debattendokumentation das parlament - nr. 43-45 - 19. oktober 2015 debattendokumentation 11 volker kauder, cdu/csu: die europäische handlungs- fähigkeit steht auf dem spiel volker kauder (*1949) wahlkreis rottweil - tuttlingen d er anlass für die heutige debatte und die regie- rungserklärung der bun- deskanzlerin ist eine sitzung des europäischen rates heute und morgen. da steht natürlich in ers- ter linie die frage „was tut europa in einer der größten herausforde- rungen in der nachkriegsgeschich- te?“ auf der tagesordnung. wir alle wissen: bei allem, was wir national tun – darauf werde ich noch kom- men –, werden wir diese heraus- forderung nicht allein von deutschland aus, sondern nur in und mit europa bewältigen kön- nen. der umgang mit dieser situati- on – das muss jeder in europa wis- sen – entscheidet auch darüber, ob die menschen noch vertrauen in europa setzen und hier eine zu- kunftsperspektive sehen. europa muss wissen: wenn jetzt keine richtige antwort kommt, dann werden sich viele fragen, welchen sinn europa überhaupt noch hat. deshalb ist es richtig, was die bun- deskanzlerin vorhin gesagt hat. man muss alles daransetzen, dass sich europa dessen auch bewusst ist. es kommt jetzt darauf an, dass europa erkennt, dass man nicht im kleinteiligen groß sein kann, aber im großen kleinteilig bleibt. das ist die entscheidende heraus- forderung, um die es nun geht. da wünschen wir ihnen, frau bundes- kanzlerin, natürlich viel erfolg und überzeugungskraft. dazu gehört auch, dass sich europa in der flüchtlingspolitik noch einmal neu sortiert. die si- cherung der außengrenzen und dublin iii funktionieren im au- genblick nicht richtig. vielleicht muss man auch sagen: schengen kann nur funktionieren, wenn je- der seine eigene außengrenze si- chert. solange es um ein paar tau- send flüchtlinge geht, mag dies je- der kleinere staat mit außengren- ze schaffen, aber wenn es um hunderttausende geht, zeigt sich, dass dies nicht zu machen ist. deswegen dürfen wir – dazu brauchen wir eine klare aussage – die sicherung der außengrenzen nicht allein in nationalstaatliche verantwortung geben, sondern da trägt europa eine gemeinsame ver- antwortung. dazu muss sich europa bekennen. das wird natür- lich geld kosten. aber ich kann gut nachvollziehen und verstehen, dass länder wie italien, griechen- land und andere, die eine außen- grenze haben, sagen: den deut- schen fällt es leichter, über die si- cherung von schengen zu spre- chen, weil sie keine schengen-au- ßengrenze haben. darauf antworte ich: wir sind bereit, mitzuhelfen, dass europa seine außengrenzen sichern kann, dass dies auch in zu- kunft so geschieht, wie es notwen- dig ist. auch darüber muss gesprochen werden, frau bundeskanzlerin. da ist, salopp gesagt, höchste eisen- bahn geboten, damit in der welt klar wird: europa ist bereit, flücht- linge aufzunehmen. europa ist aber auch bereit, die beschlossene sicherung der außengrenzen durchzuführen. meine sehr verehr- ten damen und herren, es ist rich- tig, darüber zu reden, dass wir den ländern, die erste anlaufstellen sind – italien, griechenland –, bei der registrierung und unterbrin- gung von flüchtlingen helfen. in richtung der grünen sage ich: ich habe wenig verständnis, wenn man – der begriff „hotspot“ ist wirklich nicht besonders toll, vielleicht fällt einem da auch ein verständlicherer name ein – die erstaufnahmeeinrichtungen als anstalten diffamiert. nein, das sind notwendige maßnahmen, um den flüchtlingsstrom koordinieren zu können. deswegen unterstüt- zen wir – ich denke, die regierung und die koalition insgesamt – den aufbau solcher erstaufnahmeein- richtungen in griechenland und in italien mithilfe der eu. wenn der satz richtig ist, dass politik mit dem betrachten der wirklichkeit beginnt, dann ist es