"das wird schon" d amals, im juni 2013, tippte karam auf seinem laptop herum, öffnete webseiten, fotos und landkarten. „hier, das ist meine stadt deirzor“, sagte er stolz und zeigte mit dem finger auf den bildschirm. der ort im osten sy- riens, unweit der irakischen grenze, er- schien zerbombt und menschenleer. aber das machte karam nichts aus. „es ist meine heimat und ich liebe sie“, erklärte der 23-jährige, während er aufgeregt von foto zu foto klickte. „und hier, das ist die brü- cke über den euphrat, der einzige weg in die stadt“, fuhr karam fort und fügte schmunzelnd an: „man muss sie mit voll- gas überqueren, sonst wird man von einem der scharfschützen des regimes erwischt.“ das war vor anderthalb jahren, als er in gaziantep, einer stadt im osten der tür- kei, an einem medienkurs einer europäi- schen nichtregierungsorganisation teil- nahm. man hatte karam als einen jener sy- rischen aktivisten eingeladen, die im inter- net videos über dem kampf gegen das re- gime von präsident bashar al-assad veröf- fentlichten und dabei kopf und kragen ris- kierten. „mir war die gefahr völlig egal, schließlich wollte ich freiheit, demokratie und eine anständige zukunft“, erzählt ka- ram heute. „außerdem wussten wir uns mit programmen zu schützen, die unsere identität verschleierten.“ auf der fahndungsliste nun ist der junge mann erneut in gaziantep – vorerst für im- mer. karam gehört zu den rund 1,5 millio- nen syrischen flüchtlingen in der türkei. „nach deirzor, kann ich nicht zurück, auch in anderen teilen syriens ist es schwierig für mich.“ der medienaktivist steht sowohl auf der fahndungsliste des sy- rischen regimes wie auch der extremisten- gruppen des islamischen staats (is) und jabhat al-nusra. demokraten sind in sy- rien auf beiden seiten der bürgerkriegs- front nicht willkommen. in gaziantep teilt sich karam eine woh- nung mit syrischen freunden. aber ange- kommen ist er noch nicht in der türkischen millio- nenmetropole. er wirkt ori- entierungslos und nach- denklich, fast depressiv. er scheint noch nicht zu reali- sieren, was passiert ist – und die frage bleibt, ob das jemals möglich sein wird. karam war neun monate lang in verschiedenen ge- fängnissen des syrischen regimes eingesperrt. „von den 120 häftlingen in mei- ner zelle sind über die hälfte gestorben“, erzählt der heute 24-jährige. bei einem teil seien krankhei- ten oder unterernährung die ursache da- für gewesen. viele seien auch am schock gestorben. „wenn neue in die überfüllte zelle kamen, fragten sie uns, wie lange wir schon hier seien“, erinnert sich karam. „als wir sechs, sieben monate sagten, ver- stummten sie. sie wurden völlig bleich, nachts bekamen sie hohes fieber und am morgen waren sie tot.“ in den überfüllten zellen können gefangene nur stehen und übereinander gelegt schlafen. karam wurde wie alle anderen „politischen häftlinge“ systematisch verprügelt und ge- foltert. „mit allem, was man sich nur vor- stellen kann“, fügt der 24-jährige an. es ge- be keine wahl, außer alles zu gestehen, was einem vorgeworfen wird. „sonst geht die folter immer weiter.“ ins gefängnis hat ihn einer seiner cousins gebracht. er verriet karam, als dieser seine mutter nach einem jahr wieder auf regie- rungsseite besuchte. „mein cousin erzählte ihnen, dass ich ein spion sei, der mit gps-sendern die bom- bardierungen israelischer kampfflugzeuge in damas- kus vorbereitet habe.“ bei der ersten vernehmung ge- stand karam die „spiona- getätigkeit“ und nannte die namen bekannter fußball- spieler und popstars als sei- ne kontaktleute. das fiel allerdings erst nach neun monaten auf und karam wurde freigelassen. zum glück hatte das regime keinerlei weitere informationen über seine medienaktivitäten. „die ganze technik, der digitale schutz, all meine konten unter falschen namen – das hat sich gelohnt“, meint karam rückblickend. „sonst wäre ich wahrscheinlich nicht mehr am leben.“ als karam aus der haft entlassen wurde, hatte sich die welt, die er kannte, völlig verändert. in deirzor regierte die terrormi- liz des is. auf der regierungsseite konnte karam nicht bleiben. sein cousin hätte ihn erneut ins gefängnis gebracht. „und bei den islamisten stehe ich als gottloser demokrat auf der fahndungsliste.