frau. der zweite sozialdemo- krat im höchsten staatsamt nahm es launig: „an dem wort ,familienbande’ ist viel wah- res dran“, bemerkte rau – nach seiner wahl, wohlgemerkt. beste chancen, am 18. märz wie rau und weizsäcker im zweiten anlauf eine mehr- heit der bundesversammlung zu finden, werden dem schwarz-rot-gelb-grünen kan- didaten joachim gauck attestiert. 2010 noch musste er sich wulffs mehrheit von union und fdp erst im dritten wahlgang beugen, in dem zwei weitere kandi- daten nicht mehr angetre- ten waren. helmut stoltenberg ❚ wer hoffte, nach der wahl von christian wulff zum bundespräsidenten mitte 2010 werde der weg frei sein, um am ende seiner amtszeit eine vielen lieb gewordene tradi- tion wieder aufzunehmen, sah sich mit dem rücktritt des staatsoberhauptes im vergan- genen monat getäuscht. drei jahrzehnte hindurch nämlich – immerhin fast die hälf- te der mittlerweile 62-jährigen geschichte der bundesrepublik – ist der bundespräsi- dent stets an einem 23. mai gewählt worden – eine tra- dition, die nach dem rück- tritt von wulff-vorgänger horst köhler durchbrochen werden musste. sie hätte wieder aufgenommen wer- den können, wenn wulff seine reguläre amtszeit von fünf jahren bis zum 30. juni 2015 absolviert hätte – oder in diesem jahr bis zum 25. april (aber auch nicht viel länger) gewartet hätte, um seinen auszug aus schloss bellevue zu verkünden. siebenmal hintereinander ein besseres datum als der 23. mai lässt sich nämlich für die wahl des ersten mannes – oder der ers- ten frau – im staate wohl kaum finden: es ist schließlich der verfassungstag, an dem 1949 das grundgesetz verkündet wurde, und so wurde immerhin schon siebenmal hintereinander das staatsoberhaupt an die- sem für das selbstverständnis der bundesre- publik so wichtigen tag gewählt. eine schöne tradition, aber auch eine unge- schriebene, denn das grundgesetz legt nur fest, dass die bundesversammlung spätes- tens 30 tage vor dem ende der amtszeit des amtierenden präsidenten zusammenkom- men muss – bei „vorzeitiger beendigung“ etwa durch tod oder wie im falle der amts- inhaber köhler und nun auch wulff durch rücktritt maximal 30 tage danach. wann genau das staatsober- haupt gewählt wird, be- stimmt der präsident des bundestages, zu dessen auf- gaben laut verfassung die einberufung der bundesver- sammlung gehört. als erster parlamentspräsident hatte sich karl carstens 1979 für den 23. mai entschieden, und er sollte dann auch der erste bundespräsident werden, der am ver- fassungstag gewählt wurde – wie nach ihm 1984 und 1989 richard von weizsäcker, 1994 roman herzog, 1999 johannes rau und schließlich 2004 und 2009 horst köh- ler. nach dessen rücktritt am 31. mai 2010 mai berief bundestagspräsident norbert lammert (cdu) die 14. bundesversamm- lung zum 30. juni und damit - wie auch 2012 – letztmöglichen termin ein. die amtszeit wulffs als neuer bundespräsi- dent begann an diesem 30. juni 2010 in dem moment, in dem er die wahl ange- nommen hatte, obgleich seine vereidigung erst zwei tage später erfolgte – eine beson- derheit, die sich bei der wahl seines nach- folgers oder seiner nachfolgerin wiederho- len wird. sie beruht auf dem umstand, dass die amtszeit köhlers und wulffs mit deren sofortiger demission beendet war. start am 18. märz bei allen ihren vorgän- gern seit dem lange zuvor angekündigten rücktritt von heinrich lübke zum 30. juni 1969 hatte die amtszeit jeweils an einem 1. juli begonnen; die nachfolge wulffs da- gegen wird nun an einem 18. märz angetre- ten. nur bei einer neuerlichen „vorzeitigen beendigung“ der amtszeit des staatsober- hauptes – die noch dazu in den passenden zeitkorridor fallen müsste – ließe sich eine rückkehr zum 23. mai als datum der bun- desversammlung praktizieren, da es kaum vorstellbar ist, jemanden rund zehn mona- te vor beginn seiner amtszeit in das höchs- te staatsamt zu wählen. den anhängern des verfassungstages mag es ein schwacher trost sein, dass das neue staatsoberhaupt am 18. märz ins amt ge- wählt wird – der ist immerhin als jahrestag der märz-revolution von 1848 und der ers- ten freien volkskammer-wahl