"deutsche identität" auschwitz macht einsam jugendbegegnung 2015 78 junge menschen fahren auf einladung des bundestages zum ehemaligen vernichtungslager. eindrücke einer reise zu einem ort des grauens es schneit. die landschaft wird langsam weiß. eine gruppe jugendlicher, teilnehmer der jugendbegegnung 2015 des deutschen bundestags, läuft wie verloren durch dieses winterbild. vorbei an stacheldrahtzaun. vor- bei an baracken. vorbei an resten von bara- cken. sie gehen mitten durch das ehemalige nationalsozialistische konzentrations- und vernichtungslager auschwitz-birkenau. in den stunden davor sahen sie erst das stammlager, dann das größere lager birke- nau. sie sahen den in eisen gegossenen zy- nismus „arbeit macht frei“ am eingangs- tor; sie sahen die baracken, in denen hun- derte menschen auf engsten raum einge- pfercht wurden; sie sahen die rampe, an der ss-ärzte verschleppte juden in grup- pen unterteilten: jene, die sie sofort um- brachten, und jene, deren noch verbliebe- ne kraft und energie sie noch ausnutzen wollten, um sie dann durch zwangsarbeit oder durch gas umzubringen; die jugend- lichen sahen, was von den todgeweihten blieb: die abgeschorenen haare, puppen und spielzeug , die koffer. inmitten dieser hölle auf erden sahen sie auch ein stück normalität: ausgestellte familienfotos, ur- laubsschnappschüsse, kinderbilder, die die ankommenden bei sich trugen. zum schluss sahen sie einen teich, in den die asche jener geworfen wurde, die vorher vergast und verbrannt worden waren. dort hielten sie inne und schwiegen für die mehr als eine million opfer, die in ausch- witz von deutschen umgebracht wurden. sie schwiegen für die juden, für die sinti und roma, für die homosexuellen, für die zeugen jehovas, für die politischen dissi- denten und widerstandskämpfer, für die sowjetischen kriegsgefangenen und für all jene, denen die nazis ihr leben nicht gönnten. die führung endet, das schweigen bleibt. auf dem weg zurück zu den bussen reißt die gruppe auseinander. gesprochen wird nicht. etwas müde und erschöpft, traurig, überwältigt, in gedanken versunken trot- ten sie durch diesen unheiligen ort. ausch- witz macht einsam. ortswechsel, etwas später am tag. die ju- gendlichen sitzen in einem arbeitsraum der internationalen jugendbegegnungsstät- te in o´swi˛ecim, nicht weit von den lagern entfernt. stühle sind in einem kreis aufge- stellt. 90 minuten haben die jugendlichen jetzt zeit, über das gesehene, das gefühlte, das erfahrene zu sprechen. das schweigen bricht langsam, immer wieder lange pau- sen. die gefühlslage: bedrückt. leer, ausge- brannt seien sie, sagen die jugendlichen. tränen fließen, die erschütterung sitzt bei vielen tief. schlüsse zu ziehen, für die meisten ist das noch zu früh. sie brauchen mehr zeit. andere versuchen es: nie wie- der! nie wieder wegschauen bei ausgren- zung. nie wieder wegschauen bei rassis- mus! flüchtlingspolitik wird thematisiert. sie hat überlebt der nächste tag, im jü- dischen museum galizien in krakau sitzt zofia posmysz kerzengerade auf ihrem stuhl vor den 78 jugendlichen. frau pos- mysz hat auschwitz überlebt. die 91-jähri- ge hat auschwitz erfahren. anstatt sich mit dem bisschen bildung, was die deutschen besatzer der polnischen bevölkerung zuge- stehen wollten, abzufinden, lernte sie heimlich mit anderen weiter. sie wurde er- wischt, von der gestapo gefoltert, landete in auschwitz. die junge frau überlebte strafkompanie, typhus und das lager. ihr glaube gab ihr halt, sie wollte nicht an ei- nem ort sterben, wo sie die sakramente nicht empfangen hätte können. andere hätten ihren glauben verloren, sagt sie. nach dem krieg besuchte sie mit ihrer mutter das lager. die mutter war scho- ckiert: „du musst diesen ort vergessen!