“ mit glück konnte karam die checkpoints des is umgehen und sich über die grüne gren- ze in die türkei retten. nun sitzt er in gaziantep, wie so viele an- dere tausende von flüchtlingen ohne pa- piere und arbeit. er hat seine bewerbungs- unterlagen hunderte male verschickt und hofft auf einen job in den medien oder bei einer hilfsorganisation. er würde auch ins ausland gehen, aber ohne pass ist das kaum möglich. verlorene heimat in der türkei lebt er momentan noch von honoraren interna- tionaler nachrichtenagenturen. die fotos, die er als medienaktivist machte, wurden in vielen zeitungen abgedruckt. „nachdem ich aus dem gefängnis kam, haben sie mir alle ausstehenden honorare bezahlt. viel ist es nicht, aber es reicht für den anfang.“ karams euphorie und sein ungebremster elan von früher sind weg. das syrien, wie er und viele seiner freunde es sich vorstell- ten, scheint erst einmal verloren. jetzt muss sich der junge mann als flüchtling in einem anderen land mit fremder sprache zurechtfinden. „das wird schon“, spricht er sich selber mut zu. die hoffnung, dass wieder alles gut werden könnte, will er nicht aufgeben. alfred hackensberger t der autor berichtet als freier korrespondent aus dem nahen osten. »das wird schon« porträts ein syrer, eine roma-familie und ein italiener erzählen von ängsten, perspektivlosigkeit, hoffnungen medienaktivist karam saß monatelang in gefängnissen des syrischen regimes. jetzt lebt er ohne papiere und arbeit in der türkei. © ahmed mhidi f ür eros brunone avena ist europa mehr als nur ein wort: es ist ein lebensmodell. seit gut vier jahren lebt der italiener in deutschland – und er ist gekom- men, um zu bleiben. avena ge- hört zu den vielen jungen südeuropäern, die, ausgelöst durch die euro-krise, in ihrer eigentlichen heimat keine wirkliche chance mehr für sich sehen. in deutschland schon: avena kam über den europäischen freiwilligendienst und leistete dann einen bundesfreiwilligendienst. inzwi- schen hat er einen festen job bei einem so- zialen träger in berlin. der unterstützt über ein eu-projekt arbeitslose dabei, zeit im ausland zu verbringen, um sich bei betrieb- lichen praktika neu zu orientieren. wie wichtig das ist, weiß avena aus eigener er- fahrung. eigentlich hatte er in deutschland promovieren wollen. inzwischen hat er die idee verworfen. „ich finde es sehr befriedi- gend, jetzt menschen dabei zu helfen, ihren weg zu finden. ich weiß ja selbst, wie an- strengend es in einem anderen land ist, aber auch wie schön es ist, wenn sich die perspek- tiven auf einmal ändern.“ auch avena hat sich inzwischen orientiert: demnächst schließt er ein studium zum sozialarbeiter ab. andere mentalität rund 334.000 men- schen sind im ersten halbjahr 2013 aus eu- staaten nach deutschland gezogen, fast 28.000 kamen aus italien. dorthin zurück zu gehen, kann avena sich inzwischen nicht mehr vorstellen. „ich würde ganz sicher ei- nen job finden. aber nicht im sozialbereich. das ist einfach der bereich, in dem gnaden- los gespart wird.“ und auch die mentalität unterscheide sich so, dass er sich eine rück- kehr ins piemont nicht mehr vorstellen kann. „hier in deutschland arbeite ich mit meinen kollegen und chefs auf augenhöhe. ich kann selbstbestimmt arbeiten. wenn ich vorschläge mache, wird das gehört. in italien sind die chefs immer noch über 60, spre- chen keine fremdsprachen und sind gedank- lich noch längst nicht in europa angekom- men. das ist einfach eine ganz andere kul- tur, auf die ich keine lust habe.“ man sei in deutschland an- ders als in italien zwar im- mer noch extrem fixiert auf den richtigen abschluss. aber in seiner heimat sei die freiheit verloren gegan- gen, seinen eigenen weg zu wählen. „viele junge men- schen haben dort über- haupt keine zukunft mehr; es gibt keine jobs, keine aus- und fortbildung.“ bei 43,7 prozent liegt die ju- gendarbeitslosigkeit im land, bei bildungs- ausgaben liegt italien im oecd-vergleich ganz hinten. deutschland, berlin, dessen beschaulicher ortsteil friedenau, in dem avena heute lebt: das ist sein zuhause geworden. der 33-jähri- ge weiß, dass ihm der start in deutschland leichter gefallen ist als vielen anderen ein- wanderern. er sprach von anfang an gut deutsch. und er sieht mit einer größe von 1,90 meter, den blauen augen und der hel- len haut nicht aus wie ein typischer südeu- ropäer. „da muss man sich nichts vorma- chen“, sagt er offen. „wenn ich dunkelhäutig und klein wäre und man mir auf den ersten blick ansehen würde, dass ich nicht von hier komme, wäre das vermutlich anders gewe- sen.