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in zeiten der teufelspakte d er 1. september 1939, der tag des deutschen über- falls auf polen, ist in deutschland ein beding- ter gedenktag. in der bon- ner republik war dieser beginn des zweiten weltkrieges lange zeit nur kurze zeitungsnotizen wert. noch 1989 – anlässlich des 50. jahrestages – verhinder- te der damalige bundeskanzler helmut kohl (cdu) einen besuch von bundespräsident richard von weizsäcker auf der danziger westerplatte, weil er das zeichen eines neu- anfangs in den deutsch-polnischen bezie- hungen für sich selbst reservieren wollte – und das sollte nicht der geschichte, sondern der zukunft zugewandt sein. kohl hat dieses zeichen zwei tage nach der öffnung der ber- liner mauer mit dem friedensgruß von kreis- au setzen können. seine umarmung mit po- lens erstem nichtkommunistischen minister- präsidenten tadeusz mazowiecki sollte ne- ben die ikone von willy brandts kniefall in warschau gestellt werden als ein sinnbild für die versöhnung und die – in der europäi- schen zeitgeschichte beispiellose – deutsch- polnische interessengemeinschaft. zum ers- ten mal bildeten deutschlands einheit und polens freiheit keinen existentiellen gegen- satz. bereits im august 1989 erklärten sejm- abgeordnete der solidarnosc das recht der deutschen auf wiedervereinigung, während sich das 1990 vereinte deutschland als „an- walt“ der polnischen bemühungen um die einbindung in die westlichen strukturen sah. blindstelle der „feldzug in polen“ 1939 blieb allerdings im geschichtsbewusstsein vieler deutscher wohl eher ein kavaliersde- likt als ein nagender gewissensbiss. bereits die nazi-propaganda verweigerte dem über- fall auf polen die qualität eines krieges un- ter gleichberechtigten gegnern. vor 1989 wurde er durch die wunde der oder-neiße- grenze und der nachkriegsvertreibungen der deutschen überlagert, in der ddr dagegen durch das prisma der stalinistischen ge- schichtsdeutung gebrochen, nach der der zweite weltkrieg eigentlich erst mit dem überfall auf die sowjetunion begann. noch die heiß diskutierte „wehrmachtsausstellung“ von 1995 begann mit dem „unternehmen barbarossa“ im jahre 1941. die schau ignorierte den deutschen überfall auf polen als einen sündenfall, obwohl ein jahr zuvor bundespräsident ro- man herzog in seiner war- schauer rede eindeutig ge- wesen war: „es erfüllt uns deutsche mit scham, dass der name unseres landes und volkes auf ewig mit dem schmerz und dem leid verknüpft sein wird, die polen mil- lionenfach zugefügt wurden“, sagte herzog damals. „ich bitte um vergebung für das, was ihnen von deutschen angetan worden ist.“ in polen war diese erwiderung auf den bahn- brechenden satz der polnischen bischöfe an ihre deutschen amtsbrüder von 1965 – „wir vergeben und bitten um vergebung“ – auch als ergänzung zum stummen kniefall willy brandts lange erwartet worden. trotz eindrucksvoller reden – wie von bun- despräsident richard von weizsäcker am 8. mai 1985 oder bundeskanzlerin angela merkel am 1. september 2009 auf der wes- terplatte – wird der „polnische aspekt“ des zweiten weltkrieges in deutschland häufig ausgeblendet. und trotz der vorhandenen einschlägigen literatur über die besatzungs- politik gibt es keinen deutschen spielfilm, der etwa den alltag der „herrenmenschen“ bei der „germanisierung“ des besetzten po- len thematisiert. und wenn schon ein fern- sehdreiteiler wie „unsere mütter, unsere vä- ter“ polnische episoden aufnimmt, dann strotzen sie von klischees und desinteresse für die reale verortung der handlung. einen der gründe für diese verdrängung konnte man in diesem „jahr der jahrestage“ 2014 aus einer bemerkung des historikers ernst nolte heraushören, der gegenüber dem „spiegel“ erklärte, dass man „den