wir sind ein staat wir sind ein staat einheit gemeinsame erfahrungen und getrennte vergangenheiten. ostdeutsche erwägungen zum jubiläum s chon wieder? es muss wohl sein. am 3. oktober jubiliert die deutsche einheit, abermals. sind wir ein volk? so lautet ri- tuell die nationale festtagsfra- ge, als wäre ein „zusammen- wachsen“ pflicht. jede antwort ist lebens- geschichtlich geprägt, auch die meine: wir sind zwei völker in einem. wenn’s langt. ich bin ostdeutscher des jahrgangs 1956. den 3. oktober 1990 verbrachte ich wie kein anderer überlebender der ddr: in washington, im rosengarten des weißen hauses, als eingeschlichener feiergast. deutsch-amerikanische honoratioren harrten des präsidenten. ein kinderchor zwitscherte „auf der schwäbschen eisen- bahne“ und „it’s a gift to be simple and free“. jetzt betrat george bush (senior) den rosengarten, umsprungen von zwei weiß- braunen hunden. die kapelle der us-ma- rines spielte das deutschlandlied, das bun- deswehr-blasorchester „star spangled ban- ner“. der präsident sprach von den glo- cken der freiheit, die heute in berlin er- klängen. deutschland sei einig und ameri- ka sein starker freund. ich fand mich recht verloren. alles und je- der war westlich, ebenso beim fest der deutschen botschaft. ich nahm meine bul- garische freundin mit, zwecks osteuropäi- schen beistands. auch ihr blühte nun die freie welt. gorbatschows sowjet-planet hatte seine trabanten entlassen. die globa- le zukunft schimmerte im licht kooperati- ver vernunft. auf- und abbau ost auch die deutsche? das folgende jahrzehnt erlebte ich, pathe- tisch formuliert, als chronist der ostdeut- schen übergangsgesellschaft. das hambur- ger wochenblatt „die zeit“ begehrte einen landeskundigen reporter, der den lesern – zu 97 prozent altbundesbürger – das west- sibirische beitrittsgebiet näherbrächte, ob- jektiv, mit hanseatisch kühler feder. dazu war ich außerstande, doch zur vermittlung gewillt. ich erzählte vom auf- und abbau ost, von rassistischer gewalt, von der ret- tung zerfallender städte und wie das lau- sitzer dorf horno in die grube fahren musste für ein biss- chen kohlestrom. ich besuchte die hungerstreikenden kalikumpel von bi- schofferode und den taumelnden fc carl zeiss jena. ich erwog die demokrati- sche potenz der pds und die selbstironi- sche heilkraft der ostalgie, die im westen als verherrlichung des „unrechtstaates“ missverstanden wurde. ich verweigerte die reduktion des landes ddr auf stasido- pingstacheldraht. ich schrieb als abkömm- ling jenes deutschen volkes, das im herbst 1989 seine öffentliche sprache gefunden hatte und also endlich sich selbst. privatisierte freiheit öffentlichkeit, das freie publizierte wort, war ein hauptbe- gehren der friedlichen revolution. bereits mit dem mauerfall endete der emanzipato- rische volksaufstand, wurde die eben er- rungene freiheit privatisiert. der eilfertige ddr-beitritt zur bundesrepublik – de facto ein anschluss – erfolgte natürlich zu deren bedingungen. der bankrotte osten brauch- te den westen, dieser allerdings keinen os- ten. der westen prosperierte ja und war in sich komplett. seine wirtschaft, seine mehrheit, seine ideologie definierten den gemeinsamen staat. die brd blieb deutschland, die ddr wurde östliche pro- vinz. deren kultur und geschichte über- malte die nationale, die westliche medien- macht. dem osten, nunmehr drittelland, verblieben regionale eigenarten. die ost- deutschen, jetzt ein fünftelvolk, fielen zu- rück in ihre vorrevolutionäre mündlich- keit. dagegen schrieb ich an, mit eifer- sucht. wie wenig vermochte der westen sich als deutschen torso zu begreifen. 