debattendokumentation es ist winter, und schneidet täg- lich ein stückchen ab, um ihrer tochter zu essen zu geben, um zumindest sie zu retten. die tochter wusste nichts davon. sie war 12 jahre alt. die mutter wusste alles, sie erlaubte sich aber nicht zu sterben, sie erlaub- te sich nicht, den verstand zu ver- lieren. die tochter hat überlebt. ich habe mit ihr gesprochen. damals hat sie nicht gewusst, was man ihr zu essen gegeben hat. sie hat es nach dem krieg er- fahren, jahre spä- ter. und solche beispiele gibt es viele – können sie sich vorstellen, welches leben die menschen in der blockade lebten? in den wohnun- gen war es dunkel. die fenster wurden mit allem möglichen verhangen, um die wärme in den wohnungen zu halten. die zimmer wurden mit kleinen funzellampen beleuch- tet. das war eine dose, in die man – es gab ja kein petroleum – transformatorenöl oder maschi- nenöl oder ähnliches gegossen hatte. diese winzige flamme brannte tagein tagaus, wochenlang, mo- natelang. das war die einzige be- leuchtung in den häusern. schwarzmärkte entstanden, wo man ein stück brot kaufen konn- te, oder ein säckchen gerste, ir- gendein stück fisch, eine konser- vendose… alles wurde getauscht, es ging nicht so sehr um geld. man tauschte gegen pelzmäntel, filzstiefel, die menschen brach- ten alles aus ihren häusern, was einen wert hatte: bilder, silber- löffel. auf den straßen und in den hauseingängen lagen tote, in la- ken eingewickelt. als das eis im winter fester wurde, wurde die „straße des le- bens“ über den ladoga-see er- richtet. über diese straße fuhren fahrzeuge, um kinder, frauen und verwundete aus der stadt zu evakuieren, aber auch, um le- bensmittel in die stadt zu brin- gen. die straße wurde gnadenlos beschossen, granaten zerspreng- ten das eis. die fahrzeuge bra- chen ein und gingen im wasser unter, aber einen anderen weg gab es nicht. einige male wurde ich von der front zum stab geschickt und war in der stadt. da konnte ich sehen, wie die blockade das wesen der menschen verändert hatte. „je- mand“ oder der „namenlose pas- sant“ – das waren die helden der stadt. menschen, die versuchten, einem gestürzten, geschwächten, an unterernährung leidenden menschen wieder aufzuhelfen und ihn zu einem dieser punkte zu bringen, die es gab. da gab es heißes wasser, nur heißes wasser, man gab ihm einen becher, und das half oft, den menschen zu ret- ten. dieser „jemand“ – das war das in den menschen erwachte mitge- fühl. das war einer der wichtigs- ten, vielleicht sogar der wichtigs- te held des lebens während der blockade. dann, im mai 1942, als es wär- mer wurde, als es überall taute und wegen der großen zahl von leichen in der stadt die gefahr von infektionen stieg, hat man uns – soldaten und of- fiziere – in die stadt geschickt, um zu helfen, die lei- chen auf die fried- höfe zu bringen. viele leichen lagen übrigens neben den friedhöfen aufgehäuft. verwandte und freunde haben versucht, sie auf friedhöfe zu bringen und gräber in der gefrorenen erde auszuhe- ben, aber sie hatten natürlich nicht mehr die nötige kraft dafür. wir haben die leichen auf fahr- zeuge aufgeladen – wir haben sie hinaufgeworfen, wie holz, so tro- cken und leicht waren sie. unser regimentsarzt sagte, das käme da- von, dass sie sich von innen selbst aufgezehrt hätten. das war das einzige mal in meinem leben, dass ich eine derart grausige si- tuation erleben musste, als wir leiche um leiche auf die fahrzeu- ge warfen. auch die evakuierung brachte ihre eigenen probleme mit sich. eine frau erzählte uns, wie sie mit ihren kindern zum finnländi- schen bahnhof ging. ihr sohn, circa 14 jahre alt, lief hinter ihr, die kleine tochter hat sie auf ei- nem schlitten gezogen. sie kam mit der tochter am bahnhof an, der sohn war zurückgeblieben. er war kraftlos, ausgehungert – sie weiß nicht, was aus ihm wurde. sie hat diesen grausamen verlust nie vergessen, und auch, als sie uns davon berichtete, gab sie sich die schuld. es gab