der gelähmte kontinent s eit jahr und tag wurde im öf- fentlichen raum die immer gleiche, wohlfeile bekundung in umlauf gehalten: die eu sei zwar in der krise, als modell aber nach wie vor alternativlos, ebenso zukunftsweisend wie tatsächlich zu- kunftsträchtig. haben wir uns da etwa uni- sono mut zugepfiffen? wir in unsrem poli- tisch handlungsunfähigen, militärisch un- geschützten, wirtschaftlich prekären, an sei- nen rändern schwächelnden, inzwischen selbst in seiner mitte schwankenden hort der aufklärung, umbrandet von gegenauf- klärung aller art? die annexion der krim durch russland hat uns auf den boden der tatsachen zurückge- bracht. putin hat einmal mehr gezeigt, dass seine entblößte männerbrust in russland weit mehr bedeutet als die vom westen so ge- priesene dialogbereitschaft. er pfeift auf die „entschlossenen“ sanktionen der eu. was, wenn sich russland als nächstes die ostu- kraine – und als übernächstes vielleicht ar- menien oder gar lettland einverleibt? müs- sen es dann wieder die amerikaner für uns richten? die europäische union, die dieser tage angeblich näher zusammenrückt, hat es bisher jedenfalls nicht geschafft, eine funk- tionierende drohkulisse aufzubauen. und das traut ihr auch kaum noch jemand zu. den kursierenden bekenntnissen zur eu fehlt nämlich seit jahren etwas entschei- dendes: die begeisterung. der unbedingte wille, die idee unsrer väter und großväter nicht als freihandels- und phrasenzone zu verspielen. man konzentrierte sich aufs flüchtlings- oder euro-krisenmanagement und sparte das nachdenken über die geis- tig-kulturelle verschmelzung der europäi- schen nationen für später auf. offensicht- lich war europa kein kostbar gut mehr, das man behutsam befördert, sondern ein sach- zwanghaft interpretiertes abstraktum, ein besitz ohne rechten besitzer. nun hat man immerhin einen gemeinsa- men gegner und damit auch neue schub- kraft, um sich wenige wochen vor den eu- ropawahlen als bekennende europäer zu präsentieren. aber was heißt das schon! es reden ja vor allem diejeni- gen, die sich bequem in ei- ner unserer europäischen gesellschaften eingerichtet haben. ihre stellungnah- men ähneln einander auf er- müdende weise, sind sie doch rein theoretischer na- tur. hätten sie die grenzen europas je ernsthaft über- schritten, also über den rah- men touristischer schman- kerlkurse hinaus, dann hät- ten sie die schmerzliche er- fahrung gemacht, dass europa von den meisten hotspots des weltgeschehens aus verflucht antiquiert aussieht, verflucht kraft- los und müde – eine saturierte wohlstands- oase ohne weitere bedeutung. wenn wir etwa glauben sollten, dass wir für unsere viel beschworenen werte – men- schenwürde, pluralismus und so weiter – andernorts bewundert werden, so ist das ein irrtum. taxifahrer und gemüsehändler sprechen weltweit eine deutlichere sprache als friedensnobelpreisträger. ihre botschaft ist eindeutig: wo immer wir als vertreter dieses oder jenes staates möglicherweise noch punkten, werden wir als vertreter europas nur belächelt. für die amerikaner sind wir als zauderndes und im entschei- denden moment versagendes „altes europa“ ein fall für die nsa geworden. im fernen osten sieht man uns in unserer gut- menschlichen restbetriebsamkeit beinahe als inkarnation des stillstands. für putin und die anhänger eines erstarkenden groß- russlands sind wir schlichtweg schlapp- schwänze. kein sieger des herzens europa, ein übernahmekandidat? einen sieger des her- zens kennt die geschichtsschreibung jeden- falls nicht. wenn europa weder vom sog des globalismus verschlungen werden will noch im zunehmend aggressiven „aneinan- dergeraten der kulturen“, muss es wieder stark werden, und zwar als idee. nach dem zweiten