40 jahre lang floss die nationalgeschichte geteilt; kein flussarm war mehr oder weniger deutsch als der andere. zudem existierten beide deutschländer als mündel der siegermäch- te. die hatten 1945 den einheitsstaat kas- siert; 1990 rückten sie ihn wieder heraus. freilich fand auch der kalte krieg einen sie- ger. mit den usa triumphierte das markt- wirtschaftlich-demokratische deutschland. dieser wesenszug der „wiedervereinigung“ spiegelt sich in zwei markanten zitaten. wolfgang schäuble, der den einheitsver- trag quasi mit sich selber ausgehandelt hat- te, verkündete gen osten: „liebe leute, es handelt sich um einen beitritt der ddr zur bundesrepublik, nicht um die umgekehrte veranstaltung.“ lothar de maizière, der ers- te und letzte freigewählte ministerpräsi- dent der ddr, wurde nach deren mitgift gefragt. er sagte: „17 millionen men- schen.“ fast klang das wie martin lu- thers sterbeworte: „wir sind bettler, das ist wahr.“ wahr ist, dass die mehrzahl der ddrler 1990 gläu- big den beitritt zur brd erwählten. wahr ist, dass laut helmut kohlschem heilsversprechen der westen zur lokomotive des ostens werden sollte; stattdessen wurde er zur amme. wahr bleibt bis heute, dass die westdeutsche zi- vilgesellschaft sich weitaus stabiler organi- siert als der industriell entkernte, entbür- gerlichte osten. auch der wirtschaftliche abstand weigert sich zu schrumpfen. doch wie pauschal, wie lähmend menschenfern sind derlei kategorische befunde. wie er- müdeten schon zur jahrtausendwende die stereotype der deutsch-deutschen käfer- kunde. die ostler waren nie ein homoge- nes kollektiv, sondern millionen individu- en höchst verschiedenen charakters und geschicks. nur als erinnerungsgemein- schaft bilden sie ein wir. sie verteidigen nicht den sed-staat, sondern ihr darin ge- lebtes leben. die existentielle erfahrung des 1989er zeitenbruchs unterscheidet ost und west. die biographien des westens wurden weder umgepflügt noch evaluiert. dann geschah der 11. september 2001. schlagartig fanden sich die deutschen im selben boot. die innerdeutschen debatten verstummten, die außenpolitik setzte die themen. der bündnisfall wurde ausgeru- fen und belehrte auch die ostler über die pflichten der deutsch-amerikanischen freundschaft. sie erinnerten sich deutlich an ihren vorigen großen bruder. dass sich der bundeskanzler gerhard schröder (spd) nicht zum spießgesellen des irak-krie- gers george bush (junior) machen ließ, war eine neue, erlösende erfahrung. deutschland gilt als pazi- fistisch. das meint die volksmentalität, nicht den waffenexporteur. der frei- heitspathetische bundes- präsident joachim gauck, der „deutschlands gewach- sene verantwortung“ auch militärisch behauptet, wird im osten „feldprediger“ genannt. im ur- teil über ihre fürchterliche national-ver- gangenheit sind ost und west einig. die teilung war hitlerdeutsch verschuldet. die junge ddr bekam den antifaschismus von ihrer sowjetischen siegermacht übergehol- fen, die braunfaul restaurative bundesrepu- blik entnazifizierte sich erst im streit der generationen. mitunter wird gefragt, wa- rum die jungen ostdeutschen heute ihre eltern nicht ähnlich dringend nach der diktatur befragen wie die 68er einst im westen. eher nehmen sie die eltern in schutz. das sed-regime verbrach ja nicht krieg und holocaust. es knickte biogra- phien, es limitierte lebenschancen im na- men „sozialer geborgenheit“. dass die zur gerechten freiheit gehöre, blieb eine ost- deutsche überzeugung. ansonsten