debattendokumentation - umgang ns-vergangenheit tung für ihre vergangenheit gestellt ha- ben und sich in das gemeinwesen der frühen bundesrepublik integriert ha- ben, ist aufgabe historischer for- schung.demstellensichparteien,und zwar spd, cdu, fdp und, ich nehme an, auch die grünen. insofern glaube ich, wir sollten uns nicht gegenseitig dinge vorwerfen, sondern wir sollten diese geschichtlichen tatbestände er- forschen, zur kenntnis nehmen und einordnen. herr thierse hat schon gesagt: er hatte einen antrag vorgelegt, und dann gab es eine anhörung. diese an- hörung hatte die frage zum gegen- stand: wie gehen wir aus wissenschaft- licher sicht mit unserer vergangenheit in der frühen bundesrepublik um? es war interessant, dass die sachver- ständigen, beispielsweise herr profes- sor möller und herr professor stolleis, uns empfohlen haben, einerseits den aspekt, der in herrn kortes rede im vordergrundstand,nämlichdieperso- nelle kontinuität, zu untersuchen, und andererseits genau zu fragen: wa- rum ist es der jungen bundesrepublik gleichwohl gelungen, sich als rechts- staat zu etablieren? warum hat es die- ses gemeinwesen vermocht, trotz be- stehender kontinuitäten im einzelfall einen modernen rechtsstaat heutiger prägung aufzubauen? welche strate- gien hatten die einzelnen beamten? waren sie wirklich innerlich bereit, am aufbau eines demokratischen rechts- staats und einer sozialen marktwirt- schaft mitzuarbeiten, oder haben sie inhaltlichihreagendazumteilweiter- verfolgt? das sind fragen, die uns interessie- ren und genauer betrachtet werden müssen. es geht nicht um das zählen von fliegenbeinen nach dem motto „dieses ministerium hatte mehr als das andere“ oder „in dieser behörde gabesmehralsinderanderen“.essind diese verständnisfragen, die etwas über unser selbstverständnis aussa- gen,undnichtdierein quantitativen anga- ben. offen gesagt ging es mir wie herrn thierse. es ist schon bezeich- nend. sie sagen: es gab keine personellen kontinuitäten. in höchsten äm- tern, haben sie gesagt. ich frage sie: welche funktion hat ein stellvertretender chefredakteur des neuen deutschland? welche funkti- on hat beispielsweise ein generalfeld- marschall paulus in der ddr gehabt? natürlich gab es das, und es gab auch andere. es gab auch in höchsten positionen solche kontinuitäten. der sogenannte antifaschistischestaat,dersichzugute- gehalten hat, da besonders rigide ge- wesen zu sein, war es bei entschädi- gungen und anderen dingen gerade nicht. er hat sich gerade nicht dieser ge- schichte gestellt. auch das kann man an dieser stelle einmal sagen. das macht es nicht besser. man ver- steht es nur besser, wenn man genau- er hinguckt und fragen stellt, die nicht davon geleitet sind, den einen oder den anderen anzuklagen. ich finde, es ist an dieser stelle auch notwendig, auf ein bestimmtes wis- senschaftsverständnis hinzuweisen. die grünen haben einen antrag vor- gelegt, der – das trennt uns von ihnen in einem punkt – auf dem ratschlag von micha brumlik basiert. brumlik hat vorge- schlagen, es muss ei- ne art stabsstelle zur staatlichen erfor- schung der geschich- te der frühen bundes- republik geben. alle anderen sachverstän- digen, vom hannah- arendt-institut über das institut für zeitgeschichte bis zum max-planck- institut für europäische rechtsge- schichte, haben gesagt: unser problem ist nicht, dass der staat eine art histo- rische auftragsforschung initiieren soll; unser problem ist viel eher, dass diehistorikerkeinenadäquatenquel- lenzugang bekommen. die wissen- schaft stellt die richtigen fragen selbst, so professor stolleis oder auch profes- sor möller. es ist ein unterschied, ob wir als politiker die fragen stellen, die wir für interessant halten, oder ob wir zeithistorikern sagen: wir ermögli- chen euch, eure fragestellungen an- hand des vorhandenen quellenmate- rials zu verfolgen. ich glaube, aus dem zweiten ansatz folgt mehr historische erkenntnis als aus dem brumlik'schen ansatz, den ich in vielen aspekten durchaus verstehe. jetzt