der fels in der brandung der papst als verbündeter missbrauchsskandal kirche wirbt für neues vertrauen anfang juni diesen jahres wurde ein apostolisches schreiben von papst fran- ziskus öffentlich, ein „motu proprio“. ein papier, das der papst ohne ersuchen durch seine kardinäle oder berater aufgesetzt hat. in diesem schreiben verordnet er eine änderung des kirchenrechts. es legt fest, dass nicht nur handlungen, sondern auch unterlassungen im zusammenhang mit pädophilie zur amtsenthebung führen können, auch wenn die geistlichen selbst keine „schwere moralische schuld“ tra- gen. die schuld müsse zwar eindeutig be- weisbar sein, so franziskus, aber die für den jeweiligen bischof zuständige kongre- gation kann künftig eine untersuchung gegen einen bischof einleiten, wenn es hinweise auf nachlässigkeit im umgang mit missbrauchsvorwürfen gibt. die end- gültige entscheidung steht jedoch dem papst zu. am 5. september 2016 tritt die regelung in kraft. und franziskus gibt an, er wolle le- diglich präzisieren, dass zu jetzt schon im kirchenrecht behandelten gravierenden fällen – etwa dem besitz von kinderporno- grafischem material – zusätzlich die vertu- schung einer tat mitgerechnet werde. dies ist eine weitreichende maßnahme. sie gehört zu einer reihe von unternehmun- gen der katholischen kirche, mit denen auf die jahrzehntelang verheimlichten und oft auch verharmlosten fälle von sexuellem missbrauch reagiert wird. so ist seit 2010 stephan ackermann, bischof in trier, be- auftragte der deutschen bischofskonferenz für alle fragen im zusammenhang des se- xuellen missbrauchs minderjähriger im kirchlichen bereich. bereits seit 2002 gibt es „leitlinien“ zum vorgehen bei sexuel- lem missbrauch, 2010 wurden sie überar- beitet und um einen katalog mit präventi- onsmaßnahmen erweitert. das sind versuche, das vertrauen in die in- stitution kirche zu erneuern, und das mag durch solche schritte langfristig gelingen, wenn sie denn tatsächlich weiteren sexuel- len missbrauch verhindern. aber das ver- trauen des einzelnen gläubigen in seine kirche – und zu seinem gott, der derlei duldet – lässt sich auf diese weise nicht wiedergewinnen. vertrauen, so der luzer- ner philosoph martin hartmann in seiner wegweisenden studie „praxis des vertrau- ens“, lebe davon, dass es wege der infor- mationsbeschaffung abkürze: als vertrau- ende verzichten wir darauf, noch mehr über andere in erfahrung zu bringen. wer alles immer in frage stellt, wer immer noch mehr und anderes wissen will, wird zum vertrauen nicht kommen. ohne die- ses vertrauen kann es aber weder gottglau- ben noch kirche geben. argwohn dass der kölner kardinal rainer maria woelki kürzlich ausdrücklich um entschuldigung gebeten hat, ist deshalb als bitte zu verstehen, die informationsbe- schaffung abzukürzen: man möge die ent- schuldigung annehmen, um gemeinsam wieder vertrauen zu fassen. das setzt je- doch voraus, dass es nichts zu vertuschen und künftig keinen sexuellen missbrauch durch priester gibt. der papst scheint dies- bezüglich skeptisch zu sein, andernfalls hätte er sich nicht genötigt gesehen, sein apostolisches schreiben zu verfassen. wo- möglich schafft jedoch gerade diese skep- sis neues vertrauen in die katholische kir- che: er macht sich zum verbündeten all je- ner vielen gläubigen, die aus guten grün- den und schlechten erfahrungen heraus, den kirchlichen institutionen mit argwohn gegenüberstehen. dirk pilz t der autor ist publizist und professor an der universität der künste in berlin. weiterführende links zu den themen dieser seite finden sie in unserem e-paper glaube als geschenk religion was es bedeutet, gottvertrauen zu haben eigentlich hat sich die französische repu- blik hat sich einer strengen laizität ver- schrieben: staat und kirche sind seit an- fang des 20. jahrhunderts strikt getrennt. für philippe étienne, botschafter frank- reichs in der deutschen