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rückzug vom abzug rückzug vom abzug afghanistan bundestag beschließt gegen ursprüngliche pläne die ausweitung des bundeswehreinsatzes d as fanal verbindet sich mit dem namen kundus: dass die taliban ende septem- ber die provinzhauptstadt im norden für einige tage überrennen konnten, hat nicht nur das vertrauen in die afghanische armee erschüttert. geschwunden ist auch die zuversicht westlicher politiker von washing- ton bis berlin, dass man die ausländischen truppen nach nunmehr 14 jahren schritt für schritt zurückholen könne. vom abzug ist keine rede mehr. der bundestag hat am vergangenen don- nerstag mit großer mehrheit beschlossen, die militärische präsenz in afghanistan wieder zu verstärken (18/6743, 18/6946). damit er- höht sich die zahl der einzusetzenden bun- deswehrsoldaten im rahmen der nato-aus- bildungs-, beratungs- und unterstützungs- mission „resolute support“ von bisher 850 auf bis zu 980. die bundeswehr bleibt entge- gen den ursprünglichen plänen auch „in der fläche“, namentlich im norden, präsent, statt sich nur noch auf beratung und ausbil- dung in ministerien und stäben in kabul zu konzentrieren. zudem soll die bundeswehr afghanische truppen bei ihren einsätzen be- gleiten dürfen – ein umstand, den linke und grüne bereits als schritt in richtung kampfeinsatz werten oder, wie die grünen- abgeordnete agnieszka brugger, als „gefähr- lichen rutschbahneffekt“ kritisieren. aus sicht der koalition ist die ausweitung von „resolute support“ richtig und notwen- dig, um bisher erreichtes nicht zu gefährden und all jene, „die am friedlichen aufbau des landes interessiert sind, nicht im stich zu lassen“, wie es der spd-abgeordnete lars klingbeil formulierte. sein fraktionskollege niels annen sah „keinen grund zur freude, weil sich afghanistan nicht so entwickelt hat, wie wir das erhofft haben“. allerdings sei es eben auch keine option, fortschritte zu ignorieren oder gar das land ganz seinem schicksal zu überlassen. gerade die junge generation werde nicht akzeptieren, dass af- ghanistan „in das mittelalter der taliban- herrschaft zurückkehrt“, sagte annen. erwartungen verteidigungsministerin ur- sula von der leyen (cdu) nannte 2015 ein „hartes jahr für afghanistan“. die ankündi- gung der ausländischen truppen, sich aus der fläche zurückzuziehen, habe die taliban ermutigt, die afghanische armee „teilweise entmutigt“. es gehe nun darum, die „reine orientierung an zeitlinien“ zu korrigieren und stattdessen die militärische präsenz an den fortschritten zu bemessen. der einsatz sei zudem kein „blankoscheck“, sondern mit klaren erwartungen an die afghanische re- gierung verbunden, endlich wichtige refor- men – vor allem wirtschaftsreformen – an- zugehen. „wir dürfen in der wirtschaftlichen aufbauarbeit und in der entwicklungszu- sammenarbeit in afghanistan nicht nachlas- sen, gerade weil wir uns militärisch weiter zurückziehen und nur noch im hintergrund agieren“, sagte von der leyen. es könne nicht sein, dass deutschland die bundeswehr schicke, „um zu stabilisieren und schritt für schritt die ei- genständigkeit afghanistans wiederherzustellen, und gleichzeitig die ausgebildeten und wohlhabenden afgha- nen das land verlassen“. christine buchholz (die lin- ke) bezeichnete „den nato- geführten krieg in afghanis- tan“ als gescheitert. der ein- satz zeige, dass sich frieden und demokratie nicht von außen erzwingen ließen. statt dieses scheitern einzugestehen, entsende die bundesregierung erneut mehr soldaten. die tatsache, dass viele menschen aus afghanistan fliehen (siehe text unten), zeige, dass sie die hoffnung auf frieden und eine sichere zukunft verloren hätten. es sei zynisch, wenn innenminister thomas de maizière (cdu) argumentiere, dass deutsche soldaten afghanistan sicherer machten und man deshalb erwarten könne, dass die af- ghanen im land blieben, sagte buchholz. agnieszka brugger (grünen) lenkte den blick auf positive entwicklungen wie den zugang zu bildung insbesondere für mädchen. „diesen fort- schritt können auch rück- wärtsgewandte taliban nicht mehr zerstören.