doch völlig klar – wenn man sich diese wirklichkeit anschaut –, dass die türkei, wie die bundeskanzle- rin zu recht formuliert hat, eine wesentliche rolle spielt. jetzt kann man sagen: die türkei spielt zwar eine wichtige rolle – wenn sie ihre aufgabe nicht so wahrnimmt, wie wir glauben, dass sie wahrgenom- men werden muss, dann wird das chaos riesengroß –, aber egal; wir reden nicht mit denen. – dies ist aber eine form von politikverwei- gerung, der wir uns nicht anschlie- ßen, meine sehr verehrten damen und herren. es ist doch wirklich bemerkens- wert mutig, wenn die bundeskanz- lerin sich in aller öffentlichkeit an dieses rednerpult stellt und sagt: „ich werde, weil es notwendig ist, mit der türkei reden. aber es wird kein thema ausgeblendet. das geht bis hin“ – wie formuliert wor- den ist – „zur situation der men- schenrechte.“ da kann ich nur sa- gen: respekt, wenn man so etwas öffentlich formuliert – und weiß, dass dies im zweifel auch erdogan hört –, weil man weiß, dass man diese aufgabe anpacken muss. auch dafür wünschen wir viel er- folg. es ist aber nicht nur eine große herausforderung in europa, son- dern es ist auch eine große he- rausforderung in unserem land. darüber ist schon mehrfach ge- sprochen worden, und darüber werden wir auch beim nächsten tagesordnungspunkt sprechen, bei dem es um das asylpaket geht. ich bin froh, dass wir diese vereinba- rungen haben treffen können, auch mit den bundesländern. bei manchem, das wir jetzt er- reicht haben, haben wir uns vor ei- nigen wochen noch gar nicht vor- stellen können, dass es erreicht werden könnte. deshalb kann ich nur sagen: wir sind handlungsfä- hig – ein entsprechendes signal geben wir auch –, aber wir ver- schließen uns auch nicht den fra- gen der kommunen und der men- schen. wir reden mit den men- schen und den vertretern der kommunen über das, was getan werden muss. beispielsweise haben wir von der cdu/csu-bundestagsfraktion für heute nachmittag die landräte sowie die oberbürgermeister der kreisfreien städte eingeladen – un- abhängig von der parteizugehörig- keit. weit über 200 werden da sein. wir werden mit ihnen reden und ihnen sagen, was wir jetzt auf den weg bringen. manche forde- rung, manche kritische anmer- kung ist zu einem zeitpunkt ge- macht worden, als dieses paket noch gar nicht verabschiedet war und es natürlich auch noch nicht wirken konnte. darüber werden wir mit den menschen reden. ich finde, es ist notwendig, dass man mit den leuten redet und ihnen auch sagt: das und das haben wir vor. – wir dürfen die katastro- phenstimmung nicht immer wei- ter verstärken, sondern müssen sa- gen: wir haben möglichkeiten, zu handeln, um die dinge zu verbes- sern. dies, meine sehr verehrten da- men und herren, liebe kollegin- nen und kollegen – da gebe ich ihnen recht –, ist wichtig, damit so sachen wie die radikalisierung bei pegida nicht noch weiteren zulauf bekommen. ich teile die kritik. was dort geschehen ist, geht über- haupt nicht. galgen zu zeigen, schilder dranzuhängen, das ist in einer demokratie unwürdig, liebe kolleginnen und kollegen. aber man darf auf keinem auge blind sein. ich fand auch nicht in ord- nung, was die ttip-gegner ge- macht haben. eine guillotine auf- zubauen, das ist um kein haar besser, als einen galgen zu zeigen. beides geht nicht. beides muss auch klar angesprochen werden. ich bin einigermaßen überrascht und auch ohne verständnis, wenn ich von den ganzen dingen höre, die mit dem world food program- me und dem unhcr zu tun ha- ben. wie viele andere habe ich flüchtlingslager im nahen und mittleren osten besucht und mir dort ein bild verschafft. dabei hat- te ich eindrückliche begegnungen mit menschen, die aus dem süden syriens kamen, also nicht aus der gegend um aleppo herum, mit einfachen menschen, die mir