auch andere probleme. alexei kossygin, der stellvertre- tende ministerpräsident russ- lands – nicht russlands, der sow- jetunion – wurde als bevollmäch- tigter des staatlichen komitees der verteidigung nach leningrad entsandt. er hat mir berichtet, mit welchem problem er sich täg- lich auseinandersetzen musste: wen sollte er auf die straße des lebens ins nicht belagerte hinter- land, die sogenannte bolschaja semlja, schicken? kinder, frauen, verwundete oder doch materia- lien, werkbänke, buntmetalle und geräte für die rüstungsbe- triebe im ural? diese wahl treffen zu müssen zwischen menschen einerseits oder gütern, die für die rüstungsindustrie unentbehrlich waren, stellte für ihn ein qualvol- les und auswegloses dilemma dar. in der ganzen stadt hingen ty- pische anschlagzettel. sie waren überall angeklebt: „erledige beer- digungen“, „hebe gräber aus“, „bringe verstorbene zum fried- hof“. das alles für ein stück brot, für eine konservendose… im frühling wurden auf der newa massenweise leichen von rotarmisten angeschwemmt. trotzdem hat man weiterhin wasser aus der newa genommen, hat die leichen weggestoßen. was hätte man auch tun sollen? man musste dieses wasser sogar trinken. ab juli 1942 haben wir an der front versucht, den ring der blo- ckade zu durchbrechen. ohne er- folg. angriff um angriff wurde zurückgeschlagen. bei dem ver- such, die befestigungen am ande- ren ufer der newa zu durchbre- chen, verloren wir, verlor unsere armee innerhalb weniger monate 130.000 mann. eines tages be- kam ich das tage- buch eines jungen, der die blockade miterlebt hat. ja überhaupt, tage- bücher – viele menschen haben damals tagebuch geführt. sie waren später das glaub- würdigste material. als wir jahr- zehnte später menschen befrag- ten, die die blockade miterlebt hatten, stellte sich heraus, dass ihre erinnerungen an das tat- sächlich erlebte oft schon von all dem überlagert waren, was sie in kinofilmen oder im theater ge- sehen oder in den zeitungen ge- lesen hatten. ein tagebuch dage- gen ist authentisch, glaubhaft, im jetzt geschrieben, am glei- chen tag oder auch am tag da- nach. ich möchte ihnen jetzt die ge- schichte eines jungen erzählen, der über die blockade berichtet. er war 14 jahre alt und lebte mit seiner mutter und seiner schwes- ter zusammen. sein tagebuch hat mich sehr bewegt. und nicht nur mich, auch adamowitsch. wir haben uns ja gemeinsam damit beschäftigt. das tagebuch erzählt die geschichte eines gewissens. in den brotläden hat man damals versucht, die rationen auf das gramm genau abzumessen, denn die rationen waren ja auch so schon verschwindend klein. des- wegen hat man sehr genau abge- wogen und, um das gewicht auch genau zu treffen, noch kleine brotstückchen als zuwaage er- gänzt. der junge wurde von sei- ner mutter und seiner schwester beauftragt, die brotrationen zu holen. auf dem heimweg quält er sich und kämpft gegen die ver- suchung an, diese kleine zuwaa- ge aufzuessen, und zwar unge- straft. denn es wusste ja niemand in der familie, ob er eine zuwaa- ge bekommen hatte oder nicht. aber er selbst wusste es natür- lich. und so schreibt er in seinem geheimen tagebuch: „ich habe das stückchen aufgegessen, habe es nicht ausgehalten.“ und er macht sich vorwürfe, tadelt sich, schwört, dass er es nie wieder tun wird, weil dieses stück, diese zu- waage, ja für sie alle drei gedacht war. in der wohnung hatten sie auch nachbarn. der mann hatte einen verantwortungsvollen pos- ten und bekam deswegen zusatz- rationen, die scheinbar wohl ganz ordentlich waren. seine frau kochte in der gemeinsamen kü- che brei oder suppe. der junge riecht das duftende essen, ist wie auf die folter gespannt, wünscht sich, dass die frau die küche ver- lässt, damit er kurz in den topf hineinlangen kann, und sei es auch nur schnell mit der bloßen hand. er kämpft mit sich, will sich zurückhalten, und schafft es. das ist die ge- schichte eines ge- wissens, des wun- sches, anständig zu bleiben – einer