“ der 14 jahre währende einsatz zeige aber, dass es nicht ge- lungen sei, die taliban mi- litärisch zu besiegen. wie lange die bundeswehr blei- be und anhand welcher kriterien sie eines tages vollständig abziehe – da- rauf gebe die bundesregie- rung keine antwort und „diese unklarheit birgt gefahren für die zu- kunft“. hinzu komme, dass die politischen akteure in kabul „das alte spiel der macht- kämpfe, der klientelpolitik und der korrupti- on weiter“ treiben würden, statt endlich ei- nen besseren staat aufzubauen. „wie kann unter diesen bedingungen ihr militärisches engagement zum erfolg führen?“, fragte brugger. jürgen hardt (cdu) nannte es „klug und richtig“ vom zeitplan abzuweichen und vom rückzug aus der fläche abzusehen. die si- tuation sei nach wie vor nicht so, „dass wir auf diesen einsatz verzichten können“, wenngleich auch zur kenntnis genommen werden müsse, dass es in vielen regionen durchaus relativ stabile verhältnisse gebe. al- lein die tatsache, dass in den vergangenen jahren hunderttausende afghanen wieder in ihre heimat zurückgekehrt seien, spreche für die erfolge des militärischen engagements. hardt begrüßte die einigung der innenmi- nister der bundesländer, die entscheidung, generell niemanden nach afghanistan zu- rückzuführen, zugunsten einer individuellen prüfung aufzuheben. „das halte ich für eine logische konsequenz unserer anstrengungen in afghanistan.“ in diesem punkt scheint allerdings zwischen union und spd nicht unbedingt einmütig- keit zu bestehen: die vorstellung, man kön- ne jetzt im großen rahmen rückführungen organisieren, halte er „auch nach den lage- berichten unserer eigenen botschaft in kabul für unrealistisch“, sagte sozialdemokrat an- nen. alexander heinrich t friedenstauben als wandmalerei an einem schutzwall aus beton im regierungsviertel in kabul © picture-alliance/dpa editorial mit wacher begleitung von jörg biallas was in der außenpolitik heute richtig ist, kann morgen falsch sein – und umgekehrt. zumal in krisenregionen ist es nahezu unmöglich, politi- sche zustände langfristig zu prognostizieren. zu instabil, zu anfällig sind häufig mühsam aufgebaute staatliche strukturen. binnen ver- gleichsweise kurzer zeit verändern sich machtverhältnisse und damit die einflussfak- toren auf die zukunft des landes. so war und ist es auch in afghanistan. jetzt, das hat der bundestag in der vergangenen woche nach kontroverser debatte beschlos- sen, sollen dorthin wieder mehr deutsche sol- daten geschickt werden. das klingt inkonsequent. ein alter fehler, der abermals gemacht werde, kritisieren deshalb auch die gegner dieses einsatzes. nein, not- wendige hilfe, um erreichtes nicht vollends zu gefährden, kontern die befürworter. immerhin habe niemand vorhersehen können, wie sich das vakuum entwickelt, das nach dem rück- zug der bundeswehr entstanden war. so viel steht fest: zum guten haben sich die dinge in afghanistan tatsächlich nicht entwi- ckelt. die protagonisten der radikal-islami- schen lehre sind wieder aus dem untergrund hervorgekrochen, in den sie die westlichen truppen