debattendokumentation 6 debattendokumentation das parlament - nr. 12-13 - 21. märz 2016 volker kauder, cdu/csu: klare kante bei unseren positionen zeigen volker kauder (*1949) wahlkreis rottweil – tuttlingen w ieder einmal, so könn- te man fragen, ein neu- er gipfel, und was wird das ergebnis dieses gipfels sein? aber wenn wir uns die letzten gipfel anschauen, dann sehen wir, dass wir immer vorangekommen sind. wir haben in europa schon immer erlebt, dass es manchmal etwas langsam und schwierig ge- gangen ist, dass wir aber dann doch zu ergebnissen gekommen sind. ja, auch mir geht es bei der frage der europäischen flücht- lingspolitik zu langsam. deshalb ist es aber doch richtig, dass wir diejenige unterstützen und derje- nigen erfolg wünschen, der es auch zu langsam geht, nämlich unserer bundeskanzlerin. ja, das gesicht, das europa im augenblick in griechenland zeigt, ist nicht das gesicht von europa, das ich mir in der ganzen welt vorstelle. das, was wir in grie- chenland erleben, ist aber das er- gebnis davon, dass europa nicht schnell genug gehandelt hat, und das ist das ergebnis ausschließlich nationaler maßnahmen. das zeigt, dass wir eine wirkli- che lösung nur hinbekommen, wenn wir europäisch handeln. jetzt, herr kollege hofreiter: wir müssen schon die wirklich- keit richtig darstellen. ein teil des protestpotenzials, das sich auch – nicht nur, aber auch – in stimmen für die afd zeigt, hängt auch da- mit zusammen, dass wir die din- ge, wie sie wirklich sind, manch- mal nicht so richtig bezeichnen. wenn sie jetzt versuchen, die si- tuation in griechenland mit der damals in ungarn zu vergleichen, dann ist das eben nicht fair. die ungarn haben die flücht- linge auf die straße geschickt, da- mit sie woanders hingehen; aber in griechenland gibt es plätze, wohin die flüchtlinge gehen kön- nen. insofern besteht ein unter- schied, und das sollten wir auch sagen. richtig ist aber auch – das sieht man an diesem beispiel –, dass es mit europäischen werten nichts zu tun hat, wenn wir denjenigen im stich lassen, der jetzt die ganze last tragen soll, nach dem motto: es interessiert uns nicht, was die griechen zu tun haben. – das geht auf gar keinen fall. es bringt europa an den rand des zerfalls, wenn so gedacht wird. wir wären dann nicht mehr füreinander da, und wir würden uns dann nicht mehr in schwierigen situationen helfen. das wäre nicht das europa, wie ich es mir vorstelle. dafür kämpft die bundeskanzlerin auch auf dem bevorstehenden gipfel. ich wünsche ihr dabei viel er- folg. es wird – auch dies ist klar – ohne den beitrag der türkei nicht gehen. deswegen ist es richtig, dass wir mit der türkei darüber sprechen, welchen beitrag sie leis- ten kann, und dass wir der türkei auch klar sagen, wie es die bun- deskanzlerin gesagt hat: das, was ihr macht, ist nicht nur etwas, was ihr für uns in europa tut, sondern es ist auch etwas, was die türkei für sich selber tut. – sie hat also ein eigeninteresse. trotzdem ist klar, dass wir mit der türkei auch darüber reden müssen, welche wünsche und vorstellungen sie hat. ich bin froh darüber, herr kol- lege hofreiter, dass sie gesagt ha- ben: die finanziellen leistungen an die türkei sind richtig, und sie sind auch notwendig, um dort mitzuhelfen, zu stabilisieren und damit fluchtursachen zu reduzie- ren. jetzt hat die türkei noch eine reihe von anderen wünschen. man muss mit der türkei darüber reden, was gehen kann und was nicht gehen kann. ich gebe ihnen in einem punkt recht – ich wäre der letzte, der das bestreiten würde; schließlich habe ich es bereits mehrfach gesagt –: wir müssen mit der türkei reden – ich habe nie etwas anderes ge- sagt –, obwohl sich mir dabei manche fragen im hinblick auf meinen