debattendokumentation 14 debattendokumentation das parlament – nr. 37 – 9. september 2013 h err gysi, wissen sie was: angesichts dessen, was sie hier abgeliefert haben, und angesichts dessen, wie oft sie gesagt haben, was alles nicht ohne die lin- ke geht, muss man schon denken: sie haben sorge, nicht im nächsten bundestag vertreten zu sein. das wundert mich auch nicht, wenn ich mir vor augen führe, dass sich ihre umfragewerte inzwischen nicht nur in sachsen und thüringen halbiert haben. aber ich sage ihnen eines: mit dieser art von selbstgerechtigkeit helfen sie keinem arbeitslosen, kei- nem, der in armut lebt, und noch nicht einmal den ossis. es braucht eine andere politik, aber keine schnöselsprüche von ihnen, herr gysi! ich will auf das eingehen, was die bundeskanzlerin immer wieder sagt: dass wir gut dastehen. 70 pro- zent der arbeitnehmer bekommen heute niedrigere löhne als vor zehn jahren. die produktivität hat sich seit 1999 immer weiter verschlechtert. die investitionsquote ist in 2012 von über 20 auf 17 prozent gesun- ken. jetzt werden sie wieder sagen, das sei schwarzmalerei. das ist aber nicht meine erfin- dung. das sagt einer der renom- miertesten wirtschaftsexperten in deutschland, nämlich marcel fratz- scher, der chef des diw. das ist die realität. allerdings habe ich ge- lernt, ihre behauptung, deutsch- land stehe gut da, ist nichts anderes als eine illusion. sie haben aber kei- ne lust mehr, sich bei ihren illusio- nen unterbrechen zu lassen. sie ha- ben auch keine lust mehr, sich die realität anzuschauen. das haben wir auch am sonntag im fernseh- duell gesehen, als jemand versucht hat, ihnen eine zwischenfrage zu stellen, frau merkel. tatsache ist: ja, wir leben in ei- nem der reichsten länder der erde. aber millionen von menschen ha- ben nichts von diesem reichtum. die bildungs- und aufstiegschan- cen sind verdammt ungleich ver- teilt. der zugang zu dieser gesell- schaft ist reglementiert. sie ist an vielen stellen eine blockierte und an vielen stellen eine geschlossene gesellschaft. akademikerkinder ha- ben eine sechsmal höhere chance, ein studium aufzunehmen, als kin- der von eltern ohne studium. dem reichsten 1 prozent der bevölke- rung gehören 35 prozent des ge- samten vermögens, den reichsten 10 prozent sogar zwei drittel. nein, deutschland geht es nicht gut. in deutschland geht es nur einigen gut. wenn sie sagen: „deutschland steht gut da“, dann meinen sie mit deutschland nicht die deutschen, sondern die privilegierten. das ist der unterschied zwischen ihnen und uns, frau merkel. wir brauchen kei- ne politik für weni- ge, für diejenigen, die die handynum- mer der kanzlerin oder wenigstens die des kanzleramtsmi- nisters haben. wir brauchen eine poli- tik für alle menschen, egal ob gut verdienend oder hartz-iv-bezieher, egal ob sie alleinstehend sind oder in einer familie leben, egal ob rei- che oder arme eltern, egal ob in deutschland geboren oder anders- wo. eine bessere zukunft muss für alle möglich sein, eine zukunft mit intakter infrastruktur, mit einem guten und bezahlbaren system so- zialer sicherheit, selbstverständlich mit funktionierenden öffentlichen institutionen und einem bildungs- system, in dem die chancen gleich verteilt sind. um all das zu schaf- fen, fehlen aber entscheidende vo- raussetzungen, nämlich ein hand- lungsfähiger staat und eine hand- lungsfähige regierung. ja, es fehlt auch eine handlungswillige kanzle- rin in diesem land, um die situati- on zu verbessern. diese kanzlerin handelt jedoch nicht, meine damen und herren. das liegt nicht daran, dass sie os- si ist. das liegt auch nicht daran, dass sie frau ist. das liegt noch nicht einmal daran, dass sie tag und nacht per babyfon herrn see- hofer betreuen muss, weil der per- manent herumschreit, und deswe- gen nicht zum regieren kommt. frau merkel handelt deswegen nicht, weil sie keine ideen für die zukunft hat; weil sie auf