“ das tut sie nicht. sie schrieb bücher und spricht mit jugendlichen über ihre erfah- rungen. frau posmysz sagt, sie habe viel darüber nachgedacht, zu welchen taten menschen fähig sind. sie sei glücklich, dass junge menschen ein stück der wahrheit er- fahren wollen. sie mahnt ihre zuhörer: lasst euch nicht von ideologien blenden! das schlimmste erneuter ortswechsel, ei- nen tag und einen rückflug nach berlin später. im europasaal des bundestags sit- zen die jugendlichen zusammen mit ge- ballter politikprominenz: bundespräsident joachim gauck und bundestagspräsident norbert lammert (cdu) haben sich zeit genommen, um zu diskutieren. zeit genommen hat sich auch marian turski. auch er, der polnische jude, hat auschwitz überlebt. was das schlimmste an auschwitz gewesen sei, fragt der 88-jäh- rige rhetorisch. nicht der hunger, den sich ein satter mensch niemals vorstellen kön- ne. nicht die „wohnbedingungen“; nicht die kälte; nicht die läuse. „das schlimms- te war die demütigung, dass man nicht mensch war“, sagt herr turski. daran sol- len die jugendlichen denken, wenn sie den staffelstab der erinnerung übernehmen. nicht sein eigenes leid solle im zentrum des erinnerns stehen. „denkt nur daran: schlimmer als physischer schmerz, als das töten, ist die erniedrigung, die demüti- gung.“ wenn heute noch jemand andere erniedrige, ob nun einen juden, christen, moslem, atheisten, russen, israeli, palästi- nenser, türken oder bosnier, „so ist das so, als würde er auschwitz wieder aufbauen“, sagt turski. da läuft die veranstaltung erst 14 minuten, und eigentlich ist alles gesagt. sören christian reimer t weiterführende links zu den themen dieser seite finden sie in unserem e-paper mitten in auschwitz-birkenau © deutscher bundestag/von saldern bundespräsident joachim gauck (rechts oben) hielt vergangene woche die hauptrede bei der gedenkveranstaltung des bundestages für die ns-opfer. © picture-alliance/zumapress.com »deutsche identität« gedenken aus der vergangenheit lernen: auf der gedenkveranstaltung des bundestages für die opfer des nationalsozialismus wirbt bundespräsident joachim gauck für mitmenschlichkeit und eine solidarische gesellschaft m anche sätze können sich tief in das kol- lektive gedächtnis eines landes einprä- gen. das gilt etwa für den satz „der 8. mai war ein tag der befreiung“, den 1985 der damalige bundespräsident ri- chard von weizsäcker in seiner rede zum 40. jahrestag des endes des zweiten welt- kriegs sagte. vergangene woche, 70 jahre nach der be- freiung des konzentrations- und vernich- tungslagers auschwitz durch die rote ar- mee, sagte das heutige staatsoberhaupt joa- chim gauck bei der gedenkveranstaltung des bundestages für die opfer des national- sozialismus auch so einen satz, der noch vielfach zitiert werden dürfte: „es gibt keine deutsche identität ohne auschwitz.“ er er- teilte damit nicht nur jedweden „schluss- strich“-rufen eine absage. dass der von deutschen in deutschem namen begangene völkermord mit auschwitz als „symbol“ nicht von diesem namen abzukoppeln ist, bündelt dieser satz ebenso wie die daraus folgende verantwortung. „die erinnerung an den holocaust bleibt eine sache aller bürger, die in deutschland leben. er gehört zur geschichte dieses landes“, fügte der präsident hinzu. und: „hier ist der schre- cken der vergangenheit näher und die ver- antwortung für gegenwart und zukunft größer und verpflichtender als anderswo.