von 1990 gleichfalls ein schlüsseldatum für das de- mokratische deutschland. doch wird dies, fünfjährige amtszeiten vorausgesetzt, ein einzelfall bleiben, da dann die kommen- den bundesversammlungen spätestens an einem 17. februar stattzufinden haben – dem jahrestag des wulff-rücktritts. heimstatt in berlin solche unwägbarkei- ten spielen bei der wahl des versammlungs- ortes keine rolle – mittlerweile jedenfalls: seit der deutschen einheit tagt die bundes- versammlung im berliner reichstagsgebäu- de. den großen plenarsaal des bundestages in der hauptstadt zu nutzen, ist nahelie- gend, vor allem aber ein symbol für die überwundene teilung deutschlands. die nämlich machte berlin auch als ort der bundespräsidentenwahl für viele jahre zum streitobjekt zwischen ost und west. gesetzliche vorschriften über den tagungs- ort gibt es nicht, abgesehen von der tatsa- che, dass nach dem „gesetz über die wahl des bundespräsidenten“ der bundestags- präsident neben dem zeitpunkt der bun- desversammlung auch den ort ihres zu- sammentritts bestimmt. nach der ersten wahl 1949, zu der noch die ministerpräsi- denten der länder in den damals neuen bundestags-plenarsaal nach bonn geladen hatten, trat die bundesversammlung vier mal – 1954, 1959, 1964 und 1969 – in der (west-)berliner ostpreußenhalle zusam- men. wurden dagegen beim ersten mal noch von keiner der vier siegermächte ein- wände geltend gemacht, werteten die sow- jetunion und die ddr die wahl berlins zum tagungsort ab 1959 als provo- kation und reagierten mit protestnoten, drohungen und schließlich auch mit ver- kehrsbehinderungen auf den zugangswe- gen zu der geteilten stadt. 1969 verkündete die ddr knapp einen monat vor der fünf- ten bundesversammlung ein durchreisever- bot für deren mitglieder, die berlin damit nur noch auf dem luftweg erreichen konn- ten; manöver des warschauer pakts im raum von berlin wurden angekündigt, und am wahltag selbst donnerten mig-kampf- flugzeuge über west-berlin. erst mit dem vier-mächte-abkommen von 1971 verzichtete der westen auf weitere prä- sidentenwahlen an der spree. in einem brief der drei westlichen botschafter an den bun- deskanzler hieß es: „in den westsektoren berlins werden keine sitzungen der bundes- versammlung und weiterhin keine plenar- sitzungen des bundesrates und des bundes- tages stattfinden.“ so mussten die wahlleute künftig wieder an den rhein reisen, an dem nun ab 1974 vier bundesversammlungen in folge in der bon- ner beethovenhalle stattfanden. die letzte präsidentenwahl dort erfolgte am 23. mai 1989 – ein knappes halbes jahr, bevor der mauerfall auch der bundesversammlung den weg nach berlin wieder frei machen sollte. helmut stoltenberg ❚ keine rückkehr zum verfassungstag geschichte weder tag noch ort der wahl des staatsoberhauptes sind gesetzlich festgelegt siebenmal hintereinander erfolgte die wahl des präsidenten an einem 23. mai. nur 1989 bei weizsäckers wiederwahl gab es keinen anderen kandidaten. theodor heuss (1949 bis 1959) der promovierte nationalökonom wurde am 12.sep- tember 1949 der erste bundespräsi- dent. er gab dafür sein bundestags- mandat und den vorsitz der nach dem krieg neu ge- gründeten fdp auf. dem bei amtsübernahme 65-jährigen gelang es, brücken der verständigung zu bauen in einer welt, die der jungen bundes- republik noch mit sehr viel misstrauen be- gegnete. 1954 wurde er mit breiter, partei- übergreifender mehrheit wiedergewählt. heuss wurde in der jungen bundesrepublik in hohem maße als ideal eines bundesprä- sidenten empfunden. er starb 1963 in stutt- gart im alter von 79 jahren. ❚ die bundespräsidenten von familien- und anderen geschichten rückblick abstimmungskrimis und pfui-rufe: ein streifzug durch 14 bundesversammlungen heinrich lübke (1959 bis 1969) der im sauerland geborene lübke saß während der ns-zeit 20 mona- te in haft. unmit- telbar nach dem krieg trat er der cdu bei. lübke gehörte dem bun- destag seit 1949 mit einer unter- brechung an und war von 1953 an bundes- landwirtschaftsminister. am 1. juli 1959 wurde lübke zum bundespräsidenten ge- wählt; 1964 erfolgte seine wiederwahl, diesmal auch von der spd mitgetragen.lüb- ke engagierte sich besonders für die ent- wicklungszusammenarbeit. er besuchte 35 länder, vor allem in der „drittenwelt“. lüb- ke erkrankte noch während seiner amtszeit schwer an krebs. 