wird uns vorgeworfen, wir de- klassifizierten nicht pauschal. aus un- serem ansatz folgt eben, sich diejeni- gen quellen zu suchen, die man ha- ben will, die man braucht, die man se- hen will. man stellt dann einen antrag auf akteneinsicht, und diesem antrag muss im einzelfall stattgegeben wer- den, wenn nicht ein überwiegendes geheimhaltungsinteresse legitimer- weise besteht. ich glaube, wenn wir so vorgehen, kommen wir zu guten er- gebnissen. mich interessiert noch die frage: welchen anteil hatte eigentlich das bundesverfassungsgericht an dem ge- lingen dieses rechtsstaats? es ist doch interessant, dass gerade urteile wie das lüth-urteil, das kpd-verbotsur- teil, das srp-verbotsurteil, die stär- kung von grundrechten des einzel- nen wie der religionsfreiheit und der meinungsfreiheit dazu beigetragen haben, dass dieser staat gelungen ist. insofern ist es richtig, dass der deut- sche rechtshistorikertag feststellt: wir müssen verstehen lernen, was das bundesverfassungsgericht in den an- fangsjahren seines bestehens geurteilt hat. dabei gilt es, beratungsgeheim- nissezuschützen.dabeigiltes,darauf zu achten, dass lebende personen le- gitime datenschutzinteressen haben. wir wollen in die frühen akten hi- neinschauen. auch darauf zielt unser antrag ab. man kann es nicht so wie die lin- ken machen – zum teil sind wir de- ckungsgleich –, dass man dem bun- desverfassungsgericht als einem an- deren obersten verfassungsorgan diktiert: ihr müsst das so und so ma- chen. vielmehr wollen wir das ge- spräch mit dem bundesverfassungs- gericht suchen, um zu zeigen, dass wir an der aufarbeitung seiner ge- schichte ein erhebliches interesse ha- ben. notwendig ist der dialog zwi- schen den obersten verfassungsorga- nen und kein dekret von hiesiger sei- te. lassen sie mich zum schluss kom- men. viele ministerien – ich nenne exemplarisch das bmj, aber auch das bundesministerium der verteidigung – haben sich diesen fragestellungen schon sehr gut gestellt. im bmj wird im moment eine hervorragende ar- beit geleistet. insofern finde ich, da- ran sollten wir weiterarbeiten. wir sollten die einigkeit der demokraten weiter stärken, anstatt uns hier ge- genseitig vorwürfe zu machen, wer etwas wie und gegebenenfalls in wel- cher form vertuschen oder verkleis- tern will. das ist die vorgehensweise eines reifen rechtsstaates, der wir zum glück sind. insofern werbe ich für mehr gemeinsamkeit bei der er- forschung der frühen bundesrepu- blik. (beifall bei der fdp und der cdu/csu) 10 debattendokumentation das parlament – nr. 46/47 – 12. november 2012 fortsetzung von seite 9: dr. stefan ruppert (fdp) welchen anteil hatte das bundes- verfassungs- gericht am gelingen dieses rechtsstaates? m orgen, am 9. november, jährt sich die reichspo- gromnacht, die 1938 mord, zerstörung, misshandlung über die juden brachte. das war ein terroristisches fanal auf dem weg in den holocaust. die erinnerung an dieses datum ist nicht beliebig. in ihr steckt ein demokratischer auftrag, nämlich alles zu tun, damit rechts- extremismus in unserem land keine chance hat. was heißt das konkret für uns hier und heute? es heißt zum beispiel, sich dem entgegenzustellen, was alte und neue nazis zum 9. november, also für morgen, planen: fackelzüge in essen, wo 1938 die alte synagoge brannte, oder in wolgast, wo sie zu einer ge- meinschaftsunterkunft marschieren wollen, in der flüchtlinge aufnahme finden. es ist unsere pflicht, hier laut „stopp!“ zu rufen. das aktionsbünd- nis „vorpommern: weltoffen, demo- kratisch, bunt!