mit- tels dolmetscher gesagt haben: wir sind fellachen, kleine bauern. wir können nicht lesen, wir kön- nen nicht schreiben. deswegen glauben wir nicht daran, dass eine zukunft in europa für uns einfach sein würde. wir möchten gerne wieder in unser land, nach syrien zurück, wenn dort der bürgerkrieg zu ende ist. deswegen sind wir hier an der grenze zu syrien – in jordanien beispielsweise. wenn diese menschen aber nun erfahren, dass ihnen die rationen für essen und die mittel, die not- wendig sind, um das tägliche le- ben zu fristen, von 36 dollar auf 16, 15 und dann auf unter 10 dol- lar gekürzt werden, machen sie sich natürlich auch gedanken, ob sie es unter diesen umständen drei jahre aushalten können oder nicht. wenn man also etwas als skandal bezeichnen kann, dann ist das ein skandal, was da in den flüchtlingslagern passiert. deswegen erwarte ich, frau bun- deskanzlerin, dass auch das heute abend im europäischen rat ange- sprochen wird und die regierun- gen einmal nachfassen, wann das geld nun zur verfügung gestellt worden ist. frau wagenknecht, sie haben kritisiert, dass man nur 1 milliarde euro gebe. ich will ihnen dazu einmal sagen: „sie müssen genau hinhören“, und sollten nicht nach dem motto verfahren: ideologisch höre ich das, was ich will. – es ist ausdrücklich gesagt worden: das geld, was nötig ist, um ordentliche existenzen für die flüchtlinge zu sichern, wird auch gegeben. es bleibt nicht bei der 1 milliarde, wenn sich herausstellen sollte, dass mehr nötig ist. das ma- chen wir dann schon. aber ich will wissen, warum es so lange braucht, bis das geld an- kommt. wenn die eu geld gege- ben hat – darunter 100 millionen euro von deutschland –, jetzt 350 millionen euro und dann 1 milli- arde euro, warum braucht es dann so lange, bis das geld ankommt? dazu kann ich nur sagen: neben der konkreten aufgabe, die wir hier haben, ist natürlich die be- kämpfung von fluchtursachen ei- ne wichtige aufgabe. es wird aber nicht möglich sein, in kurzer zeit alle fluchtursachen zu beseitigen. aber eine fluchtursache für die menschen in den flüchtlingsla- gern ist auf jeden fall dann gege- ben, wenn sie den eindruck ha- ben, mit ihnen werde nicht an- ständig umgegangen. hier kann man schnell abhilfe schaffen; das kann schon morgen geschehen, liebe kolleginnen und kollegen. und das erwarten wir auch. wir haben mit dem paket, das nachher beraten und verabschie- det wird, gezeigt, dass wir in die- sem land, wenn die aufgaben groß sind, auch verantwortlich handeln können. wahrscheinlich ist es schon so, kollege opper- mann, dass man, wenn man vor einer bestimmten aufgabe steht, auch spürt, welche verantwortung man hat. und deswegen, weil sie die verantwortung spüren, sind grüne oberbürgermeister in ba- den-württemberg und ein grüner ministerpräsident bei diesem pa- ket dabei. die grünen hier im bundestag sind in der opposition. okay. ich erinnere mich aber noch sehr gut daran, dass wir als union, als wir in der opposition waren und es um große aufgaben in der außenpolitik ging, gesagt haben: da machen wir mit. auch wenn die spd und die grünen regieren, machen wir da mit, um zu zeigen, dass wir zusammenstehen. – das hätte ich eigentlich in dieser situa- tion von ihnen erwartet. vielleicht sind ja meine infor- mationen nicht ganz richtig. des- wegen will ich mich korrigieren und sagen: das erwarte ich von ih- nen. es steht viel auf dem spiel: dass sich europa in einer schwieri- gen zeit als handlungsfähig er- weist. (beifall bei der cdu/csu sowie bei abgeordneten der spd) ©dbt/achimmelde dies ist eine gekürzte version der de- batte. es sprachen außerdem noch die abgeordneten norbert spinrath (spd), hans-peter friedrich (cdu/ csu), manuel sarrazin (b90/die grü- nen), gunther krichbaum (cdu/csu) und thorsten frei (cdu/csu).