“ freundlich empfangen avena zahlt steu- ern, hat einen großen freundeskreis: er ist das, was man gut integriert nennt. „leute wie ich sind die bundesliga der ausländer und werden sehr freundlich emp- fangen.“ doch auch wenn ihm im täglichen leben kein rassismus begegnet, verfolgt avena sehr genau, wie sich in vielesn deutschen städten momentan jede woche tau- sende menschen zusammen- tun, um gegen einwanderer zu demonstrieren. „das er- schreckt mich. weil schon 100 demonstranten zu viel wären. aber in dresden sind es inzwischen 10.000, und das sagt etwas aus über die stimmung im land.“ der ethnologe in ihm findet die argumente von pegida und co „sehr, sehr interessant: hier geht es nicht mehr um die bewahrung eines national- staats, sondern man spricht von ‚unserem‘ europa, das man bewahren will. das ist neu.“ nicht neu sei die fremdenfeindlich- keit, die hinter den parolen stehe. „dass muslime auf einmal so zu einem problem für die menschen geworden sind, ist erschre- ckend.“ doch auch das sei europa: die tatsache, dass probleme nicht an ländergrenzen aufhören würden. „wenn so viele flüchtlinge nach lampedusa kommen, dann ist das nicht das alleinige problem von lampedusa, sondern von ganz europa.“ und das gelte nicht nur in flüchtlingsfragen. avena engagiert sich ehrenamtlich für mehrere projekte, die ge- gen die mafia kämpfen. auch die sei längst nicht mehr ein rein italienisches phänomen, sondern auch eine bedrohung für andere staaten. mit seinen partnern organisiert er reisen für junge erwachsene aus anderen eu-ländern nach sizilien. dort wohnen sie auf ehemaligen mafia-gütern und sprechen mit menschen, die gegen die mafia kämpfen oder opfer der organisation geworden sind. „damit kann man sie auch für mafia-struk- turen in deutschland sensibilisieren. leider wird immer noch unterschätzt, welche be- deutung das thema auch hier inzwischen hat.“ die gleiche freiheit, die es avena erlaubt, dort zu leben, wo er für sich die besten chancen sieht, bringt auch herausforderun- gen. „das dürfen wir nicht unterschätzen. aber letztlich sind die vorteile viel größer als die nachteile.“ susanne kailitz t die autorin ist freie journalistin in dresden. d er um die 30 jahre alte mann steht am ufer des bosnaflusses und angelt in der trüben brühe. ke- mal ist rom und lebt hier in kakanj, einem mittelgroßen städtchen in zentralbosnien, 45 kilometer von sarajevo entfernt. die am fluss liegenden und durch den nebel halb verdeckten häuser gehören zu einer romasiedlung mit mehreren hundert be- wohnern. auf die frage, ob er jemanden kenne, der gerade aus deutschland kommt und des- sen asylgesuch abgelehnt wurde, zögert ke- mal. schon in sarajevo hatte der bekannte roma-vertreter in bosnien, dervo sejdic, gewarnt: „die leute wollen nicht reden, sie wollen nicht bekannt werden, denn sie wollen noch mal versuchen, nach deutsch- land zu kommen.“ und das, obwohl bos- nien-herzegowina seit anfang september als sicheres herkunftsland gilt (siehe seite 12). die chancen der bosnischen roma auf asyl in deutschland liegen seither na- hezu bei null. auch die umstehenden winken ab. die vor einer verkaufsbude stehenden männer ver- krümeln sich, als sie den journalisten se- hen. es hat sich schon herumgesprochen, was er fragen will. aber dann sagt kemal doch: „komm mit in mein haus, meine schwester wird mit dir reden.“ gute erinnerungen die familie wohnt in- mitten der siedlung. die häuser sind inei- nander verschachtelt, der zum teil schlam- mige weg führt durch hinterhöfe, in de- nen holz für den winter gestapelt ist. die aus einem zimmer, kochnische und bad bestehende wohnung blitzt vor sauberkeit. dafür sorgt zahida. sie ist 31 jahre alt und verdient ein bisschen geld als putzfrau. „drei mal die woche. meine brüder arbei- ten manchmal bei gelegenheit. meistens nicht. richtige jobs gibt es doch für uns roma nicht.