typisch deutsch a m 9. november 1989, als die tagesschau mit der meldung „ddr öffnet die grenze“ überraschte, saß in pankow auch hermann simon, direk- tor der stiftung neue synago- ge berlin-centrum judaicum, vor dem fern- sehgerät. als die menschen in richtung mau- er drängten, fuhr es ihm durch den kopf: „mist! hätte das nicht am 10. november pas- sieren können!“ in der jüdischen gemeinde dachten viele so. einige sahen im mauerfall ausgerechnet an dem tag, an dem des po- groms von 1938 gedacht wird, gar eine ver- schwörung, um die erinnerung an den ho- locaust zum verschwinden zu bringen. die integrität unserer geschichtserinnerung gebietet es, dass dieses deutsche symbolda- tum seine zwiegesichtigkeit bewahrt: als tag der schande und als tag der freude, in dem sich die dramatik einer nation auf dem weg zur aussöhnung mit ihren nach- barn und sich selbst verdichtet. scheinsieg 1918 mit dem fall der berliner mauer öffnete sich das tor zur endgültigen beantwortung der klassischen deutschen frage: wie können nationale einheit und politische freiheit zugleich verwirklicht werden? dieses spannungsverhältnis löste sich nach vergeblichen anläufen, bösen ver- irrungen und monströsen verbrechen erst 1990 in einem kaum glaublichen innen- und außenpolitischen konsens. in den revolutionen von 1848/49, für die einheit und freiheit zwei seiten derselben medaille waren, gelang die beantwortung der deutschen frage bekanntlich nicht. manche laden deshalb die symbolik des 9. november mit dem hinweis auf die er- schießung des republikaners robert blum am nämlichen tag 1848 auf. 70 jahre später, am 9. november 1918, pro- klamierte philipp scheidemann die deut- sche republik. die weithin als demokratie- frage verstandene deutsche frage schien ge- löst. das kaiserreich war in der militärische niederlage zerbrochen und von den arbei- ter- und soldatenräten hinweggefegt wor- den – eine sozialdemokratisch geprägte massenbewegung zur kriegsbeendigung übrigens und keine erhebung für ein sowjetdeutschland, wie die ddr-historie weismachte. doch dieser 9. november 1918 war nur ein scheinsieg. die alten eliten, die maßgeb- lich dazu beigetragen hatten, dass sich der liberale natio- nalgedanke zu einem nach innen wie außen unduldsa- men nationalismus gewan- delt hatte, und die sich im- mer gegen den demokratisierungsdruck ei- ner moderner werdenden gesellschaft ge- stemmt hatten, waren nur kurz von der historischen bühne gedrängt. die einstigen stützen des obrigkeitsstaates akzeptierten das prinzip volkssouveräner selbstregierung nicht nur nicht, sie tischten auch sogleich ih- re lesart für das jähe ende von preußen- deutschlands gloria auf: demokraten, so- zialisten, juden und andere „vaterlandslose gesellen“ an der heimatfront hätten dem heer den dolch in den rücken gestoßen – demokratie als ursache und bastard der kriegsniederlage. dabei wusste die hohe ge- neralität, die einen zum greifen nahen sieg vorgegaukelt hatte, dass sie mit ihrem feld- herren-latein am ende gewesen war. vergiftende lüge die erste deutsche de- mokratie begann also mit vergiftenden po- litischen lügen. obendrein verfiel sie dem friedensdiktat der siegermächte. erstaunli- cherweise ging die weimarer republik nicht sogleich wieder im bürgerkrieg unter. der 9. november 1923 war nur ein symptom ih- rer inneren zerrissenheit. in münchen scheiterte adolf hitler bei dem versuch, aus dem als tag der schande empfundenen da- tum ein fanal nationalistischer wiederge- burt zu machen. in mitteldeutschland ver- suchten kommunisten vergeblich die macht an sich zu reißen. die republik ist damals nicht zwischen „rechts und links zerrieben“, sondern von reichspräsident hindenburg und den kon- servativen kräften hinter ihm dem führer einer nsdap ausgeliefert worden, die in der weltwirtschaftskrise zur stärksten partei auf- gestiegen war. leichtfertig über die vernich- tungsmentalität der nationalsozialisten hinwegschauend, glaubten die alten eliten, sich hitler für ihr beharrlich verfolgtes ziel „engagiert“ zu haben: die zerstörung der republik mit ihren verhassten demokrati- schen verfahren und sozialen reformen. 