sicht fährt; weil sie am gängelband der fdp hängt; weil sie sich von der krise das programm hat schreiben lassen, anstatt ideen zu entwickeln. ihnen macht regieren spaß, haben sie ge- sagt, frau merkel, weil es an jedem morgen neue probleme gibt. – wir hätten am abend gern mal wenigs- tens für eines der probleme eine lö- sung gesehen. frau bundeskanzlerin, jetzt ist ei- ne neue phase angebrochen, eine, in der ohne ideen nichts mehr geht, eine, in der es ohne ideen zu immer neuen krisen kommt, nicht nur im inland, sondern auch im ausland. es reicht nicht mehr, herumzulavie- ren, es reicht nicht mehr, abzuwar- ten – nicht in europa, nicht gegen- über russlands homophobem dik- tator und erst recht nicht in der energiepolitik. sie sind dabei, das land müde zu lächeln. wir brau- chen aber dringend einen auf- bruch, frau merkel; deswegen braucht es den wechsel. bisher haben sie in europa ein kri- senmanagement ge- macht. jetzt müss- ten sie eigentlich einmal sagen, wo- hin sie mit europa wollen. wir sind doch ein europa der menschen und nicht ein europa der banken. und, ja, wir brauchen lei- denschaft für ein europa, in dem junge leute hoffnung haben, egal ob ihre muttersprache griechisch ist oder deutsch, ein europa, das endlich vorangeht mit der energie- revolution. dank ihrer politik schaffen wir das noch nicht einmal in deutschland, frau merkel. sie stellen sich hierhin und sa- gen: keinen cent für die griechen ohne gegenleistung! kurz vor der wahl, frau merkel, fangen sie wieder an mit einem „faule griechen“-revival. ich finde das beschämend: die beschimpfung eines landes, das ex- trem viel geleistet hat und auf das sie ohne ende druck ausgeübt ha- ben, frau merkel. man kann es vielleicht so zusam- menfassen: mit der schwarz-gelben regierung regiert die ideenlosig- keit, es regiert das motto „gemein- sam gleichgültig“. die verschuldung der öffentli- chen hand ist unter kanzlerin mer- kel so stark gestiegen wie unter kei- nem bundeskanzler zuvor. diese schwarz-gelbe regierung hat über 100 milliarden euro neue schulden aufgenommen. frau merkel, das ist eine sensationelle katastrophe und kein sensationeller erfolg, wie sie es hier behauptet haben. insgesamt sind das 500 milliar- den euro mehr. sagen wir es einfach einmal so: diese regierung steckt knietief im dispo; die zinsen und zinseszinsen müssen unsere kinder und kindeskinder zahlen. genera- tionengerechtigkeit geht anders, meine damen und herren. auch was die öffentliche infra- struktur angeht, muss man feststel- len: sie haben keine ideen. wir le- ben in deutschland längst von der substanz. seinen wirtschaftlichen erfolg hatte dieses land einstmals der guten infrastruktur zu verdan- ken. die geht jetzt den bach herunter: der bahnhof einer landeshaupt- stadt ist tagelang außer betrieb. sagen sie jetzt bloß nicht: „schuld sind die anderen“, frau merkel! an vielen orten sind die straßen kaputt, sind brücken bau- fällig. in öffentlichen gebäuden fällt der putz von der decke. städten und kommunen fehlen insgesamt 128 milliarden euro. es fehlen die steuereinnahmen, um die mängel endlich zu beseiti- gen und diesen investitionsstau zu beheben. ich weiß, herr brüderle, dass sie da nie hingehen, dass sie sich wo- anders herumtreiben – mit ihren lobbyisten kaffee trinken gehen –, statt einmal zu schauen, wie es in den schulen dieses landes aussieht. man muss sich einmal mit dem tatsächlichen leben beschäftigen, anstatt nur auf bip-zahlen zu schauen. wo bleiben ihre ideen für gute kinderbetreuung, für kinder- betreuung, die gut ist für kinder und nicht für die statistik von frau schröder? ist es das beste für das kind, wenn man, um einen kinder- betreuungsplatz zu bekommen, 20 bewerbungen abschicken muss? nein, da geht es um milliarden, die fehlen. frau merkel, sie haben eben gesagt, dass wir mehr geld für kin- derbetreuung brauchen. aber was machen sie stattdessen? sie schmei- ßen für