weltkrieg war es die stärkste idee, die überhaupt gedacht werden konnte; welch eine großartige vision noch heute, die vereinigten staaten von europa! wenn es aber nicht gelingt, das utopische poten- zial des europagedankens emotional neu zu beleben, wird er vom primat wirtschaft- licher überlegungen und dem blanken pragmatismus der faktenhuber bald voll- ständig ausgehöhlt sein. dann werden eu- ropagegner und -kritiker weiter zulegen, wird die wahlbeteiligung bei europawahlen weiter zurückgehen. denn das europäische projekt ist keine selbstverständlichkeit. es muss von jeder generation aufs neue ge- dacht und erarbeitet werden. seit dem fall des eisernen vorhangs ha- ben wir keine neue vision der europäischen union entwickelt außer derjeni- gen, möglichst viele an der alten vision teilhaben zu lassen. der europäische ge- danke ist damit, als vision, de facto tot. wie wäre es, wenn man die überfällige debatte um eine neue vision anstieße, in- dem man, natürlich nur in polemischer absicht, das europa-konzept hervorholt, das uns vor jahrzehnten so beflügelt hat, das konzept der alten ewg? vielleicht ist das europa, wie wir es derzeit betreiben, ja ein paar nummern zu groß gedacht? vielleicht ist es schwer genug, ein kerneuropa auf den weg zu bringen, dies dann aber mit tatsächlich weisungsbefugter regierung und allen an- deren konsequenzen? auch die vereinigten staaten von amerika entstanden in ihrer jet- zigen dimension nicht auf einen schlag. hier liegt freilich ein weiteres, vielleicht das kernproblem des europäischen einigungs- prozesses. ein zusammenwachsen der na- tionen zu einer europäischen nation kann nur gelingen, wenn sich alle beteiligten mit ähnlichem stolz aufs eigene und entspre- chender hochachtung vor den anderen be- gegnen würden. europapatriotismus wird nicht funktionieren, wenn man gerade mal lokalpatriot ist; er wird nur aus einer ver- wurzelung hervorwachsen, die von der stadt über die region auch die nation be- inhaltet, selbst wenn diese verwurzelung – im falle deutschlands – mit ambivalenten gefühlen einhergeht. der knackpunkt der eu liegt eben nicht an ihrem südlichen oder östlichen rand, sondern in ihrem zentrum. die deutschen sind ihren europäischen partnern nach wie vor obs- kur, weil sie keine vernünfti- ge einstellung zu sich selbst gefunden haben. denn nur wer auf eine besonnene weise in seiner nationalkul- tur zu hause ist, kann auch auf andre zugehen. der weg zu den vereinigten staaten von europa führt über ein europa der vaterländer, wie es charles de gaulle vertrat. klare emotionale signale dieses konzept aber hat in seiner mitte eine leerstelle. da- bei bräuchten unsere europäischen nach- barn ein stabil mit sich selbst im reinen und unreinen stehendes deutschland, bräuchten regional verortete und damit kla- re emotionale signale, auf deren basis ein neues kapitel der europäischen erzählung überhaupt erst gemeinsam erwogen werden könnte. vor der wiedervereinigung gab es diese klaren signale auch. der weltpolitische druck, der damals auf der bundesrepublik lastete, war größer und führte zu einer hoch- emotionalen einbindung ins europäische konzept, die auch von der bevölkerung als segen empfunden wurde. empfunden! seit- dem klang alles, was wir von offizieller seite zu europa hörten, wie rollenprosa. begeiste- rung ließ sich damit weder in der eigenen bevölkerung wecken noch bei anderen euro- päischen regierungen. wieder einmal in ih- rer geschichte wollten die deutschen näm- lich höher hinaus und nicht erst lange europäer werden, sondern weltbürger. natio- nen wie die französische, die bis heute selbst-bewusst ge- blieben sind und entspre- chend gegen die vereinnah- mung durch amerikanisie- rung alias