1933 wurde der 9. november zum gedenk- tag für die „blutzeugen“ des ersten anlaufs, das „system der november-verbrecher“ zu beseitigen. in dieser feierstimmung erfolg- te 1938 das signal für das reichsweite po- grom gegen die juden. mit dem „dritten reich“ war die deutsche frage zum welt- problem nummer eins ge- worden, denn den natio- nalsozialisten ging es um nichts weniger als um natio- nale einheit in politischer freiheit, sondern um die durchsetzung eines totalitä- ren rassekollektivismus und die verwandlung europas in ein großgerma- nisches imperium. die kraftentfaltung und der vernichtungs- furor deutschlands in dem von ihm entfes- selten zweiten weltkrieg mit mehr als 60 millionen toten speisten sich stark aus dem trauma der niederlage im ersten weltkrieg, das nie verarbeitet, sondern in lügenhafter verhetzung eingekapselt worden war. bis zum ende war es hitlers dogma, „niemals“ einen zweiten 9. november 1918 zuzulas- sen. entsprechend das ergebnis: sieben mil- lionen tote „volksgenossen“, 14 millionen vertriebene, ein zerstörtes land und der ver- lust von einem drittel des reichsgebietes. mit der bedingungslosen kapitulation 1945 war die ideologie des herrenmenschen- tums erledigt und der vulkan nationalisti- scher leidenschaften ausgeglüht, auch wenn dieses leichengift noch zwei, drei jahrzehnte nachwirkte. erst 1985 konnte ri- chard von weizsäcker zu sagen wagen, die- se niederlage sei auch eine befreiung und ausgangspunkt für die freiheitliche ord- nung der bundesrepublik gewesen. anders als 1918 habe man die kraft, der wahrheit „ohne beschönigung und ohne einseitig- keit“ ins auge zu sehen. mit gründung zweier deut- scher staaten 1949 schien ei- ne lösung der deutschen fra- ge endgültig unmöglich ge- worden zu sein. die mit hoffnungen auf ein besseres deutschland ins leben getre- tene ddr war und blieb das produkt einer diktatur- durchsetzung durch deut- sche und sowjetische kom- munisten. die anerkennung der bevölkerung blieb aus, auch und erst recht nach dem bau der berliner mauer. am 9. novem- ber 1989, als der ostdeutsche volksprotest sie von innen her umstürzte, war das schicksal der sed-herrschaft besiegelt. die friedliche revolution setzte die deut- sche frage nach gleichzeitiger verwirkli- chung von einheit und freiheit neu auf die tagesordnung. dank einer günstigen inter- nationalen konstellation und des politi- schen geschicks der damaligen bundesre- gierung glückte ihre definitive beantwor- tung mit der wiedervereinigung 1990 tat- sächlich. die just an einem 9. november überwunde- ne berliner mauer sollte den diktatorischen sozialismus auf dauer sichern. die erinne- rung an die mauer sichert nun, dass er dau- erhaft im gedächtnis der welt bleibt. wie die geschleifte bastille hat die mauer eine dunkle und eine helle seite: ausgeburt der blockkonfrontation und teilung deutsch- lands, ist sie heute die symbolische verdich- tung von staatlicher willkür einerseits und politischer selbstbefreiung andererseits. der 9. november ist ein zentraldatum des 20. jahrhunderts und ein deutscher schick- salstag zugleich. er ist ein tag geschichtsbewusster de- mut, an dem wir mit trauer und scham, 25 jahre nach dem mauerfall aber auch mit freude und dankbar- keit dafür zurückblicken