anteil der polen und der engländer“ am ausbruch des zweiten weltkrieges „stärker gewichten muss“. der überfallene also sei an seinem schicksal selbst schuld, weil er die legitimen deutschen interessen einer revision des un- gerechten versailler vertrages nicht beachtet und stur auf die britischen garantien gesetzt habe? dieses „geschichtsfeeling“ scheint heute mit der veränderten wahrnehmung des jahres 1914 in der deutschen öffentlichkeit zusam- menzuhängen. wenn alle hauptschuldigen damals schlafwandler oder zocker waren, dann kann man die deutschen auch für den aufstieg hitlers nur bedingt verantwortlich machen. „das gilt dann ebenso für den aus- bruch des zweiten weltkriegs, weswegen es ungerecht sei, ihnen zur strafe für immer die ostgebiete wegzunehmen“, skizzierte der politikwissen- schaftler herfried münkler in der „süddeutschen zeitung“ diese selbstabsolution. er selbsthältnichtsvonderthe- se, dass die verinnerlichung der deutschen kriegsschuld gehütet werden müsse als ei- ne errungenschaft, weil sie auch brandts ostpolitik er- möglichte. schuld, führte münkler aus, sei eine morali- schebeziehungsweisereligiö- se kategorie und keine politiktheoretische; die bundesrepublik habe die deutsche ost- grenze anerkannt, der politische einfluss der vertriebenenverbände sei dahingeschmolzen. „führen wir also eine wissenschaftliche und keine geschichtspolitische debatte!“ eine wertfreie geschichtswissenschaft gibt es aber nicht. sie hat immer irgendeine „ge- schichtspolitische“ note ihrer zeit. und eben das monierten der historiker heinrich-au- gust winkler und sein jüngst verstorbener kollege hans-ulrich wehler im streit mit christopher clark und herfried münkler um die frage der verantwortung für den kriegs- ausbruch im sommer 1914. für einen historikerstreit darüber, welche politiker im sommer 1939 schlafwandelten oder sich verzockten, ist die aktenlage indes zu eindeutig. es war hitlers krieg – und sta- lins. beide wollten ihn, wie das geheime zu- satzprotokoll des „teufelspaktes“ belegt, den die außenminister joachim von ribbentrop und wjatscheslaw molotow am 23. august 1939 unterzeichneten. dennoch gibt es pa- radoxerweise sowohl in deutschland als auch in polen manche merkwürdige publi- zistische verrenkungen, die- sen teil der geschichte auch heute noch zu vernebeln. in polen wirkt der schock des 1. september 1939 bis heute nach. in der nationalkonser- vativen ecke wird immer wieder an alternativen sze- narien gebastelt, wie war- schau die katastrophe hätte vermeiden können. hätte polen hitlers „großzügiges angebot“ annehmen sollen, auf polnische ansprüche in danzig und wahrscheinlich auch auf den „korridor“ verzichten und dann an der seite deutschlands sein glück im krieg gegen sta- lins sowjetunion suchen sollen? derartige „political fiction“, romane und polemische essays wie potr zychowicz’ bestseller aus dem jahr 2012 „der ribbentrop-beck-pakt“, mit dem polen angeblich dem hitler-stalin- pakt hätte vorbeugen können, füllen inzwi- schen ein kleines bücherbord. wirklichkeits- flucht als befreiung von einer geschichtsneu- rose? wenn ja, dann ist es keineswegs nur ei- ne polnische spezialität. eine ähnliche selbsttherapie verpasst sich auf der deutschen seite stefan scheil mit seiner der „frankfurter allgemeinen zeitung“ zufol- ge „in der tendenz revisionistischen“ biogra- phie ribbentrops aus dem jahr 2013. hitlers außenminister ist darin zwar kein schlaf- wandler, aber doch ein zocker, der sein spiel mit der gewieften kriegspartei in england ver- lor. diese wollte demnach das erstarkende deutschland einhegen, und mit den unheil- vollen garantien für polen stellte london warschau einen blankocheck aus. noch am 2. september 1939 sei hitler bereit gewesen, sich aus polen