bedeutet freiheit: reisen, welt- erfahrung. reiseweltmeister heißen die deutschen, die ostler längst inbegriffen. der fußball-weltmeister deutschland ist rein westlich bestückt, wie die bundesliga. jüngst wurde die 3. liga zur eliteklasse ost ausgerufen, weil dort acht klamme traditi- onsvereine wiederauffüh- rungen alter ddr-duelle präsentieren. weltweit war die fußball-wm 2006, das deutsche „sommermär- chen“, der größte triumph des geeinten landes. man sah die teutonen feiern, in heiterem schwarzrotgold. sie wirkten jung, aufge- schlossen, international. diese deutschen musste niemand fürchten. aber dieses image ist nicht für immer garantiert. derzeit nimmt es schaden, weil deutschland sich als europas zentralmacht inthronisiert. voller gemeinsamkeit zum schluss ein schlichter satz: dieses ist die deutsche ein- heit. eine andere gibt es nicht. viele ost- west-dissonanzen bleiben, generationsbe- dingt, aber sie nehmen biologisch ab. die nachgeborenen der teilung werden immer mehr – wie deutschlands zuwanderer. doch auch wir älteren taugen zum mitei- nander. 1990 erklärte mir eine us-amerika- nerin, warum schwarz und weiß nicht mehr zu scheiden seien: weil beide das land seit jahrhunderten bewohnen und sei- ne geschichte teilen. die deutsche neuzeit währt erst ein vierteljahrhundert und ist schon voller gemeinsamkeit: kosovo-krieg, euro-einführung, finanzkrise, hartz iv, ho- mo-ehe, pegida, flüchtlingsströme, nsu und nsa sind einheitsdeutsche erfahrun- gen. die vergangenheiten bleiben getrennt. das bereichert unsere vielstimmige ge- schichte. christoph dieckmann t der verfasser ist autor der wochenzeitung „die zeit“. fußballfans beim „sommermärchen“, der wm 2006 in deutschland, in heiterem schwarzrotgold: jung, aufgeschlossen, international – und nicht zum fürchten. © picture-alliance/dpa kopf der woche präsenz in heidenau sigmar gabriel die spd müsse dahin gehen, „wo es brodelt, manchmal riecht und gelegent- lich auch stinkt“. im sächsischen heidenau prak- tizierte der parteivor- sitzende und vize- kanzler sigmar ga- briel seinen rat- schlag, den er beim amtsantritt 2009 in der spd selbst ge- macht hatte. nach den gewalttätigen ausschreitungen rechtsextremer vor einer asyl-unterkunft unterbrach gabriel seine politische sommerreise und fuhr demonstrativ zur kleinstadt nahe dres- den, wo er sich solidarisch mit den flüchtlingen zeigte. dort geizte er nicht mit harschen worten, als er die gewalttäter als „pack“ und „braunen mob“ bezeichnete, den man ins gefängnis ste- cken sollte. tags darauf erhielt die spd-bundes- zentrale in berlin hunderte wütender mails und anrufe und musste wegen einer bombendro- hung zeitweilig geräumt werden. kru t © picture-alliance/dpa zahl der woche 800.000 asylbewerber könnten 2015 nach deutschland kommen, so viel wie nie zuvor. mit dieser prognose korrigierte innenminister thomas de maizière (cdu) die letzten einschätzungen von 450.000 neuen asylanträgen. während de maizière in sol- chen zahlen auf dauer eine überforderung deutschlands sieht, kann nach einschätzung von bundestagspräsident norbert lammert (cdu) eine solche zuwanderung pro jahr bewältigt werden. zitat der woche »deutschland hilft, wo hilfe geboten ist.