“ doch wie sieht diese verantwortung aus? der bundespräsident verwies auf den auschwitz-überlebenden und späteren richter am internationalen gerichtshof, thomas buergenthal, der einmal gefragt habe, was die losung „nie wieder“ – das „zentrale versprechen nach auschwitz“ – wert sei angesichts der späteren völker- morde in kambodscha, in ruanda, in dar- fur. ergänzend nannte gauck das massaker in srebrenica sowie „heute syrien und irak“. auch wenn „hier die verbrechen nicht die dimension nationalsozialisti- schen mordens erreichten und erreichen“, sei es doch „schrecklich entmutigend (...), wenn die welt ,nie wieder‘ erkläre, aber ,die augen von dem nächsten genozid‘ verschließe“, zitierte der bundespräsident buergenthal, um nachzufragen: „sind wir denn bereit und fähig zur prävention, da- mit es gar nicht erst zu massenmorden kommt? sind wir überhaupt imstande, der- artige verbrechen zu beenden und sie zu ahnden? fehlt manchmal nicht auch der wille, sich einzusetzen gegen solche ver- brechen gegen die menschlichkeit?“ »innerer kompass« weil man nicht all- mächtig sei, „haben wir zu leben mit der bürde, das leben von menschen nicht im- mer und überall schützen zu können“, gab gauck eine antwort auf seine fragen. auch wenn sich nicht „das ,nie wieder‘ gänzlich erfüllen“ werde, bleibe es „als moralisches gebot, als innerer kompass“ unverzicht- bar, fügte er hinzu. das streben nach ei- nem friedlichen und gerechten zusam- menleben von menschen und völkern sei „wohl die wichtigste richtschnur unseres handelns“. dann richtete der bundespräsident den blick auf das einwanderungsland deutsch- land. „der holocaust als menschheitsver- brechen – diesen weg der annäherung ha- ben auch eingewanderte, selbst wenn sie sich nicht oder noch nicht als deutsche fühlen“, sagte er. dieser weg sei nicht im- mer leicht. manche einwanderer kämen aus ländern, in denen antisemitismus und hass auf israel verbreitet sind. „wo derarti- ge haltungen bei einwanderern nachwir- ken und die wahrnehmung aktueller ereig- nisse bestimmen, haben wir ihnen beharr- lich die historische wahrheit zu vermitteln und sie auf die werte dieser gesellschaft zu verpflich- ten“, mahntedas staatsoberhaupt. alle, die deutschland ihr zuhause nennen, trügen verantwortung dafür, welchen weg das land ge- hen wird, unterstrich gauck. zugleich zitierte er eine junge frau aus einer einwandererfamilie mit den worten, sie habe keine deutschen vorfahren, werde aber deutsche nachfahren haben, die sie zur rechenschaft ziehen würden, „wenn heute ungerechtigkeiten und unmenschlichkeiten auf unserem boden ausgeübt werden“. hier sei, kon- statierte gauck, „jemand eingetreten in eine ver- antwortungsgemeinschaft, die nicht aus einer er- fahrungsgemeinschaft herrührt. aber wir finden uns wiederin einemgemeinsamenwillen.“ »moralische pflicht« so lange er lebe, werde er „darunter leiden, dass die deut- sche nation mit ihrer so achtenswerten kultur zu den ungeheuerlichsten mensch- heitsverbrechen fähig war“, bekannte gauck. gleichwohl könne man „nach den dunklen nächten der diktatur, nach schuld und scham und reue ein taghelles credo“ formulieren. „wir taten es, als wir dem recht seine gültigkeit und würde zu- rückgaben. wir taten es, als wir empathie mit den opfern entwickelten. und wir tun es heute, wenn wir uns jeder art von aus- grenzung und gewalt entgegenstellen und jenen, die vor verfolgung, krieg und terror zu uns flüchten, eine sichere heimstatt bie- ten.