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zwei seiten einer medaille global eine grafik und stichworte zur weltweiten verbreitung des islams seite 6,7 national eine türkische familie in deutschland erzählt ihr leben seite 13 berlin, montag 13. april 2015 www.das-parlament.de 65. jahrgang | nr. 16 -17 | preis 1 € | a 5544 s o n d e r t h e m a : d i e w e l t d e s i s l a m s f a c e t t e n e i n e r w e l t r e l i g i o n zwei seiten einer medaille islam salafismus und islamfeindlichkeit bedingen sich und müssen gleichzeitig bekämpft werden w ir können es fast jeden tag und fast überall sehen: der islam ist in deutschland und in europa ange- kommen. muslime begegnen uns im all- tag, moscheen werden aus den hinterhö- fen ausgelagert und in repräsentativen ge- bäuden eingerichtet. von dieser zuneh- menden sichtbarkeit der religion gehen zwei unterschiedliche botschaften aus. zum einen bekundet sie eine gelungene integration: denn nur wo man dauerhaft bleiben will, richtet man sich gemütlich ein und zeigt es auch. zum anderen besagt sie deutlicher als alles andere, dass sich die deutsche gesellschaft verändert. das macht vor allem den alteingesessenen angst, denn manche davon wollen diese verände- rungen partout nicht. einige stehen offen zu dieser haltung, andere versuchen sie zu kaschieren. beide botschaften, die von der zunehmen- den sichtbarkeit des islams ausgehen, kul- minierten schon vor jahren in der sarra- zin-debatte. „ich muss niemanden aner- kennen, der vom staat lebt, diesen staat ablehnt […] und ständig neue kleine kopf- tuchmädchen produziert.“ so äußerte sich der spd-politiker thilo sarrazin 2009. in großen teilen der bevölkerung hieß es: „endlich jemand, der sich traut, die wahr- heit auszusprechen.“ auch zahlreiche jour- nalisten und politiker lobten sarrazin für seine „mutigen“ worte. und das war fatal. es hat mit dazu beigetragen, dass die feindlichkeit gegenüber fremden im allge- meinen und muslimen im speziellen im- mer weiter in die mitte der gesellschaft vordringen konnte, wie inzwischen alle studien in diesem bereich belegen. und der beifall für sarrazin hat noch mehr be- wirkt: er hat den weg für die islamfeindli- chen massenproteste der pegida in dres- den frei geräumt und er hat auch den weg nach tröglitz mit dem erzwungenen rück- tritt des bürgermeisters und dem feuer in einer flüchtlingsunterkunft geebnet. der ministerpräsident von sachsen-anhalt, reiner haseloff (cdu), meinte, tröglitz sei überall. er hat recht. 2014 gab es etwa 153 attacken auf flüchtlingsunterkünfte, da- runter 35 brandstiftungen, und 77 übergriffe auf flüchtlinge. in diesen vor- fällen kommen die altbe- kannten ausländer- und fremdenfeindlichkeiten in deutschland wieder zum vorschein. lange ließen sie sich verstecken – unter dem deckmantel einer ver- meintlichen islamkritik. spätestens seit den islamistischen terroranschlägen in den usa vom 11. september 2001 griffen frem- denfeinde verstärkt darauf zurück. nach den angriffen von solingen, mölln oder rostock-lichtenhagen anfang der 1990er jahre waren die rechtsradikalen parolen außerhalb einschlägiger kreise verpönt. abwertende äußerungen über türken oder asylanten ließen sich der bürgerlichen mit- te nicht mehr verkaufen. „islamkritik“ da- gegen war zum neuen trend geworden – sie fand zur primetime im fernsehen statt, in den feuilletons renommierter zeitungen und in beraterkreisen von politikern. man konnte beinahe ohne hemmungen über muslime und ihre religion herziehen. im zweifel ließ sich immer darauf verweisen, dass man bloß die gewaltbereiten islamis- ten im sinn habe, was ja wohl legitim sei. so konnte sich die fremdenfeindlichkeit gesellschaftlich ausbreiten. auch pegida verlief nach diesem muster: anfangs be- mühte man sich, sich bürgerlich-mittig zu geben, inzwischen haben die radikalen of- fen das ruder übernommen. abwehrreflexe der mehrheit ich habe es schon vor jahren gesagt und geschrieben: ich bin muslimin, tante, tochter, spreche mehrere sprachen, habe dunkle haare, schaue gern fußball und kämpfe dafür, endlich muslimisch und deutsch sein zu dürfen. ich kämpfe dafür, nicht mehr als fremde im eigenen land betrachtet zu werden. ich kämpfe dafür, dass man men- schen wie mich nicht länger „migranten“ oder „ausländer“ nennt. ich bin nie in die- ses land immigriert. für mich ist es völlig selbstverständlich, dass ich deutsche staats- bürgerin bin, die die demokratie und die damit verbundenen aufgaben schätzt. doch genau das wird mir nach wie vor von manchen deutschen streitig gemacht. diese beobachtungen lehren: je mehr sich muslime integrieren, gesellschaftlich