1972 starb er. ❚ gustav heinemann (1969 bis 1974) noch als cdu- mitglied wurde heinemann 1949 bundesinnenmi- nister. im oktober 1950 trat er aus protest gegen die wiederbewaff- nung zurück und aus der cdu aus. von frühjahr 1957 an spd-mitglied, wurde heinemann im jahr 1966 bundesjustizminister.drei jahre später wurde er erst in dritten wahlgang mit sechs stimmen vorsprung zum bundespräsiden- ten gewählt. in seinem amt trat er für die versöhnung mit den von deutschland unter dem ns-regime besetzten staaten europas ein.früh verzichtete er auf einewiederwahl. heinemann starb 1976. ❚ walter scheel (1974 bis 1979) der „singende b u n d e s p r ä s i - dent“, der einst mit dem lied „hoch auf dem gelben wagen“ populär wurde, ist mittlerweile 92 jahre alt. dem bundestag gehör- te scheel von 1953 bis zu seinerwahl als bundespräsident an. seit 1946 in der fdp, wurde er 1968 de- ren bundesvorsitzender. als außenminister in den jahren von 1969 bis 1974 galt scheel gemeinsam mit bundeskanzler willy brandt (spd) als „vater der entspannungspolitik“. am 15. mai 1974 wurde er mit den stimmen von spd und fdp zum bundespräsidenten gewählt. (interview seite 2) ❚ weder bundespräsidium noch direktwahl grundgesetz bei den verfassungsberatungen waren amt und wahl des staatsoberhauptes keineswegs eine selbstverständlichkeit n ach dem rücktritt von bundespräsident christi- an wulff ist prompt der ruf nach abschaffung des höchsten amtes im staate lauf geworden. es sei „überflüssig“ und „ein dummer ana- chronismus“, war da etwa zu hören. auch über eine direktwahl des staatsoberhauptes wird parteiübergreifend diskutiert (siehe seite 2). neu sind freilich beide debatten nicht, schon im parlamentarischen rat, der 1948/49 das grundgesetz ausarbeitete, wa- ren sie ein thema. dennoch entschieden sich die väter und mütter des grundgeset- zes anders: „der bundespräsident wird“, so steht es in artikel 54 der verfassung, „von der bundesversammlung gewählt“. warum aber hat die bundesrepublik überhaupt ei- nen doch weitgehend auf repräsentative aufgaben beschränkten bundespräsiden- ten? und weshalb wird er durch eine nur zu diesem zweck einzuberufende versamm- lung gewählt statt wie der bundeskanzler vom bundestag oder eben direkt vom volk? was heute vielen b ü r g e r n selbst- verständlich scheinen mag, war vor mehr als 60 jahren bei den beratungen über das grundgesetz so unumstritten nicht. die sehnsucht nach einem „ersatzkaiser“, der nach dem sturz der monarchie mit dem 1919 geschaffenen amt des reichspräsiden- ten noch rechnung getragen worden war, schien nach den schlechten erfahrungen der weimarer republik diskreditiert. statt- dessen wurde bei den beratungen über „richtlinien für ein grundgesetz“ im au- gust 1948 auf der insel herrenchiemsee er- wogen, angesichts des „provisorischen cha- rakters der zu schaffenden staatlichen ord- nung“ die aufgaben des staatsoberhauptes einem „bundespräsidium“ zu übertragen. dreierkollegium abgelehnt zwar machte sich in der expertenrunde nur eine minder- heit für ein solches dreierkollegium aus bundestagspräsident, bundesratspräsident und bundeskanzler mit regelmäßig wech- selndem vorsitz stark, doch griffen die so- zialdemokraten den vorschlag bei der aus- arbeitung der verfassung im parlamentari- schen rat wieder auf. aus ihren reihen kam auch der gedanke, auf eine solche instituti- on ganz zu verzichten und statt dessen „für das provisorium des grundgesetzes“ dem bundestagspräsidenten die funktionen des staatsoberhauptes zu übertragen – so wie vier jahrzehnte später ja auch in der end- phase der ddr die damalige volks- kammerpräsidentin sabine berg- mann-pohl als staatsoberhaupt fungieren sollte. der parlamentarische rat indes entschied sich gleichwohl dafür, die staatsspitze mit einer eigens zu wählenden persönlichkeit zu besetzen. die cdu argumentierte, dass „ein gut funktionierender