gezwungen hatten. die hoffnung, we- nigstens in ansätzen ein von demokratisch- modernen werten geprägtes und mithin fried- liches zusammenleben der menschen vermit- telt zu haben, ist vielerorts im wiedererstarken der alten machthaber zerstoben. das ziel dieser einsätze war und ist vor allem auch der aufbau von ordnungsstrukturen im land, die eines tages ohne fremde hilfe funk- tionieren. dass das in einer nation, in der vet- ternwirtschaft und korruption nicht als ver- werflich, sondern als ganz normal gelten, nur schwer zu erreichen ist, liegt auf der hand. trotzdem sehnen sich die meisten afghanen nach frieden, gewaltlosigkeit und einer gesi- cherten zukunft für ihre kinder in der heimat. daraus erwächst verantwortung. auch für den westen. vor dem hintergrund der flüchtlinge aus af- ghanistan, die immer noch in scharen nach europa drängen, hat deutschland ein handfes- tes interesse an stabilen verhältnisse am hin- dukusch. deshalb mag ein erneutes militäri- sches engagement dort zu rechtfertigen sein. jedenfalls dann, wenn der bundeswehr-ein- satz von der politik wach und kritisch begleitet wird. »das jahr 2015 ist ein hartes jahr für afghanistan gewesen.« verteidigungsministerin ursula von der leyen (cdu) kopf der woche am ziel seines engagements jan philipp albrecht das schönste geburts- tagsgeschenk kam für den grünen-europaab- geordneten jan philipp albrecht, der am sonntag 33 jahre alt wurde, vergangene woche aus brüssel: nach vier langen jahren gerangels zwischen eu-parla- ment und minister- rat wurde endlich die einigung über die neue daten- schutz-grundverord- nung der eu verkün- det. albrecht, der 2009 als damals jüngster deutscher abgeordneter ins europaparlament eingezogen war, ist der berichterstatter bei diesem thema für die eu-abgeordneten. bür- gerrechte sind für den datenschutzexperten schon lange ein thema. und im zuge der auf- merksamkeit für das thema nach den snowden-enthüllungen hat es der nieder- sachse mittlerweile zum filmstar geschafft: in dem jetzt angelaufenen kinofilm „democra- cy – im rausch der daten“ steht jan philipp albrecht im mittelpunkt. kru t ©picture-alliance/dpa zahl der woche 3.999 änderungswünsche der europaparla- ments-fraktionen gab es in den insgesamt vierjährigen beratungen zur neuen daten- schutz-grundverordnung der eu. das war ein neuer parlamentsrekord. zitat der woche »eines der wichtigsten eu-reform- projekte« heiko maas (spd), bundesjustizminister, zur einigung vergangene woche in brüssel über die neue datenschutz-grundverord- nung der europäischen union in dieser woche innenpolitik oppositionsvorstoß für mehr patientensicherheit seite 4 medizinprodukte wirtschaft und finanzen koalition will erleichterung für den mittelstand seite 7 vergaberecht europa und die welt kanzlerin merkel gibt regierungserklärung zum europäischen rat ab seite 10 eu kehrseite beim weihnachtsrätsel gibt es viele preise zu gewinnen seite 14 ausschreiben »bekämpfen sie fluchtursachen, nicht flüchtlinge« fluchtprävention opposition fordert stopp von rüstungsexporten und fairen handel. sorge um lage in afghanistan f ast eine million menschen kamen nach angaben des un-flüchtlings- hilfswerks (unhcr) in diesem jahr über das mittelmeer nach europa. auf der liste der herkunftsländer stand sy- rien an erster stelle, gefolgt von afghanis- tan, irak und eritrea. besonders afghanistan bereitet beobach- tern sorge. derzeit verlassen pro monat bis zu 100.000 menschen das land, nur die wenigsten von ihnen kommen nach deutschland. doch das könnte sich bald ändern. der afghanistan-experte reinhard erös beschrieb