hauptstadt, lag es nach dem attentat von nizza mit über 80 toten mitte juli selbstverständlich trotz- dem am herzen, den ökumenischen ge- denkgottesdienst im berliner dom zu be- suchen. dort hörte er, als erstes namentlich begrüßt vom katholischen weihbischof des berliner erzbistums, matthias heinrich, vor allem eines: eine antwort auf das blut- bad an der côte d’azur sei nur in einem zu finden – im gottvertrauen. gottvertrauen, das ist ein seltsames wort geworden. es ragt hinüber aus alten zei- ten, in denen es vielleicht noch öfter zu finden war. aber in einer zunehmend sä- kularisierten welt ist es nur noch für we- nige etwas, was trägt. das gilt auch für die rund 46 millionen christinnen und christen, die in der bundesrepublik noch mitglieder der großen volkskirchen sind: wer von ihnen hat wirklich gottvertrau- en? und was ist das überhaupt? viel- leicht, etwas flappsig ausgedrückt, so et- was wie der glaube des überforderten, aber frohgemuten indischen managers in der britischen filmkomödie „best exotic marigold hotel“ aus dem jahre 2011. der sagt bei jeder gelegenheit: „am ende wird alles in ordnung sein. und wenn es nicht in ordnung ist, ist es noch nicht das ende.“ gottvertrauen, das ist wohl am ehesten das: das vertrauen, dass dank gottes hilfe am ende alles gut sein wird – aber dieser satz ist schwierig, denn was heißt „gottes hilfe“, wie zeigt sie sich, welche rolle spielen dabei menschen und wie ist die erkennbar? was heißt „am ende“: am en- de des ereignisses, nach einem jahr, nach jahrzehnten? und was heißt „gut“? das, was wir menschen für „gut“ befinden? oder das, was „gut“ auf eine art und wei- se ist, die wir nicht immer erkennen kön- nen, weil wir spätestens nach kant wissen, dass unsere sinne und unser denken nur einen teil der realität erfassen können. ähnlich drückt es die volksfrömmigkeit aus, wenn sie lehrt: gott schreibt auch auf krummen zeilen gerade. phasenweise geschenkt so ist gottver- trauen eine sehr ambivalente, flüchtige angelegenheit, die man nie sicher hat, sondern allenfalls phasenweise geschenkt bekommt. ähnlich wie es paulus sagt: der glaube ist ein geschenk. gottvertrauen ist es auch. es gibt fromme menschen, die wenig gottvertrauen, und ungläubige, die sehr viel davon mitbringen, ohne dies so zu benennen. gottvertrauen hat weniger mit glauben zu tun als mit einem grund- sätzlichen optimismus, der sich nicht auf naivität gründen sollte, sondern auf dem vertrauen, dass gott seine schöpfung gut, ja „sehr gut“ gemacht hat, wie das buch genesis sagt. und dass er seine schöpfung und die menschen nie allein lässt. aber ist das einfach so zu glauben – ange- sichts der katastrophen, die vor allem das 20. jahrhundert gebracht haben? wo war gott in auschwitz? wo im gulag? wo auf den schlachtfeldern des ersten und zwei- ten weltkriegs? wie viele der menschen, die dort gestorben sind, haben voller gott- vertrauen gebetet, der höchste möge sie er- retten von aller not? vielleicht ist das wort und die haltung des gottvertrauens uns heutigen so schal geworden, weil wir, un- sere eltern und großeltern es am eigenen leibe erlebt haben, wie wenig schlichtes gottvertrauen am ende hilft. die theodi- zee-frage: „wie kann ein gerechter und gu- ter gott dies zulassen?“ ist der fels des atheismus, wie ein bekannter spruch lau- tet – und die theologie hat bis heute darauf keine befriedigende antwort gefun- den. für so manchen, der es ernst meint, ist gottvertrauen im 21. jahrhundert schwer geworden. auf die theodizee-frage, wie üblich, nur zu antworten: die meisten to- ten seien eben opfer von menschen, de- nen gott die freiheit gegeben hat, das gu- te zu tun oder eben das böse – ist ein we- nig billig. denn was hilft mir das vertrauen in einen gott, der das größte unrecht zu- lässt, nur weil er die freiheit des menschen zulässt? die solidarität gottes so ist gottvertrau- en wohl eine individuelle gabe, dinge hinzunehmen, die sonst unerträglich wä- ren. im christentum gibt es immerhin den glauben, dass selbst jesus sein gottvertrau- en verloren hat – oder fast verloren hat, nämlich am kreuz, wenn der langsam und qualvoll zu tode gefolterte am ende dem evangelium zufolge ausruft: „mein gott, warum hast du mich verlassen?