« angela merkel (cdu), bundeskanzlerin, beim besuch am vergangenen mittwoch im sächsi- schen heidenau zur deutschen flüchtlingspolitik in dieser woche mit der beilage das parlament frankfurter societäts-druckerei gmbh 60268 frankfurt am main gegenwart die akzeptanz der demokratie im kontext sinkender wahlbeteiligungen seite 9 vergangenheit die bürgerrechtler setzten den erhalt der stasi-akten durch seite 10 berlin, montag 31. august 2015 www.das-parlament.de 65. jahrgang | nr. 36-37 | preis 1 € | a 5544 s o n d e r t h e m a : 2 5 j a h r e d e u t s c h e e i n h e i t b i l a n z u n d a u s b l i c k weiterführende links zu den themen dieser seite finden sie in unserem e-paper sie erlebte zwei minuten lang die ddr: sarah klier, hier mit einem babyfoto von sich, wurde am 2. oktober 1990 kurz vor mitternacht in leipzig geboren. © picture-alliance/zb editorial hauptsache cool von jörg biallas seit dem 3. oktober 1990 gehen der osten und westen deutschlands wieder vereinigt durch die zeitläufte. als dieses ereignis in ber- lins neuer mitte gefeiert wurde, war die be- geisterung der menschen in den gleichzeitig neu entstandenen bundesländern mecklen- burg-vorpommern, brandenburg, in sachsen, sachsen-anhalt und thüringen bereits vieler- orts den alltagssorgen gewichen. arbeitslosig- keit, finanzielle ungewissheit und zukunfts- angst hatten das erwartete dasein im westli- chen konsumparadies relativiert. in west wie ost war in dem knappen jahr seit dem mauer- fall die erkenntnis gewachsen, dass es nicht so leicht wie erhofft werden würde, die nach neu- en maßstäben unproduktive wirtschaft und marode infrastruktur der untergegangenen ddr modernen standards anzupassen. heute, ein vierteljahrhundert später, ist dieser prozess längst abgeschlossen. das war nicht leicht und auch nicht immer gerecht. vielen, die sich selbst als „wendeopfer“ bezeichnen, darf man diese gefühle nicht absprechen, wenngleich die schuldzuweisungen mitunter zu simpel sind und das tatsächliche dilemma nur einseitig beschreiben. in den vergangenen 25 jahren ist die nation immer fester zusammengewachsen. die men- schen in ost und west haben sich und das je- weils andere lebensumfeld kennen, oft auch schätzen gelernt. am arbeitsplatz, in der fami- lie, im freundes- und bekanntenkreis ist über trennendes wie verbindendes diskutiert wor- den. obwohl die kontroverse dabei mitunter den konsens überflügelte, waren solche ge- spräche gewinnbringend. auch das hat dazu beigetragen, dass sich in ostdeutschland keine grundsätzliche skepsis gegenüber den spielre- geln der demokratie etabliert hat, wie zeitwei- se zu befürchten stand. beispielsweise ist eine niedrige wahlbeteiligung gewiss kein aus- schließliches problem der neuen länder. wer den wegzug junger menschen aus vor- pommern, der lausitz oder dem erzgebirge be- klagt, vergisst, dass es solche bewegungen auch in dithmarschen, franken und im huns- rück gibt oder gegeben hat. ohnehin spielen die himmelsrichtungen bei der zukunftspla- nung eine untergeordnete rolle. entscheidend ist das angebot. bei der wahl des ausbil- dungs- oder studienortes konkurrieren düssel- dorf mit dresden, rostock mit regensburg, göttingen mit greifswald. ost oder west? egal, hauptsache eine coole deutsche stadt. viele ost-west- dissonanzen bleiben, aber sie nehmen biologisch ab. thema die ost-beauftragte der re- gierung, iris gleicke (spd), im gespräch seite 2 interview „industrielle leuchttürme“ und brache nach einemvierteljahrhundert seite 4 wirtschaft von arbeitslosigkeit, renten und reichtumsverteilung seite 7 arbeit und soziales erholte landschaften zwischen elbe und oder seite 14 umwelt und klima wegen einer technischen umstellung erscheint diese ausgabe eine woche später als geplant. europa und die welt die lageathens und der währungsunion nach den hilfen seite 16,17 griechenland 4 194560 401004 1 3 7 3 6 4194560401004 13736