parti- zipieren, selbstbewusst auftreten und die üblichen grundrechte einfordern, desto stärker werden die abwehrreflexe in der mehrheitsgesellschaft. daraus kann man nur einen schluss ziehen: wir müssen viel stärker in fragen der integration die mehrheitsbevölkerung in den blick nehmen. ihnen zum einen offen erklären, dass sich die deutsche ge- sellschaft verändern wird. dass neue menschen kom- men und diesem land auch einen stempel auf- drücken werden. dass dies in der geschichte schon immer der fall gewesen ist und keine bedrohung dar- stellt. alle teile der bevölkerung müssen verstehen, was es bedeutet, eine einwande- rungsgesellschaft zu sein. die forderung an migranten und deren nachkommen, sich einzufügen, die sprache zu erlernen, sich an recht und gesetz zu halten, sind richtig. aber sie sind seit langem auf dem tisch. sie werden von politikern aller par- teien vertreten. was sich kaum einer traut, ist, forderungen an die mehrheitsgesell- schaft zu artikulieren. integration sei keine einbahnstraße, heißt es zwar immer. bis- lang sind solche äußerungen aber nicht mehr als sonntagsreden. die auseinander- setzung mit der mehrheitsgesellschaft ist eine der wichtigsten aufgaben der integra- tionspolitik. da muss man ran. sonst ma- chen sich andere daran, die versäumnisse und deren folgen zu instrumentalisieren. die salafisten zum beispiel. und das kann uns in keinem fall recht sein. karriere des salafismus-begriffs es gibt wenige begriffe, die in deutschland so schnell karriere gemacht haben wie der des „salafis- mus“. das wort war vor we- nigen jahren vielleicht ein paar experten bekannt. sa- lafismus ist teil des funda- mentalistischen spektrums im islam. wir haben es so- mit mit einem sehr neuen phänomen des extremis- mus zu tun, das neben die bekannten formen des rechts- und des linksextre- mismus getreten ist. anders als viele glauben, ist der auslöser für das abgleiten in die szene aber nicht etwa das streben nach irgendei- nem gottgefälligen verhalten. die auslöser sind vornehmlich ganz weltlich. die radi- kalisierung hat primär mit den familien zu tun und mit dem alltag in dörfern und städten. interviews mit mitgliedern und ehemaligen mitgliedern der szene weisen oft in eine richtung: die zumeist jungen mitläufer sind gefrustet von ihrem leben, von mangelnden zukunftschancen, von ablehnung durch die mehrheitsgesell- schaft. jede sarrazin-debatte, jede pegida- demonstration bestätigt ihnen: ihr gehört nicht zu deutschland. verstärkt wird das gefühl, wenn bekannte politiker wie der spd-vorsitzende und vizekanzler sigmar gabriel sich mit den pegida-sympathisan- ten zusammensetzt und öffentlichkeits- wirksam nach deren ängsten fragt. das wirft bei den angefeindeten gruppen zwangsläufig die frage auf: „und wer fragt nach meinen ängsten, wer setzt sich mit mir zusammen?“ die meisten muslime ignorieren solche aspekte und schauen weg. doch nicht alle können das. bei ein paar leuten bleibt das gefühl von ohnmacht und wut. sie treibt der wunsch an, rache zu nehmen, es dieser gesellschaft heimzu- zahlen. und die salafisti- schen vordenker bieten ih- nen dafür eine möglichkeit an. wir haben es also im hin- blick speziell auf muslime als ein teil der integrati- onspolitik mit einem ernsten problem zu tun. und darin liegt gehöriger gesellschaft- licher sprengstoff. weil der salafismus na- türlich etwas mit dem islam zu tun hat, nutzen teile der gesellschaft diese verbin- dung aus, um die islamfeindlichkeit weiter zu schüren. so wie die salafisten islam- feindliche tendenzen nutzen, um sich zu radikalisieren, nutzen die islamfeinde sala- fistische bestrebungen, um ihre stim- mungsmache gegen muslimische einhei- mische und einwanderer zu rechtfertigen. islamfeindlichkeit und salafismus sind mithin zwei seiten derselben medaille. sie fördern und bedingen sich gegenseitig. die übrige gesellschaft muss daher aufpassen, dass sie zwischen diesen beiden extremen polen künftig nicht zerrieben wird. das geht nur, indem beides gleichzeitig be- kämpft wirft. lamya kaddor t die autorin ist islamwissenschaftlerin und lehrerin für islamische religion. sie hat syrische eltern. im februar erschien ihr buch „zum töten bereit. warum deutsche jugendliche in den dschihad ziehen“ (piper verlag). zeichen des angekommen-seins: moscheen werden in deutschland zunehmend aus den hinterhöfen an repräsentative orte verlagert. © picture-alliance/dpa weiterführende links zu den themen dieser seite finden sie in unserem e-paper mittendrin: absolventen der universität in bonn © picture-alliance/joker editorial es fehlt an wissen von jörg biallas religiöser fanatismus begleitet die