bundesstaat grundsätzlich auch eines bundespräsiden- ten“ zur repräsentation nach innen und au- ßen bedürfe; auch könne ein solcher präsi- dent „der moralische reprä- sentant der volkseinheit“ sein. und für die freien de- mokraten warnte theodor heuss vor dem „provisori- um eines direktoriums“. das würde „in der bevölke- rung gleich wieder so ausge- deutet (...): man will also die verschiedenen leute und parteien mit daran be- teiligt haben“. angesichts der lehren aus der weimarer republik wurde das bundespräsidentenamt indes mit deutlich geringeren kompetenzen ausge- stattet als zuvor der reichspräsident. aus denselben gründen wird der bundespräsi- dent auch nicht direkt vom volk gewählt, was im parlamentarischen rat einige fdp- vertreter zur diskussion stellten. eine di- rektwahl hätte die position des staatsober- hauptes gegenüber der regierung erheblich gestärkt, doch sollte ja gerade das weimarer nebeneinander von präsidialsystem und parlamentarischer demokratie vermieden werden. hinzu kamen die bitteren erfah- rungen der ersten republik mit den dema- gogie-potenzialen von volksabstimmun- gen, weshalb eine direktwahl des präsiden- ten schließlich von allen fraktionen abge- lehnt wurde. das künftige staatsoberhaupt sollte sich aber gleichwohl auf ein „breites funda- ment“ stützen können. wenn schon kein „plebiszi- tärer bundespräsident“ er- wünscht sei, argumentierte im parlamentarischen rat der fdp-politiker thomas dehler, solle der erste mann im staate doch „vom ver- trauen einer größeren zahl von vertretern des volkes ge- tragen werden“. schon bei den beratungen auf herrenchiemsee war der vorschlag aufgekommen, den bundespräsidenten durch bundestag und länderkammer als den beiden gesetz- gebungsorganen wählen zu lassen. unter- stützung fand dies im parlamentarischen rat bei unions-vertretern, die die länder- kammer an der präsidentenwahl beteiligt sehen wollten. das aber stieß bei sozial- und freidemokraten auf ablehnung mit der begründung, es sei „irgendwie systemwid- rig“ und „eines freien staates unwürdig“, dass die wähler des staatsoberhauptes „nach instruktionen ihrer landesregierun- gen handeln“. von wählern, die an weisun- gen gebunden seien, könne man nicht er- warten, „dass sie die stimme des volkes wie- dergeben“. eine echte wahl setze voraus, „dass die wähler ihre stimmen nach bestem wissen und gewissen abgeben“. schließlich kam es zur idee einer „bundes- versammlung“ von gewählten vertretern des bundes und der länder – eine „persön- liche erfindung“ von theodor heuss, der dann von diesem gremium als erster ins höchste staatsamt gewählt werden sollte. dehler brachte dann für die fdp im haupt- ausschuss des parlamentarischen rates den auch von der spd befürworteten vorschlag ein, „dass ein nationalkonvent, eine bun- desversammlung zusammentritt, dass also ein besonderes wahlgremium den bundes- präsidenten wählt“. zeugenrolle damit nun aber der bundes- rat bei der kür des staatsoberhauptes nicht gänzlich außen vor bleiben musste, wiesen die verfassungsmütter und -väter der län- derkammer wenigstens eine art zeugenrol- le bei der vereidigung des neu gewählten zu. aus diesem grunde leistet jeder bundes- präsident bei antritt der neuen tätigkeit sei- nen amtseid, wie es in artikel 56 des grundgesetzes vorgeschrieben ist, „vor den versammelten mitgliedern des bundestages und des bundesrates“. helmut stoltenberg ❚ »kohl befahl das alles, und die fdp war gehorsam.« hildegard hamm-brücher, 1994 kandidatin ©picture-alliance/dap/akg-images/svensimon//zb/klausrose/günterbratke,collage:stephanroters ©bundesregierung/egonsteiner©bundesregierung/georgbauer©bundesregierung/lotharschaack karl carstens (1979 bis 1984) als wandernder präsident ist der cdu-politiker karl carstens in die geschichte einge- gangen. mehr als 1.500 kilometer hat er zu fuß durch deutsch- land zurückgelegt. 1914 in bremen geboren, fand der habilitierte jurist und di- plomat erst relativ spät mit 57 jahren in die politik. von 1973 bis 1976 vorsitzender der cdu/csu-bundestagsfraktion und anschlie- ßend bundestagspräsident, wurde carstens 1979 zum bundespräsidenten gewählt. 