können, dass wir einigkeit und recht und freiheit – dem traum des vormärz – näher sind denn je. mit der beantwortung der klassischen deutschen frage hat die freiheitsfrage indes nichts von ihrer dringlichkeit verloren. die vom grundgesetz für unantastbar erklärte menschenwürde ist von der aufzehrung der natürlichen lebensgrundlagen und der auf- hebung der privatheit durch geheime und kommerzielle „dienstleister“ ebenso be- droht wie von einem finanzkapitalismus, der millionen ins elend stürzen und den unabdingbaren sozialen ausgleich zu einer aufgabe machen kann, die nicht einmal si- syphos übernehmen würde. es ist sehr die frage, ob darauf global abge- stimmte antworten gegeben werden. frag- los ist allerdings, dass die bewahrung eines menschenwürdigen lebens ohne den pri- mat des politischen nicht möglich sein wird. nur handlungsfähige internationale institutionen und ein an den unveräußerli- chen rechten des einzelnen ausgerichteter starker staat können gemeinwohlorientier- tes verhalten durchsetzen. nach hannah arendt befassen wir uns mit geschichte, um urteilsfähig zu bleiben. ei- nes lehrt die deutsche geschichte: freiheit ist nichts selbstverständliches und ohne freiheit alles nichts. klaus-dietmar henke ❚ der autor ist professor für zeitgeschichte und vorsitzender des beirats der stiftung berliner mauer. typisch deutsch 9. november der »anitimperialistische schutzwall« fiel just an einem zentraldatum unserer geschichte © picture-alliance/dpa, collage: stephan roters das ddr-fernsehen informierte am tag des mauerfalls über die neuen reiseregelungen (rechts). die folgenden tage strömten hunderttausende ddr-bürger in den westen (links). günter schabowski „wir haben fast al- les falsch gemacht“, gestand das ehemalige mitglied des sed-politbüros im rückblick auf die ddr. doch zu- mindest einmal hat schabowski etwas richtig gemacht – wenn auch unbeab- sichtigt. als er am 9. november 1989 die presse nach der sitzung des zentral- komitees der sed über die neue reise- richtlinie informier- te, löste er damit einen massenansturm auf die grenzübergänge zwischen ost- und west-berlin aus. schabowski gehört zu den wenigen sed-größen, die sich zu ihrer mora- lischen verantwortung für die an der mauer erschossenen ddr-flüchtlinge bekannten. die heutige bundestagsvizepräsidentin petra pau (linke) warf ihm 2001 vor, vom 150-pro- zentigen kommunisten zum 150-prozenti- gem antikommunisten mutiert zu sein. aw ❚ menschen – mindestens – sind von 1961 bis 1989 an der mauer getötet worden oder „in unmittelbarem zusammenhang mit dem ddr-grenzregime“ ums leben gekommen. laut aktuellem forschungsstand der ge- denkstätte berliner mauer und des zentrums für zeithistorische forschung potsdam star- ben ferner mindestens 251 vor, bei oder nach kontrollen an berliner grenzübergängen. kopf der woche der einsichtige sed-mann zahl der woche 138 zitat der woche »die tore in der mauer stehen weit offen!« hanns joachim friedrichs am 9. 11. 1989 in denard-„tagesthemen“. seine – verfrüh- te – ansage war mitauslöser des ansturms auf die grenzübergänge nach west-berlin. das parlament frankfurter societäts-druckerei gmbh 60268 frankfurt am main © picture-alliance/dpa www.das-parlament.de berlin, montag 28. juli 2014 64. jahrgang | nr. 31/32 | preis 1 € | a 5544 die friedliche revolution setzte die deutsche frage neu auf die tagesordnung. wir sind einigkeit und recht und freiheit – dem traum des vormärz – näher denn je. zeitzeugen (ex-)abgeordnete über die friedliche revolution seite 3 -13 zeitenwende 70.000 demonstranten brechen die sed-herrschaft seite 7 in dieser woche menschen & meinungen roland jahn der beauftragte für die stasi-unterlagen über