das betreuungsgeld jedes jahr 1 milliarde euro zum fenster hinaus. das betreuungsgeld gehört abgeschafft. dann können wir end- lich in kitas investieren. ich vermisse eine idee für den be- reich bildung. kooperationsverbot – das haben sie eingeführt – und ei- ne lücke von 20 milliarden euro bei den bildungsinvestitionen, das ist ihre bilanz. wir waren einmal bildungsnation, und wir waren stolz darauf. heute bleiben so viele kinder wie nie unter ihren möglichkeiten, nur weil sie im falschen stadtteil woh- nen, den falschen vornamen haben oder weil ihre großmutter nicht in deutschland geboren wurde. das ist ihre verantwortung. das muss sich ändern mit investitionen in bildung und mit mehr bildungsge- rechtigkeit in einem land, das es sich definitiv leisten kann. ich will wissen, wen sie eigent- lich meinen, wenn sie sagen: uns geht es gut. – meinen sie die 7 mil- lionen menschen, die in deutsch- land für weniger als 8,50 euro pro stunde arbeiten? meinen sie die 2,5 millionen menschen, die inzwi- schen mehrere jobs haben? früher hielten wir das für amerikanische verhältnisse, heute ist das in deutschland selbstverständlich. meinen sie die 3 millionen frauen, die ohne eigenständige altersabsi- cherung in minijobs arbeiten, die angst vor armut haben? frau merkel, meinen sie mit „deutschland steht gut da“ die menschen, die in schlachthöfen für 4 euro pro stunde arbeiten, und zwar unter katastrophalen bedin- gungen, die mit arbeitsschutz nichts zu tun haben? 8,50 euro mindestlohn, leiharbeit, die gleich bezahlt wird, und endlich kleine jobs, die man sich auch leisten kann und bei denen nicht altersar- mut vorprogrammiert ist - das ist die alternative zu ihrer politik, frau merkel. man kann nicht bei denjenigen kürzen, die es am nötigsten haben. wenn man in den bundeshaushalt schaut, dann sieht man: sie haben bei den langzeitarbeitslosen, bei den alleinerziehenden und bei den berufsrückkehrern gekürzt. frau merkel, sie haben gemeinsam mit frau von der leyen am anfang der legislaturperiode die republik da- rauf hingewiesen, dass es eine ar- mutsgefährdung in teilen der be- völkerung gebe, gerade im alter. der entwurf der rentenreform ist im täglichen gezänk mit der fdp immer kleiner und kleiner gewor- den, und am schluss hat er sich komplett in luft aufgelöst. wir brauchen endlich die bekämpfung der altersarmut mit einer garantie- rente gerade für die frauen in die- ser republik, die es durch arbeit nicht mehr schaffen können, für ei- ne entsprechende rente zu sorgen. wir müssen dafür sorgen, dass sie mit einer garantierente im alter ab- ge-sichert sind und nicht in armut fallen. ideen bei der gesundheitsversor- gung? fehlanzeige! wer gesetzlich krankenversichert ist, wartet nicht nur doppelt so lange auf den ter- min beim hausarzt, er wartet dann auch noch doppelt so lange, bis der facharzt zeit hat. fragen sie mal al- te, chronisch kranke oder men- schen mit behinderung, dann hö- ren sie, dass ihnen mehr und mehr leistungen vorenthalten werden. fragen sie einmal die ärzteschaft und nicht die lobbyisten: diese sagt ihnen längst mehrheitlich, sie wolle eine bürgerversicherung. ich will, dass wir endlich wieder dahin kommen, dass man, wenn man beim arzt anruft, gefragt wird, was einem fehlt, und nicht, welche versicherungskarte man hat. das ist der unterschied zwischen ihnen und uns, frau merkel. „deutschland steht gut da.“ – fragen sie einmal die flüchtlinge, die hierherkommen und die hof- fen, dass sie endlich in sicherheit sind. diese müssen hören, dass wir eine krise hätten oder überfordert seien. anstatt mit dem blick auf die furchtbare situation in syrien die türen zu öffnen und mehr flücht- katrin göring-eckhardt (*1966) bundestagsvizepräsidentin katrin göring-eckardt, bundestagsvizepräsidentin: unter ihrer regierung bewegt sich nichts in deutschland frau merkel handelt nicht, weil sie keine ideen für die zukunft hat. ©lichtblick