“ was danach geschah, ist sache des glau- bens. einen beweis, dass gott jesus noch im tode nicht allein gelassen hat und er gar auferstanden ist, haben wir nicht. aber dass gott sich nach dem christlichen glauben selbst in das tiefste leid der menschen begibt – diese solidarität oder liebe gottes ist ja auch etwas, was ver- trauen, eben gottvertrauen begründen kann. philipp gessler t der autor ist redakteur beim deutsch- landradio kultur und bei der „taz“. abschlussgottesdienst des katholikentages in leipzig im mai © picture-alliance/dpa der fels in der brandung familie ihr bild und ihre aufgaben haben sich gewandelt. ihre bedeutung für unser wohlbefinden bleibt groß s ie wurde schon oft totgesagt und denkt doch gar nicht daran, sich kleinkriegen zu lassen – die fa- milie ist eine institution, die un- ser aller leben prägt. wahr ist aber auch: ihr gesicht hat sich verändert. dass unser heutiges konzept von familie so gut wie nichts mehr mit dem ursprung des begriffs zu tun hat, zeigt schon ein blick auf die wortbedeutung. der lateini- sche begriff „familia“ steht für die hausge- meinschaft und leitet sich von dem wort „famulus“ ab – das bedeutet „der haus- sklave“. ursprünglich bezeichnete familie also den besitz eines mannes: weib, kin- der, sklaven und vieh. „familia“ und „pa- ter familias“ benannten nicht die bezie- hungen miteinander verwandter men- schen, sondern waren herrschaftsbezeich- nungen. mit der sprache veränderte sich auch der inhalt dessen, was wir unter einer „typi- schen“ familie verstehen, die auch gern als „keimzelle der gesellschaft“ bezeichnet wird. in der antike meinte „familie“ eine rechtsform, in der verwandte verschie- dener generationen mit ih- ren sklaven unter dem schutz eines hausherren zusammenlebten, der über alle belange entschied. die „große haushaltsfamilie“ des mittelalters stellte sich ähnlich dar. erst in der vor- moderne entstand die „bürgerliche“ familie: an- ders als bei handwerkern oder bauern gehörten hier dienstboten und gesinde nicht mehr zum inneren kern, zu ihnen wurde zunehmend distanz gewahrt. stärker als bei kaufleuten und ähnlich gut gebildeten menschen wa- ren im milieu der handwerker- und bau- ernfamilien der vorindustriellen zeit fami- lien vor allem wirtschaftsgemeinschaften: produktion, konsum und familienleben waren kaum voneinander getrennt. entstehung der »kernfamilie« erst im zuge der industrialisierung bildete sich die „kernfamilie“ heraus, wie wir sie heute kennen: ehegatten mit kindern, die ge- meinsam ein privates gegenstück zur ar- beitswelt bilden. hier kam es erstmals zu einer ausgesprochen scharfen trennung der zuständigkeiten beider geschlechter: während die väter für das geldverdienen in einer zumeist männlichen arbeitswelt zuständig waren, kümmerten sich die frau- en um den haushalt und die erziehung der kinder. mit einer wachsenden sozialen mobilität, der steigenden teilhabe von frauen am erwerbsleben und sich verän- dernden sozialen normen weichte diese strikte trennung zunehmend auf: soziolo- gen sprechen dabei von „individualisie- rungsschüben“ und einer „enttraditionali- sierung der lebensformen“. stehengeblieben ist der wandel der fami- lie damit jedoch nicht: forscher arbeiten heute mit dem begriff der „postmodernen familie“, in der die eltern in einer familie nicht mehr zwangsläufig miteinander ver- heiratet sind und wohngemeinschaften, partnerschaften, eineltern-familien, regen- bogen- und patchwork-familien gleicher- maßen unter ein dach gebracht werden. die kürzeste familiendefinition lieferte der frühere bundeskanzler gerhard schröder, der seine regierungserklärung im frühjahr 2002 unter den titel stellte: „familie ist, wo kinder sind.