zurückzuzie- hen, wenn ein neues mün- chen zustande gekommen wäre. fassungslos sei er gewe- sen, als ihm dann am 3. sep- tember großbritannien den krieg erklärte. kurzum: ein zeugnis diesmal deutscher geschichtsneurose. in diesem jahr der jahrestage steht der sommer 1939 im schatten anderer sommer – der julikrise 1914, der de- montage des ostblocks 1989 und der eu-osterweiterung 2004. all diese jahrestage sind von einer gegenwärti- gen krise in der ukraine überlagert. auf dem kiewer euromaidan ließen sich zeitlich ver- schoben züge der ostmitteleuropäischen re- volution 1989 erkennen, ein votum für den westkurs des landes, für die funktionieren- de eu und gegen eine nebulöse, von moskau dirigierte euroasiatische union. in der russi- schen annexion der krim und in dem in der ostukraine von moskau geschürten krieg kann man eine wiederauflage der alten im- perialen „arrondierung“ russlands sehen, die die zaren im 18. und 19. jahrhundert ebenso wie stalin 1939 und 1945 verfolgten. bei allen historischen analogien, die in die- sem jahr bemüht werden: geschichte ist kein kochrezept, die antworten auf aktuelle krisen sind nicht in der vergangenheit, sondern in der gegenwart und zukunft zu suchen. auch russlandsollteendlichbegreifen,dassdiezei- ten der teufelspakte, der „feldzüge“ in sperri- gen nachbarländern sowie papiernen kriegs- erklärungen vorbei sind. adam krzeminski ❚ der autor ist redakteur des polnischen nach- richtenmagazins „polityka”. für seine verdienste um die deutsch-polnische verständigung wurde er mit dem großen bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. in zeiten der teufelspakte jahrestag mit dem deutschen überfall auf polen begann vor 75 jahren der zweite weltkrieg © picture-alliance/dpa/heritage images „der teufel führt den tanz“ (1942) – mit den mitteln der karikatur wehrte sich der in polen geborene künstler arthur skyz gegen die deutsche aggression (ausschnitt). bronislaw komorowski er gilt als mann der versöhnlichen töne: bereits als sejm-mar- schall suchte der heutige polnische präsident den ausgleich über die lager hinweg. auch gegenüber den nachbarn fand der frühere solidarnosc- aktivistdenrichtigen ton:daswarbeidem für polen traumati- schen flugzeugab- sturz im russischen smolensk so, bei dem komorowskis vorgängerlechkaczynskiumslebenkam.und das war so in den debatten um dievertreibun- gen der deutschen nach dem zweiten welt- krieg. am 10. september wird der 62-jährige, der wie polens premier donaldtusk der liberal- konservativen „bürgerplattform“ angehört, gastrednerimbundestagseinundaneindunk- les kapitel der geschichte beider länder erin- nern: den deutschen überfall auf polen am 1. september 1939. ahe ❚ zuzüge aus polen registrierte das statisti- sche bundesamt im vergangenen jahr. damit stammen die meisten ausländischen zuwan- derer – und das bereits seit 1996 – aus un- serem östlichen nachbarstaat. im vergange- nen jahr lebten überdies 609.855 menschen mit ausschließlich polnischer staatsangehö- rigkeit dauerhaft in deutschland. quelle: destatis kopf der woche mann des ausgleichs zahl der woche 189.000 zitat der woche »wir freuen uns heute mit unse- ren polnischen nachbarn.« norbert lammert (cdu),bundestagspräsi- dent, erinnert am 4. juni im bundestag an den wahlsieg der „solidarnosc“ und den friedli- chen machtwechsel vor 25 jahren. das parlament frankfurter societäts-druckerei gmbh 60268 frankfurt am main © picture-alliance/dpa www.das-parlament.de berlin, montag 11. august 2014 64. jahrgang | nr. 33/34 | preis 1 € | a 5544 in polen wirkt der schock des 1. september 1939 bis heute nach. eine wertfreie geschichts- wissenschaft gibt es nicht. sie hat immer eine politische note ihrer zeit. deutsche in polen breslau erinnert an das historische