weltge- schichte seit jahrtausenden. bei nahezu allen glaubensrichtungen gibt es beispiele für über- steigerten geltungsdrang und fanatische heilsbotschaften, die sich in gewaltexzessen gegenüber andersgläubigen bahn gebrochen haben. in der historischen betrachtung sind christen wie muslime jeweils opfer und täter. wer angesichts des islamistischen terrors ge- neigt ist, die täterrolle einseitig zuzuweisen, vergisst ereignisse wie das massaker von sre- brenica. vor 20 jahre wurden dort tausende bosnische muslime ermordet. derzeit richtet sich der fokus auf den militan- ten islamismus. aus gutem grund, wie nahezu täglich neue terrormeldungen auf grauenhafte weise belegen. das massaker an den studen- ten in kenia, der bürgerkrieg in syrien, die blu- tigen konflikte im jemen, die zunehmend unsi- chere lage im irak, aber auch die latent ange- spannte situation in anderen teilen asiens und afrikas: das alles schürt in der westlichen welt die sorge, fanatische islamisten könnten wei- ter erstarken und schlimmstenfalls sogar au- ßerhalb ihres unmittelbaren einflussbereiches unheil anrichten. nüchtern betrachtet bleibt diese gefahr schwer auszumachen, aber über- schaubar. auch das politische kapital, das sich aus dem angeblichen islamismus-import schlagen lässt, ist endlich, wie die gescheiterte „pegida“-bewegung belegt. gerade in deutschland sollte aus dem holo- caust das bewusstsein erwachsen sein, dass mangelndes wissen über die inhalte einer re- ligion verheerende auswirkungen haben kann. besonders junge menschen muss diese bot- schaft erreichen. jeder mag mit sich selbst ausmachen, wie die monatelang diskutierte frage, ob der islam zu deutschland gehört, zu beantworten ist. hilf- reich wäre aber in jedem fall eine auseinan- dersetzung mit dieser religion: der besuch ei- ner moschee, die lektüre des korans und des- sen interpretationen, gespräche mit musli- men. am ende dieser bemühungen wird die erkenntnis stehen, dass in dem gleichen maß, wie es ein gebot der menschlichkeit ist, den gewaltbereiten islamismus zu verdammen, der islam als weltreligion zu akzeptieren ist. und ganz nebenbei mag sich dann auch klären, wieso ausgerechnet diejenigen, die den islam am heftigsten kritisieren, oft dieselben sind, die den opfern selbsterklärter gotteskrieger die flüchtlingshilfe verwehren wollen. ich möchte nicht als »migrantin« bezeichnet werden. denn ich bin nie immigriert. der beifall für sarrazin hat den weg für die pegida- proteste frei geräumt. kopf der woche eine frau führt das dachgremium nurhan soykan sie gehört zu den muslimischen frauen in deutschland, die mit oder auch trotz des kopftuchs karriere gemacht haben. die kölner an- wältin nurhan soykan ist seit 1.april als erste frau sprecherin des ko- ordinationsrats der muslime. der rat ver- tritt die vier größten muslimischen dachver- bände hierzulande. die sprecher wechseln halbjährlich unter den vereinigungen. soykan ist seit 2010 general- sekretärin des zentralrats der muslime, des kleinsten der spitzenverbände. sie wurde 1970 in der türkei geboren und kam mit drei jahren mit ihrer familie – dervater ist imam – nach deutschland. sie ficht auf vielen ebenen für die interessen der hiesigen musli- me, so auch in der deutschen islamkonferenz. mit 25 wurde sie deutsche staatsbürgerin, seit sie 26 ist, trägt sie als zeichen des glaubens das kopftuch.als nurhan soykan im märz vom karlsruher urteil mit der rücknahme des kopftuchverbots für lehrer hör- te, habe sie vor freude geweint,sagt sie. kru t © picture-alliance/dpa zahl der woche 2070 könnte der islam das christentum als größte glau- bensgemeinschaft der welt ablösen. zu diesem schluss kommt das us-institut pew research center. 2050 werde deranteil der christen bei 31,4 prozent etwa konstant bleiben, während die zahl der musli- me von derzeit 23,2 auf 29,7 prozent steigen werde. in dieser woche thema interview die muslimische cdu-abgeordnete cemile giousouf im gespräch seite 2 europa seit eineinhalb jahrtausend gibt es auf dem kontinent islamische einflüsseseite 3 arabischer frühling eine zwiespältige bilanz nach den aufständen seite 8 islamischer staat wie dieterrormiliz ihre kämpfer rekrutiert seite 16 kehrseite ausstellung die geschichte des deutschen parlamentarismus im deutschen dom seite 18 zitat der woche »wir müssen geeint bleiben.« kardinal john njue, erzbischof von nairobi, in einer predigt nach dem massaker an mehr als 140 christlichen studenten an der keniani- schen universität garissa durch islamisten mit der beilage das parlament frankfurter societäts-druckerei gmbh 60268 frankfurt am main 4 194560 401004 1 1 7 1 6 4194560401004 11716