verantwortung seite 2 thema symbol der teilung mehr als 28 jahre riegelte die mauer ost-berlin ab seite 3 vorbild osteuropa ein riss geht durch die bruderländer seite 5 wende in der volkskammer hans mo- drow wird neuer regierungschef seite 10 einmischung nach dem mauerfall geht helmut kohl in die offensive seite 13 mit der beilage apuz nachhaltigkeit michael bauchmüller schönen gruß aus der zukunft axel bojanowski 3ansennaj@a 4an>ańkogah frank uekötter %=qo=qbo?ds=jgaj@aik@ajġacnebbocao?de?dpa iris pufé 4=oeop+=?dd=hpecgaep!eiajoekjajqj@ d=j?aj friedrun erben · gerhard de haan +=?dd=hpecgaepqj@lkhepeo?daeh@qjc simone kaiser · michael rehberg · martina schraudner +=?dd=hpeca1a?djkhkceacaop=hpqjc@qn?d-=npevel=pekj frank kürschner-pelkmann +=?dd=hpeca 4=ooanjqpvqjc hans von storch (hei=oanre?aġ +=?dd=hpec ľrkndano=cajļ qo-khepegqj@7aepcao?de?dpa 64. jahrgang · 31–32/2014 · 28. juli 2014 apuz_2014-31-32 _print.indd die mauer vor (links) und nach dem fall: symbol für staatswillkür und selbstbefreiung. © picture-alliance/dpa, picture-alliance / okapia kg, collage: stephan roters vor dem brandenburgertor in berlins mitte, wo vor 14tagen hunderttausende dieweltmeister- schaft der deutschen fußball-nationalmann- schaft gefeiert haben, lagen sich auch vor 25 jahren die menschen in denarmen.trunken vor glück, das unfassbare allmählich begreifend und dennoch von der realität geblendet, erleb- ten sie geschichte, wie sie greifbarer nicht sein kann: die mauer, jenes als unüberwindbare hürde angelegte bollwerk, das ost und west deutschlands, europas, ja der ganzen welt ge- trennt hatte, war an diesem 9. november 1989 gefallen. davon hatten viele deutsche über jahrzehnte geträumt, manche immer daran ge- glaubt, die meisten aber gewiss nicht damit ge- rechnet. jetzt war die ddr-diktatur absehbar zu ende und der weg zu einer vereinigung bei- der deutscher staaten frei. dieser weg sollte nicht leicht zu bewältigen sein. auf der ostseite der geschleiften mauer wich die freude über die neue freiheit schon bald den sorgen des alltags, allen voran die so unbarmherzig einziehende arbeitslosigkeit. ganze regionen wurden nahezu flächende- ckend davon heimgesucht. auf einmal war die eigene arbeitskraft, in der ddr aus ideologi- schen gründen überhöht interpretiert, überflüs- sig. nicht wenige zerbrachen an dieser unge- wohnten erfahrung. in der alten bundesrepublik wuchs derweil die erkenntnis, dass es eines enormen kraftaktes bedarf, wirtschaft und infrastruktur der ddr westlichen standards anzugleichen. gefragt waren fachkundiges und noch mehr finanziel- les engagement. davon gab es reichlich. und doch ging es nicht immer rechtens zu.vielerorts wurde getrickst, mitunter gar betrogen. das oft spürbare gefühl eines nicht nur effektiven, son- dern auch bemerkenswert herzlichen zusam- menwirkens von ost- und westdeutschen auf augenhöhe wurde dadurch belastet. trotz alledem: es ist geschafft! deutschland lebt die einheit. die grenze zwischen ost und west ist inzwischen in den köpfen gefallen. menschen, vor allem auch die jungen, ziehen ebenso selbstverständlich von dresden nach darmstadt wie von essen nach erfurt. lands- mannschaftliche herkunft wird nicht mehr mit systemischer prägung verwechselt; der bayer ist bayer und kein „wessi“, der mecklenburger ein mecklenburger und kein „ossi“. und alle feiern zusammen vor dem brandenburger tor, auf den trümmern der berliner mauer. editorial alle feiern zusammen von jörg biallas weiterführende links zu den themen dieser seite finden sie in unserem e-paper s o n d e r t h e m a : 2 5 j a h r e m a u e r f a l l 9 . n o v e m b e r 1 9 8 9 berlin, montag 28. juli 201464. jahrgang | nr. 31/32 | preis 1 € | a 5544