erbe der einstigen deutschen einwohner seite 5 polen in deutschland die größte einwanderergruppe kommt seit jahren aus dem nachbarland seite 12 in dieser woche thema vertreibung millionen deutsche im osten mussten ihre heimat verlassen seite 4 umbruch polen war der vorreiter für das en- de des kommunismus im ostblock seite 7 grenze leben in der doppelstadt frankfurt (oder) und slubice seite 9 geschichte 1.000 jahre deutsch-polnische beziehungen seite 13 kehrseite bundestag das mauerstück der danziger werft am reichstagsgebäude seite 14 mit der beilage apuz comics scott mccloud was sind comics? andreas c. knigge eine kurze kulturgeschichte des comics stephan packard wie können comics politisch sein? christine gundermann comics in der politisch-historischen bildung martin frenzel der holocaust im comic thierry groensteen zwischen literatur und kunst: erzählen im comic dietrich grünewald zur comicrezeption in deutschland jaqueline berndt manga ist nicht gleich manga aus politik und zeitgeschichte 64. jahrgang · 33–34/2014 · 11. august 2014 apuz_2014-33-34 .indd reichsaußenminister ribbentrop unterzeichnet 1939 in moskau den „hitler-stalin-pakt“. © picture-alliance/dpa die freundschaft zwischen polen und deutsch- land ist noch jung. erst nach dem zusammen- bruch der ddr, der wiedervereinigung und den nachfolgenden politischen umwälzungen in osteuropa konnte damit begonnen werden, ei- ne mit leben erfüllte, gute nachbarschaft auf- zubauen. damit endete ein langer, von kriegen und zahllosen spannungen geprägter histori- scher abschnitt. das furchtbarste kapitel in der beziehung bei- der staaten hatte die deutsche wehrmacht mit dem überfall auf polen vor 75 jahren eingeläu- tet. der nationalsozialistische wahnsinn hat schier unermessliches, kaum vorstellbares leid über nachbarstaaten, weite teile der welt und auch das eigene volk gebracht. diese katastrophe hat in polen tiefe wunden gerissen, die bis heute schmerzen. umso be- merkenswerter ist es, dass beginnend mit dem kniefall von bundeskanzler willy brandt vor dem denkmal für die helden des warschauer ghettos 1970 tatsächlich ein prozess der aus- söhnung in gang gekommen ist. danach sollte es noch gut 20 jahre dauern, bis beide staaten einen nachbarschaftsvertrag un- terzeichneten. jetzt war formal besiegelt, was seitdem beeindruckend umgesetzt werden konnte: ein reger kontakt zwischen deutschen und polen. längst haben die menschen beiderseits der grenze das jeweils andere land entdeckt. zahl- reiche programme des jugendaustausches füh- ren junge leute zusammen. viele kommunen haben partnerschaften geschlossen. menschen mit polnischen wurzeln sind nach den türken die zweitgrößte migrationsgruppe in deutsch- land. für polens wirtschaft ist das nachbarland der wichtigste handelspartner. umgekehrt sind deutsche unternehmer die größten investoren in polen. kurzum: was viele jahrzehnte als völ- lig undenkbar galt, ist heute alltäglich gelebte realität. und doch ist dasverhältnis beider staaten noch immer nicht gänzlich unbeschwert. nur wenn das geschehene nicht verdrängt oder gar ver- gessen wird, bleiben die hindernisse, die das grauen der geschichte aufgebaut hat, auch dauerhaft eingerissen. erst dann erwächst aus vergangenheit dieverpflichtung für denaufbau einer gemeinsamen zukunft. so war es im ver- hältnis zwischen deutschland und frankreich. und so wird es eines tages auch zwischen deutschland und polen sein. editorial gelebte nachbarschaft von jörg biallas weiterführende links zu den themen dieser seite finden sie in unserem e-paper s o n d e r t h e m a : d e u t s c h l a n d u n d p o l e n g e d e n k e n a n d e n 1 . s e p t e m b e r 1 9 3 9 berlin, montag 11. august 201464. jahrgang | nr. 33/34 | preis 1 € | a 5544