einsatz für religionsfrei- heit und verfolgte christen stellen. wir, die unionsfraktion, haben der bundeskanzlerin immer ge- sagt: wir wollen, dass das nächste kapitel, das bei den verhandlun- gen mit der türkei eröffnet wird, menschenrechte, rechtsstaat und religionsfreiheit und kein anderes thema betrifft. wenn das jetzt ge- schieht, dann werde ich mir die eine oder andere diskussion in der türkei und mit der türkei not- wendigerweise leisten. auch das ist klar. aber das heißt doch nicht, dass wir jetzt überhaupt nicht mit der türkei darüber sprechen, wie sie uns helfen kann, bei diesem wichtigen thema voranzukom- men. wir müssen lernen, dass wir mit ländern, bei denen wir glauben, dass sich im rechtsstaatsdialog mit ihnen einiges verändern muss, reden, dass wir klare kante zeigen, wenn es um unsere positionen geht, dass wir sie aber auch dort mitnehmen, wo sie beiträge im gemeinsamen interesse leisten müssen. es ist richtig, dass wir nicht von uns aus nach dem motto vorge- hen: jetzt steht der schnelle bei- tritt der türkei vor der tür. das entspricht nicht der wahrheit. es trüge zur verunsicherung in der bevölkerung bei und auch dazu, dass der eine oder andere sagt: dann suche ich mir ein ventil in einer partei wie der afd. deswe- gen müssen wir alle miteinander überlegen – auch in diesem ho- hen haus –, welchen beitrag wir durch unsere diskussionsbeiträge dazu leisten, dass menschen ver- unsichert werden und sich dann einen anderen weg suchen, statt bei den parteien zu bleiben, die für das wohl dieses landes mehr getan haben, als parteien wie die afd jemals tun werden. dazu trägt auch bei, dass wir, die wir in einer koalition sind, das tun, was wir vereinbart haben, und nicht nur ständig darüber re- den, was wir tun wollen. deswe- gen ist es besser, zunächst einmal miteinander zu sprechen, bevor man ein neues programm heraus- hustet. ich kann nur sagen: peter struck hat einmal zu mir gesagt: wenn du etwas heraushustest, oh- ne es vorher mit mir besprochen zu haben, dann kannst du das gleich in meine pfeife stopfen. deswegen kann ich nur raten, dass man sich als koalition nicht über das wochenende in wochen- endmagazinen mit neuen vor- schlägen überrascht, sondern viel- leicht vorher miteinander spricht. mit mir hat man auf jeden fall nicht gesprochen – um das einmal klar zu sagen. lieber kollege op- permann, das gilt natürlich wech- selseitig auch für die andere seite. das sage ich in beide richtungen. ich möchte darauf hinweisen, dass das deswegen schwierig ist, weil wir einen punkt – auch in den reden, die heute gehalten worden sind – völlig vernachläs- sigt bzw. gar nicht angesprochen haben. es geht doch jetzt nicht in erster linie darum, neue pakete zu schnüren, als ob wir bisher gar nichts getan hätten. vielmehr hat diese koalition im sozialen be- reich doch sehr viel auf den weg gebracht. bei dem einen waren wir nicht so fröhlich dabei, bei dem anderen aber schon. wir haben für 9 millionen müt- ter die mütterrente geschaffen. wir haben die rente mit 63 geschaf- fen. außerdem haben wir den mindestlohn eingeführt. insofern kann man doch nicht so tun, als ob man jetzt erst damit anfangen müsste, in diesem bereich etwas zu tun. machen wir uns doch nicht selbst kleiner, als wir wirk- lich sind, liebe kolleginnen und kollegen. jetzt kommt mein thema: wir diskutieren immer wieder darü- ber, wie es mit der rente weiter- geht und ob das rentenniveau in ordnung ist. dazu muss man die ganze wahrheit sagen. wir sind aktuell nicht bei einem rentenni- veau von 42 prozent angekom- men, wie immer wieder behauptet wird. wir werden auf diesem ni- veau gar nicht erst ankommen, wenn wir weiterhin wirtschaftlich stark bleiben. wirtschaftliche