ei- genschaft, die für die mehrheit der menschen im bela- gerten leningrad charakteristisch war. als adamowitsch und ich das buch über die blockade schrie- ben, habe ich immer wieder die frage gestellt: wie haben sie überlebt? wie war das möglich? aus vielen erzählungen der men- schen ging hervor, dass überwie- gend diejenigen überlebten – nicht alle natürlich, aber doch ein großer teil von denen, die andere gerettet haben, die sich in den schlangen angestellt haben, was- ser geschleppt haben, heizten, kranke versorgt haben. es haben sich diejenigen gerettet, die ande- re gerettet haben. dieses große maß an mitgefühl und barmherzigkeit war typisch für das leben während der blo- ckade und es hat den menschen geholfen durchzuhalten. die auf- gabe derjenigen, die in der stadt geblieben waren, die nicht an kampfhandlungen beteiligt wa- ren, bestand letzten endes darin, ihre menschlichkeit nicht zu ver- lieren. an der front war die lebens- mittelration auch sehr knapp, wir haben auch gehungert, haben auch gras und brennnesseln ge- kocht. aber das war trotzdem nicht vergleichbar mit dem, was in der stadt geschah. verstehen sie? als wir dieses buch schrieben, haben wir uns immer wieder die frage gestellt: wie konnte das sein? was ging da vor sich? an der front wusste man genau be- scheid, wie es in der stadt aussah. von überläufern und aufklärern. man kannte nicht nur die schre- cken des hungers, sondern auch die insgesamt furchtbaren bedin- gungen, unter denen die men- schen lebten. und man hat ge- wartet. nun gut – man kann ei- nen monat warten, zwei, auch drei. aber man wartete 900 tage! das verstehe ich nicht. soldaten sollten gegen soldaten kämpfen. der krieg ist sache von soldaten. aber hier wurde der hunger vor- geschickt, um anstelle von solda- ten zu kämpfen. ich war an vorderster front und konnte den deutschen dieses warten auf die kapitulation, das warten auf den hungertod lange nicht verzeihen. mit den jahren verblasst natür- lich die erinnerung und ich ver- stehe auch, dass der krieg, den ich miterlebt habe, schmutz und blut bedeutete. wie jeder krieg. die verluste auf beiden seiten waren riesig. unsere armeen, un- sere divisionen. schon nach den ersten monaten hatte nur ein drittel der soldaten überlebt. ich konnte mich lange nicht entschließen, über meinen krieg zu schreiben. aber schließlich ha- be ich es dann doch getan, es ist noch nicht lange her. ich habe ei- nen roman über meinen persön- lichen krieg geschrieben, wie ich in all diesen jahren gekämpft ha- be. warum ich darüber geschrie- ben habe? auf diese frage kann ich ihnen keine erschöpfende antwort geben. wahrscheinlich habe ich unterschwellig den merkwürdigen wunsch verspürt, meinen gefallenen regimentska- meraden zu berichten, die gestor- ben sind, ohne zu wissen, dass wir siegen, die in dem bewusst- sein der vollständigen niederlage gestorben sind, die überzeugt wa- ren, dass wir leningrad aufgeben müssten, dass die stadt nicht durchhalten würde… ich wollte ihnen sagen, dass wir doch ge- wonnen haben, dass sie nicht umsonst ihr leben verloren ha- ben, dass wir den gerechten sieg errungen haben. wissen sie, es gibt wahrschein- lich einen sakralen raum, wo dem menschen mitgefühl und spiritualität zurückgegeben wer- den, ebenso wie das wunder des sieges, und wo gerechtigkeit, die liebe zum leben und auch zum menschen höchste bedeutung ha- ben. ich danke ihnen. dies ist eine gekürzte version der debatte. das plenarprotokoll und die vorliegenden drucksachen sind im volltext im internet abrufbar unter: http://dip21.bundestag.de/dip21.web/bt der deutsche bundestag stellt online die übertragungen des parlamentsfernsehens als live-video- und audio-übertragung zur verfügung. www.bundestag.de/live/tv/index.html 3dokumentationdas parlament – nr. 6/7 – 3. februar 2014 auf den straßen und in den hauseingängen lagen tote, in laken eingewickelt. hier wurde der hunger vorgeschickt, um anstelle von soldaten zu kämpfen.