globalisierung ge- steuert haben, sind die wahren verfechter eines pa- triotischen, sprich, kosmo- politischen europas. die bit- tere wahrheit ist, dass sie da- mit mehr europäer sind als wir. seitdem ein neuer kalter krieg herrscht, werden die eingefahrenen selbstgerechtig- keiten zumindest neu überdacht. mit einem wie auch immer befloskelten weltbürger- tum kann man keinen (europäischen) staat machen. der weg zum geeinten europa führt eben nicht direkt über die intellektu- elle überwindung der eigenen nationalge- schichten und -kulturen. sondern über de- ren sukzessives verschmelzen zu einer ge- meinsamen europäischen geschichte und kultur, deren vitalität in der vielfalt ihrer le- bendigen wurzeln zu spüren ist. nur das er- gäbe ein weiterhin kosmopolitisches, ein europäisches europa. gelänge es, wäre jeder plötzlich stolz, euro- päer zu sein. und anderswo auf der welt würde man staunend zur kenntnis nehmen, dass es nicht nur einen amerikanischen, sondern auch einen europäischen traum gibt, den es zu leben – und zu verteidigen – lohnt. matthias politycki ❚ der autor (jahrgang 1955) lebt in hamburg und münchen. er gehört zu den renommier- testen vertretern der deutschen gegen- wartsliteratur. in seinem jüngsten roman „samarkand samarkand“ entwirft er ein düsteres zukunftsszenario von europa. der gelähmte kontinenteuropa die eu muss als idee wieder stark werden. sonst wird sie vom sog des globalismus verschlungen ©picture-alliance/akg-images europa nahm schon in der griechischen mythologie gestalt an: als schöne königstochter, in die sich zeus verliebte und die er der sage nach in stiergestalt durchs meer entführte. laurent fabius mit seinem deutschenamts- kollegen frank-walter steinmeier (spd) hat frankreichs sozialistischer außenminister lau- rent fabius vergan- gene woche mol- dau, georgien und tunesien besucht.zu jahresbeginn hatten beide ressortchefs vereinbart, mit ge- meinsamen dienst- reisen etwas für die beziehungen zu tun. die erste doppelrei- se sollte schon an- fang märz nach moldau und georgien – bei- de mit starker russischer minderheit auf ihrem territorium – gehen, wurde aber wegen der krimkrise verschoben. jetzt wurde die aktion nachgeholt und mit dertunesien-reise zusam- mengelegt. fabius drohte moskau mit stärke- ren sanktionen wegen der ukraine-krise: „wenn auf russischer seite weitere maßnah- men ergriffen werden, kann man in den sank- tionen einen schritt weitergehen.“ kru ❚ millionen russen beziehungsweise rus- sischsprachige bürger leben heute außerhalb russlands in den nachfolgestaaten der sow- jetunion. zahlenmäßig die meisten – 3,9 mil- lionen – wohnen in kasachstan, wo rund 24 prozent der einwohner russischstämmig sind. mit rund 28 prozent relativ die meisten russen (380.000) gibt es in estland und mit 27 prozent (610.000) in lettland. kopf der woche doppelbesuch in krisenstaaten zahl der woche 17 zitat der woche »ich wüsste nicht, wie die lage schlechter werden könnte.« iurie leanca, premier der republik mol- dau, mit blick auf das abtrünnige transnis- trien beim besuch der außenminister frank- walter steinmeier und laurent fabius das parlament frankfurter societäts-druckerei gmbh 60268 frankfurt am main ©picture-alliance/dpa www.das-parlament.deberlin, montag 28. april 2014 64. jahrgang | nr. 18/19 | preis 1 € | a 5544 den kursierenden bekenntnissen zur eu fehlt etwas entscheidendes: begeisterung. das konzept vom europa der vaterländer hat in seiner mitte noch immer eine leerstelle. ukraine-krise eskalation im osten zwingt eu und nato zu einer neuen russland-politik seite 3 wahlkampf unterwegs mit den spitzenkandidaten der europäischen parteien seite 7 in dieser woche thema interview wie theo waigel (csu) über die