stär- ke und wachstum werden das rentenniveau nicht nach unten, sondern nach oben bringen. deswegen sage ich auch, dass wir in erster linie einen pakt für wachstum und innovation in die- sem land brauchen, meine sehr verehrten damen und herren. gestern ist die cebit eröffnet worden. wenn man sieht, was dort passiert – darüber wird heute gar nicht gesprochen –, kann ich nur sagen: es ist richtig, dass wir in infrastruktur investieren. wenn wir es nicht zügig angehen, dieses land von der struktur her fit zu machen für die neuen herausfor- derungen, dann werden wir kein einziges soziales problem mehr lösen, liebe kolleginnen und kol- legen. deswegen sind innovation und wachstum die entscheiden- den punkte. wir müssen die men- schen auch damit einmal kon- frontieren und ihnen sagen, dass wir das wollen. es ist mit blick auf die wahlergebnisse, die uns am vergangenen sonntag präsentiert worden sind, auch richtig, dass die flüchtlingsfrage wie ein katalysa- tor gewirkt hat. sie war nicht das einzige, was menschen dazu be- wogen hat, nicht mehr uns oder die parteien zu wählen, die sie bis- her gewählt haben, aber sie war ein katalysator, durch den vieles aufgebrochen ist. dabei geht es jetzt gar nicht um die benachtei- ligten. da sind vielmehr menschen auf einmal sauer darüber, dass seit längerer zeit die themen „innere sicherheit“ oder „einbruchskrimi- nalität“ überhaupt nicht richtig behandelt werden. dazu kann ich nur sagen: wir in der koalition hätten beim passiven einbruch- schutz auch mehr tun können; vielleicht können wir das noch nachholen. da glauben menschen, dass die bekämpfung von kriminalität in bestimmten regionen gar nicht mehr stattfindet. es ist doch dra- matisch, wenn wir in zeitungen am wochenende lesen müssen, dass es in dortmund, in berlin und überall viertel gibt, wo die polizei schon längst die waffen gestreckt hat und nichts mehr pas- siert. da kann ich nur sagen: es wäre wirklich kurzsichtig und würde kein einziges problem lösen, wenn wir glauben: ausschließlich das flüchtlingsthema hat die menschen zur afd gebracht. – das belegt die wahlanalyse hundert- prozentig nicht, meine sehr ver- ehrten kolleginnen und kollegen. wir sprechen ständig davon, herr hofreiter: es muss mehr für bildung und, und, und getan wer- den. so stimmt das aber nicht. wenn ich in mein heimatland schaue, dann muss ich sagen: es ist nicht das thema, mehr für bildung zu tun, sondern es geht darum, das falsche zu vermeiden und das richtige zu tun. das ist der entscheidende punkt. aber darüber diskutieren wir nicht hier im deutschen bundes- tag, sondern das muss in den län- dern stattfinden. ich wehre mich ein bisschen da- gegen, dass jedes problem, das in den ländern nicht richtig behan- delt wird, hier bei uns im bund abgeladen werden soll. so funk- tioniert föderalismus auf gar kei- nen fall. wir werden uns daran auf jeden fall nicht beteiligen. jetzt haben wir auf dem gipfel eine große aufgabe vor uns. ich glaube, dass mehr europäische länder erkannt haben, dass das, was sich im augenblick in grie- chenland abspielt, so nicht gehen kann, so nicht funktionieren kann. deswegen wünsche ich der bundeskanzlerin, dass sie mit ih- rer mission auf dem gipfel erfolg hat. ich will, dass europa ein menschliches gesicht zeigt und nicht das zeigt, was sich jetzt gera- de in griechenland abspielt. (beifall bei der cdu/csu sowie bei abgeordneten der spd) © dbt/achim melde dies ist eine gekürzte version der de- batte. es sprachen außerdem noch die abgeordneten eva högl (spd), se- vim dagdelen (die linke), gerda has- selfeldt (cdu/csu), norbert spinrath (spd), michael stübgen (cdu/csu), luise amtsberg (bündnis 90/die grü- nen) und matern von marschall (cdu/csu).