“, das gegen diesen auf- marsch mobilisiert, hat die volle un- terstützung unserer fraktion und, ich hoffe, die volle unterstützung aller fraktionen hier im deutschen bun- destag. eine klare, eine entschiedene hal- tung gegenüber rechtsextremen ist wichtig, auch um das verloren gegan- genevertrauenzurückzugewinnen,ge- rade das vertrauen zu unserem demo- kratischen rechtsstaat, das schwer ge- litten hat unter dem totalversagen der sicherheitsbehörden bei der nsu- mordserie. das ist auch das grundanliegen bei der aufklärung der ns-vergangenheit – selbstverständlich in ganz deutsch- land –, über die wir heute diskutieren. es geht doch nicht darum, schmutz zu werfen. es geht doch nicht um eine si- cherheitsgefährdung; ganz im gegen- teil. es geht um die demokratische selbstvergewisserung unserer institu- tionen. es geht auch um die einsicht adornos, dass das, was verdrängt und was nicht kritisch aufgearbeitet wird, uns wieder einholt, uns überfällt, und zwar hinterrücks. diese einsicht, liebe kolleginnen und kollegen, passt doch offensicht- lich sehr gut zu einem nsu, der mor- dend durch das land zog, und zu ei- nembraunenschleier–dasmussman wirklich sagen – über den sicherheits- behörden. wie soll ich die blindheit und das versagen in der nsu-verbre- chensserie denn sonst beschreiben? die aufarbeitung eines verdrängten kapitels der zeitgeschichte im kriti- schen, im aufklärerischen geist und im sinne eines erinnerns und lernens für die zukunft, das ist unser ziel im umgang mit der ns-vergangenheit von ministerien und behörden. wievieldanochzutunist,hatnicht zuletzt die von joschka fischer in auf- trag gegebene und vor zwei jahren ver- öffentlichte studie zur ns-vergangen- heit des auswärtigen amts gezeigt. diese studie hat die debatte in gang gebracht, die wir heute weiterführen und die wir weiterführen müssen, auch zum beispiel über die praxis der ehrwürdigkeit, auf die mein kollege ostendorff mich noch einmal hinge- wiesen hat. wienötigdiesedebatteist,daszeigt doch auch der fall, der von meinen vorrednernschonbenanntwordenist, den erst am 27. oktober 2012 die süd- deutsche zeitung öffentlich gemacht hat, der fall von carl-theodor schütz, der wirklich eine verbrecherische kar- riere hinter sich hat. sein allerschwers- tes verbrechen ist die erschießung der 335 geiseln in den ardeatinischen höhlenindernähevonromimmärz 1944. er befehligte das exekutions- kommando, und er ermordete die ers- ten opfer sogar eigenhändig. geheim- dienstchefgehlenwolltediesenmann nach dem krieg unbedingt beim bnd haben, und bundeskanzler adenauer hat dem ausdrücklich zugestimmt. doch in den letzten jahren sind lei- der noch andere fälle bekannt gewor- den, fast unvorstellbare fälle, vor al- lem die von eichmann und von bar- bie.voneichmann,demholocaustor- ganisator, kannte der bnd den aufenthaltsort, ohne zu seiner ergrei- fung beizutragen. ist es nicht bitter, zu erkennen, wie sehr man simon wie- senthal alleingelassen hat bei seiner suche nach eichmann? klaus barbie, der sogenannte schlächter von lyon, war in den 60er- jahren sogar agent des bnd. in der ns-zeit hat er in frankreich katholi- sche priester gefoltert, hat kinder hun- gernlassen,hatfrauenunsäglichmiss- handelt. es ist schändlich, liebe kolle- ginnen und kollegen, dass serge und beate klarsfeld, die ihm jahrelang nachgespürt haben, alleingelassen worden sind und hier in deutschland zum teil als feinde behandelt worden sind. ich glaube, wir alle sehen, wie groß der aufklärungsbedarf ist, wie groß er noch ist. ich möchte sie deshalb wirk- lich herzlich bitten, dass wir das enga- giert tun, dass wir es zusammen tun, ja, dass wir es gemeinsam tun, ohne jegliche taktische hintergedanken, dass wir es so engagiert tun, wie es un- sere kollegen und kolleginnen im nsu-untersuchungsausschuss uns zeigen. deswegen – das muss ich wirklich sagen – ist es uns, ist es mir sehr un- verständlich, dass die regierungsfrak- tionenindenausschussberatungenei- nen antrag von uns grünen abgelehnt haben, der die regierung auffordert, im falle barbie und im fall eichmann verantwortung für die aufklärung zu übernehmen. dieser antrag steht heu- te noch einmal zur debatte. ich muss ihnen sagen, liebe kolle- gen und kolleginnen und liebe freun- de und freundinnen von der spd: auch sie haben diesen antrag im kul- turausschuss abgelehnt. claudia roth (*1955) landesliste bayern claudia roth, bündnis 90/die grünen: es geht um die demokratische selbstvergewisserung ©lichtblick