528 wahlleute stimmten für ihn (die cdu/csu hatte die absolute mehrheit). 1992 starb er mit 77 jahren in meckenheim bei bonn. ❚ ©bundesregierung/engelbertreineke©bundesregierung/theoschafgans die bundespräsidenten angesichts der lehren aus weimar bekam das amt deutlich geringere kompetenzen. richard von weizsäcker (1984 bis 1994) weizsäcker, der im mai 1984 bundes- präsident wurde, hielt die berühm- teste rede seiner amtszeit am 8. mai 1985 zum 40. jahrestag des en- des des zweiten weltkrieges. vor dem bundestag sprach er vom „tag der befreiung“ und vom menschenverachtenden system der natio- nalsozialistischen gewaltherrschaft. weiz- säcker wurde 1969 mitglied des bundesta- ges. zwischen 1981 und 1984 war er regie- render bürgermeister von berlin. 1989 wur- de weizsäcker ohne gegenkandidat als staatsoberhaupt wiedergewählt und war seit dem 3. oktober 1990 bundespräsident aller deutschen. ❚ roman herzog (1994 bis 1999) als der präsident mit der „ruck“- rede gilt herzog, der als nachfolger weizsäckers am 23. mai 1994 ge- wählt wurde. her- zog erklärte 1997 in seiner berliner rede, dass ange- sichts verkrusteter strukturen ein „ruck“ durch deutschland gehen müsse, um ein seiner ansicht nach weitverbreitetes gefühl der stagnation zu überwinden. herzog, 1934 geboren, cdu- mitglied seit 1970, wurde 1983 zum mit- glied des bundesverfassungsgerichts ge- wählt und war seit 1987 dessen vorsitzen- der. 1996 führte herzog in deutschland den 27. januar alstag des gedenkens an die op- fer des nationalsozialismus ein. ❚ johannes rau (1999 bis 2004) rau, der am 16. januar 1931 gebo- ren wurde, trat 1958 in die spd ein und wurde im gleichen jahr in den landtag von nordrhein-west- falen gewählt. 1978 wurde rau ministerpräsident des landes.unter seiner führung konnte die nrw-spd dreimal die absolute mehrheit verteidigen. zu den höhepunkten seiner amtszeit zählte ein besuch in israel,bei dem er vor der knesset in deutscher sprache das israelische volk um vergebung für die ver- brechen des nationalsozialismus bat. rau erlag 2006 einer schweren krankheit – kurz nach seinem 75. geburtstag. ❚ horst köhler (2004 bis 2010) die politische klasse hat sich bisweilen schwer- getan mit ihm, da- für war er bei der bevölkerung umso beliebter. als sieb- tes von acht kin- dern einer deut- schen bauernfa- milie 1943 in po- len geboren, siedelte köhler mit seiner familie bald darauf in den westen deutsch- lands über. 1976 trat er in den bundesdienst ein und arbeitete sich bis zum direktor des internationalen währungsfonds hinauf. 2004 als kandidat von union und fdp zum bundespräsidenten gewählt, wurde er 2009 im amt bestätigt. am 31. mai 2010 reichte er überraschend seinen rücktritt ein. ❚ ©bundesregierung/josefdarchinger©bundesregierung/juliafaßbender©bundesregierung/laurencechaperon©bundesregierung/josefdarchinger christian wulff (2010 bis februar 2012) als er ins schloss bellevue einzog, war der 51-jährige der jüngste bun- d e s p r ä s i d e n t deutschlands. als er es wieder ver- ließ, hatte der ju- rist die kürzeste amtszeit im höchsten staats- amt absolviert. in der affäre um einen güns- tigen privatkredit und kostenlose urlaube mussten die deutschen den eindruck be- kommen, dass eine für bundespräsidenten unziemliche nähe zu managern und unter- nehmern bestand. nachdem die staatsan- waltschaft hannover die aufhebung von wulffs immunität beantragt hatte, trat er am 17. februar zurück. bernard bode ❚ ©bundesregierung/jescodenzel bundesversammlungen und präsidentschaften: plenum 2004, kanzlerin merkel bei wahl 2009, darunter heinemann 1969 nach seiner wahl, gesine schwan nach der wahl 2009 (oben v. l.) , horst köhler und das ehepaar wulff 2010, die ehepaare rau und herzog 1999 (unten v.l.) grafik-hintergrund: plenum 2010. die ehepaare lübke und heinemann 1969, darunter regisseur und wahlmann sönke worthmann 2010, der bonner präsidenten-amtssitz „villa hammer- schmidt“, theodor heuss 1949 (oben v.l.), wachbataillon vor schloss bellevue, richard von weizsäcker am 8. mai 1985, plenum in berlin 1969 (unten v.l.)