“ die „moralische pflicht“ erfülle sich nicht nur im erinnern, betonte der bun- despräsident und rief dazu auf, mit- menschlichkeit und die rechte jedes men- schen zu bewahren und zu schützen – ein auftrag, der sich aus dem erinnern ergebe. dies sage er „gerade in zeiten, in denen wir uns in deutschland erneut auf das mit- einander unterschiedlicher kulturen und religionen zu verständigen haben. die ge- meinschaft, in der wir alle leben wollen, wird nur dort gedeihen, wo die würde des einzelnen geachtet und wo solidarität ge- lebt wird.“ auch bundestagspräsident norbert lam- mert (cdu) forderte, „historische verant- wortung“ anzunehmen. er verwies zu beginn der ge- denkveranstaltung darauf, dass man in einer welt le- be, „die uns tagtäglich von neuem vor augen führt, was der mensch dem men- schen antun kann“. „wir sehen furchtbares leid, teils bestialische gewalt, und wir müssen uns fra- gen, wie wir ihr begegnen, wie wir mit den menschen umgehen, die dieser hölle entfliehen und schutz bei uns suchen“, sagte lammert. der tag des gedenkens an die ns-opfer erinnere an eine hoffnungslose zeit, könne aber „an- lass für hoffnung“ sein, „indem wir uns im bewusstsein unserer historischen ver- antwortung den drängenden humanitä- ren herausforderungen der gegenwart stellen“. der parlamentspräsident nannte auschwitz den „ort eines historisch beispiellosen, in- dustrialisierten völkermords“, der am 70. jahrestag der befreiung besonders ins zentrum der aufmerksamkeit rücke. darü- ber vergesse man aber nicht „das netz von lagern, das die nationalsozialisten über europa spannten, die enthemmte brutali- tät bei der unterwerfung großer teile des kontinents mit hinrichtungen, massener- schießungen, der einrichtung von ghettos und gnadenloser hungerblockade“. zu- gleich erinnerte lammert daran, dass die- sem „europaweiten ver- nichtungskrieg in deutsch- land bereits früh die schrittweise ausgrenzung eines teils der bevölke- rung“ vorausgegangen war – „für alle sichtbar, die se- hen wollten“. für die vergangenheit deutschlands seien die nachgeborenen nicht ver- antwortlich, wohl aber für den umgang mit ihr, mahnte der bundestagsprä- sident im plenum. der op- fer zu gedenken und die täter und ihre ta- ten zu benennen, sei eine bedingung, um „im staatlichen auftrag konzipierte und or- ganisierte verbrechen gegen die mensch- lichkeit nie wieder geschehen zu lassen – nirgendwo, an keinem platz der welt“. (die rede im wortlaut in der beilage „do- kumentation“) helmut stoltenberg t »wir müssen fragen, wie wir mit menschen umgehen, die schutz bei uns suchen.« norbert lammert (cdu) > stichwort kz auschwitz > völkermord der ab 1940 im besetzten südpolen errichtete lagerkomplex war das größte ns-konzentrations- und ver- nichtungslager, in dem rund 1,1 millio- nen menschen ermordet wurden, zu- meist juden aus zahlreichen europäi- schen ländern. > gedenken am 27. januar 1945 befreite die rote armee das kz auschwitz. 1996 proklamierte der damalige bundespräsi- dent roman herzog diesen jahrestag zum tag des gedenkens an die opfer des nationalsozialismus. das parlament - nr. 6 - 02. februar 2015 im blickpunkt 7 > stichwort jugendbegegnung 2015 > teilnehmer seit 1997 organisiert der deutsche bundestag zum „tag des gedenkens an die opfer des nationalsozialismus“ die jugendbegegnung. 2015 reisten 78 jugendliche aus deutschland, polen, frankreich und anderen ländern nach o´swi˛ecim. > programm themen der jugendbegegnung waren auschwitz und der holocaust sowie die deutsche besatzung in polen. auf dem programm standen unter anderem ein besuch der lager, ein zeitzeugengespräch und die teilnahme an der gedenkstunde im bundestag. jugendbegegnung 201578 junge menschen fahren auf einladung des bundestages zum ehemaligen vernichtungslager. eindrücke einer reise zu einem ort des grauens