vor einigen wochen in der ard-tagesschau eine sich dramatisch ver- schlechternde situation im land. zwei millionen menschen säßen in der haupt- stadt kabul und anderswo auf gepackten koffern. „in afghanistan sind in den letz- ten monaten mehr zivilisten ums leben gekommen als in den vergangenen 14 jah- ren“, sagte erös. warum das so ist, erklärte vergangene woche der afghanistan-beauf- tragte für humanitäres der vereinten na- tionen, mark bowden: die zahl der von den taliban eingenommenen distriktzen- tren sei in diesem jahr sprunghaft angestie- gen, sagte er in new york. „23 wurden in diesem jahr von den taliban erobert. 2014 waren es drei.“ auch wenn diese gebietsge- winne, wie im september in der provinz- hauptstadt kundus, oft nur kurzfristig sei- en. „sie senden schockwellen in die bevöl- kerung“, warnte bowden. die bundesregierung will dennoch im ein- zelfall über eine rückführung von asylbe- werbern aus afghanistan entscheiden. es gebe gebiete, in denen sich ein „weitge- hend normales leben“ abspiele, erklärte verteidigungsministerin ursula von der leyen (cdu). doch diese haltung stößt bei der opposition im bundestag auf mas- sive kritik. in der debatte über zwei anträ- ge (18/7046, 18/7039) von grünen und linken, in denen diese ein größeres enga- gement bei der bekämpfung von fluchtur- sachen fordern, warf claudia roth (grüne) der koalition vor, abschottung zur richt- schnur ihres politischen handelns zu ma- chen. „dann ist es auch nur logisch, wenn mit dem etikett sicherer herkunftstaaten realität politisch umdefiniert wird, sogar in ländern wie afghanistan, der türkei oder dem kosovo“, urteilte sie. ihr appell: „bekämpfen sie fluchtursachen, nicht flüchtlinge!“ sevim dagdelen (die linke) sagte, die ab- schiebung von kriegsflüchtlingen nach af- ghanistan oder von roma in den kosovo würde die probleme nicht lösen. durch ih- re „militärische außenpolitik“ schaffe die bundesregierung jeden tag nur neue fluchtursachen, urteilte dagdelen, etwa, indem sie weiter waffen exportiere. die forderungen beider fraktionen: rüstungs- exporte stoppen, legale einreisemöglich- keiten nach europa schaffen, fair wirt- schaften und handeln. die linken wollen darüber hinaus, dass sich die bundesregierung nicht länger an „regime-change-strategien“ und nato-mi- litärinterventionen beteiligt. dazu sagte roderich kiesewetter (cdu): „wo wären wir denn, wenn wir ihrem antrag mit blick auf afghanistan folgen würden? dann würden die taliban immer noch regieren!“ er betonte zudem, das auswärtige amt ha- be sein engagement bei der flucht- und krisenprävention bereits deutlich verstärkt. ute finckh-krämer (spd) sagte, die welt- gemeinschaft müsse waffenstillstands- und friedensprozesse unterstützen und deut- lich mehr humanitäre hilfe leisten. „mit- telfristig“, urteilte sie, „brauchen wir aber einen umfassenden neuansatz für die re- gionen, aus denen die flüchtlinge stam- men.“ johanna metz t weiterführende links zu den themen dieser seite finden sie in unserem e-paper mit der beilage das parlament frankfurter societäts-druckerei gmbh 60268 frankfurt am main 100.000 menschen verlassen derzeit monat für monat afghanistan. ©picture-alliance/dpa thema: bundeswehr in afghanistan parlament beschließt neues mandat seite 1-3 die neue weltordnung chaotische zustände verstärken den wunsch nach stabilen strukturen seite 9 die neue buchwelt rezensionen zur literatur über aktuelle politische fragen seite 12, 13 berlin, montag 21. dezember 2015 www.das-parlament.de 65. jahrgang | nr. 52 | preis 1 € | a 5544 4 194560 401004 1 5 2 5 2 4194560401004 15252