“ zahida würde gern in deutschland leben. doch die frau kann nicht zurückgehen in das land, an das sie gute erinnerungen hat. sie bleibt hier, weil ihre familie sie braucht. ihre krebskranke 70-jährige mut- ter arifa, ihre beiden fast gleichaltrigen brüder, zwei cousins, der eine 20, der andere 22 jahre alt mit frau und kleinen kindern. vor dem krieg waren die roma von kakanj bekannt wegen ihrer kupferschmie- de. damals gab es sogar in diesem viertel einen be- scheidenen wohlstand. „je- der hatte noch eine kran- kenversicherung, auch roma bekamen ar- beit, sogar rente.“ doch dann brach das unheil herein, der staat jugoslawien zer- brach, es gab krieg. die junge frau war noch ein kind, als die familie 1992 nach deutschland floh. sie ging dort zur schule, noch immer spricht sie hervorragend deutsch, obwohl sie schon 1997, kurz nach kriegsende, mit ih- rer familie und der älteren schwester nach bosnien zurückkehren musste. deutsch- land schickte die kriegsflüchtlinge mit dem versprechen zurück, ihnen vor ort zu helfen. auf der rückfahrt kam die schwester bei einem busunfall ums leben. zahida über- nahm ihre rolle und packte an. „als wir kamen, war unser häuschen hier in kakanj verwüstet.“ die versprochene hilfe blieb aus. auch, als nach der überschwem- mungskatastrophe im frühjahr dieses jah- res die bosna über die ufer trat. mehr als 80 zentimeter hoch stand das wasser im haus. von den hilforgani- sationen ließ sich bei ih- nen niemand sehen, die internationalen hilfsgelder versickerten auch jetzt wie- der irgendwo in der kor- rupten bürokratie, vermu- tet sie. „sieh mal, der boden un- ter den fliesen ist immer noch nass, die feuchtig- keit steigt herauf, nicht nur gift für meine bettlä- gerige mutter, auch für uns.“ eine krankenversi- cherung für roma gibt es nicht, die not- wendigen medikamente für die mutter, 50 euro pro monat, müssen sie irgendwie zu- sammenkratzen. zahida wird sarkastisch: „wir roma werden eben niemals krank.“ die beiden cousins leben mit deren mut- ter, den beiden kindern und der frau des älteren in dem häuschen nebenan. zahi- das familie hat den verwandten diesen raum zur verfügung gestellt. „die waren obdachlos, haben gar nichts.“ zahida hat- te deswegen nichts dagegen, als die bei- den jungen männer vor neun monaten losfuhren. die beiden versuchten, sich nach deutschland durchzuschlagen. sie meldeten sich bei einem sozialamt, ver- brachten drei monate in einem asylbe- werberheim. „dann sagte man uns, wir sollten sofort nach bosnien zurückfahren, wenn nicht, dürften wir fünf jahre lang nicht mehr nach deutschland zurückkeh- ren“, sagt der ältere. welche behörde ih- nen dies erklärte, bleibt unklar. man gab ihnen ein schriftstück, das sie unter- schreiben sollten. was darin stand, wissen sie nicht. es gab keine übersetzung und auch keinen dolmetscher. sie kehrten zu- rück. seither denken sie nur daran, wie sie es schaffen können, wieder nach deutsch- land einzureisen. beide lernen jetzt deutsch. in kakanj sehen sie keinerlei zu- kunft. „fast alle jungen männer wollen ge- hen“, sagt der ältere. weitere fragen wehrt er ab. kein privatleben zahida hat inzwischen den tisch aufgeräumt, dem hund wasser gegeben, die mutter versorgt. alle schlafen hier in diesem raum, die brüder, die mut- ter, sie. an privatleben ist nicht zu denken. an eine zukunft für sie selbst kann sie nicht glauben. „hoffnung, was ist das?“, fragt zahida. allah habe die menschen als gleiche geschaffen. „nur für ihn gibt es keine unterschiede.“ erich rathfelder t der autor berichtet als freier korres- pondent aus bosnien-herzegowina. zahida floh als kind mit ihrer familie nach deutschland. nach dem krieg mussten sie nach bosnien zurückkehren. © sulejman omerbasic eros avena lebt seit vier jahren in deutschland. in seine heimat, das italienische pie- mont, will er nicht zurück. © michael kuchinke-hofer »beim is stehe ich als gottloser demokrat auf der fahn- dungsliste.« karam (24) »meine brüder arbeiten meistens nicht. richtige jobs gibt es für uns roma nicht.« zahida (31) »viele junge menschen haben in italien über- haupt keine zukunft mehr.« eros (33) das parlament - nr. 2-3 - 05. januar 2015 migration 3 weiterführende links zu den themen dieser seite finden sie in unserem e-paper