eu-skeptiker und euro-krise denkt seite 2 wahlrecht wie die 28 eu-länder im mai eine neue volksvertretung wählen seite 6 bundestag wie die 631 abgeordneten heute in der eu-politik mitmischen seite 9 kritiker wie europaskeptiker und nationa- listen an einfluss gewinnen seite 14 kehrseite schulbesuch die junge europäische bewe- gung stellt sich vor seite 16 mit der beilage apuz überwachen stefan weidemann freiheit unter beobachtung? christoph gusy architektur und rolle der nachrichtendienste in deutschland nils zurawski geheimdienste und konsum der überwachung ralf bendrath überwachungstechnologien bodo hechelhammer offener umgang mit geheimer geschichte klaus-dietmar henke der gehlen-bnd in der innenpolitik armin wagnerder fall „antenne“ eva jobs ursprung und gehalt von mythen über geheimdienste aus politik und zeitgeschichte 64. jahrgang · 18–19/2014 · 28. april 2014 apuz_2014-18-19 .indd 1 ohne besinnung auf die eigene nation kann europa nicht funktionieren: schwarz-rot- gold geschminkte deutsche fans bei der frauen-fußball-wm in deutschland 2011 ©picture-alliance/dpa wenn die menschen in den mitgliedstaaten der europäischen union in vier wochen an die wahlurnen gehen, geschieht das im zeichen in- ternationaler krisen. an den rändern der ge- meinschaft blühen besorgniserregende konflik- te. in der ukraine haben russische territorialan- sprüche eine überwunden geglaubte atmo- sphäre des kalten krieges in atemberaubender geschwindigkeit wiederbelebt. in nordafrika hat das, was die welt einst so euphorisch „ara- bischer frühling“ nannte, vielerorts fundamen- talistischere strukturen als vor dem ersehnten aufbruch in die demokratie hervorgebracht. selbst in der türkei, seit jahren potenzieller eu- kandidat, sind tendenzen eines totalitären staatsverständnisses unübersehbarer denn je. um diesen entwicklungen effektiv entgegentre- ten zu können, muss europa mit einer einheit- lichen diplomatischen stimme auftreten. nicht als unüberwindbares machtpolitisches boll- werk. wohl aber als feste gemeinschaft mit prinzipien, die auf in internationalen abma- chungen definierten werten und gesetzen fu- ßen. das gelingt ganz überwiegend auf bemer- kenswerteweise.aber: zwischen der hohen be- deutung eines grenzüberschreitend organisier- ten und gemeinsam handelnden europas und der akzeptanz ebendiesen gebildes in den be- völkerungen der einzelnen nationalstaaten gibt es offensichtlich eine diskrepanz. in deutsch- land beispielsweise haben bei den vergange- nen zwei wahlgängen jeweils nur gut 40 pro- zent der wahlberechtigten ihre stimmen abge- geben. es bleibt abzuwarten, ob in diesem jahr die erstmals ausgerufenen gesamteuropäi- schen kandidaten für das amt des kommissi- onspräsidenten die erhoffte personalisierung abstrakter wahlprogramme und damit eine hö- here wahlbeteiligung zeitigen. die immer wieder vernehmbare frage, ob europa mehr zentralismus oder mehr national- staatliche souveränität braucht, ist falsch ge- stellt. denn das eine bedingt das andere.wenn nationen die eigenen aufgaben entschlossen angehen, wird die gemeinschaft durch entlas- tung gestärkt. umgekehrt gibt es aufgaben, die von der union sinnvollerweise federführend für alle mitglieder gelöst werden. es kommt also darauf an, das rechte maß zu finden. nur star- ke partner können eine selbstbewusste ge- meinschaft bilden. europa bleibt im wandel und formbar. zum bei- spiel mit einem kreuz am 25. mai. editorial ein kreuz, das formt von jörg biallas weiterführende links zu den themen dieser seite finden sie in unserem e-paper sonderthem a: euro paw ahlen 2014 them en,köpfe,ausblicke seite 1-15 www.das-parlament.deberlin, montag 28. april 201464. jahrgang | nr. 18/19 | preis 1 € | a 5544