“ akzeptanz anderer modelle die familie erfreut sich bei aller wandelbarkeit stetiger beliebtheit; kaum einer institution bringen die menschen mehr ver- trauen entgegen. das bele- gen erhebungen immer wieder aufs neue. so sagen laut dem familienreport des familienministeriums aus dem jahr 2014 mehr als 80 prozent der 20- bis 39-jährigen in deutsch- land, dass es ihnen wichtig ist, eine eigene familie mit kindern zu haben. familie bedeutet für die meisten menschen vertrauen. sie stellt einen rückzugsort da, ist quelle des glücks und der erholung. erst in diesem frühjahr ergab eine umfra- ge des meinungsforschungsinstitut tns in- fratest, dass 92,8 prozent der deutschen ihren unmittelbaren familienangehörigen vertrauen. dabei gibt es einen deutlichen wandel, wie insbesondere eltern mit kindern zu- sammenleben: nach dem datenreport des statistischen bundesamts für 2016 wurden im jahr 2004 noch 6,7 millionen ehepaare mit minderjährigen kindern gezählt. 2014 war ihre zahl um 17 prozent auf nur noch 5,6 millionen gesunken. gleichzeitig ist seit 2004 die zahl der alleinerziehenden um vier prozent auf 1,6 millionen ange- stiegen. dennoch wachsen bis heute rund drei viertel aller kinder bei eltern auf, die miteinander verheiratet sind. die ehe hat als erfolgsmodell also längst nicht ausge- dient, auch wenn andere familienformen gesellschaftlich immer stärker akzeptiert werden. die ehe heute ist schlicht nicht mehr, was sie noch vor 50 jahren war: sie wurde von einer auf schutz basierenden sozialform, die unter starker sozialer nor- mierung stand, zu einer individuell gestalt- baren partnerschaft. gleiches gilt für die innerfamiliären strukturen: machtgefüge, in der ein männlicher haushaltsvorstand die entscheidungen trifft, sind selten ge- worden. norbert schneider, der direktor des bun- desinstituts für bevölkerungsforschung in wiesbaden, konstatiert, dass sich trotz aller veränderungen „das ausgeprägte bestreben der menschen, in einer partnerschaft zu le- ben und nicht etwa allein oder polygam“ nicht verändert habe. auch die hohe be- deutung, „die das familienleben für das allgemein empfindende lebensglück der menschen hat“, sei bemerkenswert stabil: „nicht etwa erfolg im beruf, spaß in der freizeit oder intensive konsummöglichkei- ten werden für das subjektive wohlbefin- den am höchsten bewertet, sondern eine gute partnerschaft und ein glückliches fa- milienleben.“ dieser befund sei „ein wich- tiger beleg für die fortbestehende hohe wertschätzung der familie in unserer ge- sellschaft“, so schneider. prägender einfluss versuche, die familie abzuschaffen, wie im kommunistischen russland anfang des 20. jahrhunderts oder in den israelischen kibbuzim, scheiterten komplett. „blut ist dicker als wasser“, so lautet der alte spruch, der auf die besonde- re bedeutung familiärer beziehungen ab- hebt. denn familie prägt, hier erhalten menschen ihre sozialisation. erhebungen wie die life-studie, eine längsschnittstudie der universitäten potsdam, zürich und konstanz, sehen eindeutig enge zusam- menhänge zwischen der herkunftsfamilie und den einstellungen der menschen. ne- ben ihren genen reichen eltern auch ein- stellungen, verhaltensweisen oder lebens- chancen an ihre kinder weiter. experten nennen das transmission. der familiäre alltag mit seinen abläufen, ritualen und gewohnheiten macht aus uns, wer wir sind. allein aufgrund der fülle der aufga- ben, die sie übernimmt, ist eine welt ohne familie für die meisten menschen nicht denkbar. denn sie ist auch der ort, an dem vertrauen überhaupt entsteht. neurologen zufolge entwickeln menschen in ihren ers- ten lebensmonaten die fähigkeit, anderen zu vertrauen. nur über diese emotionale sicherheit sei es möglich, selbstsicherheit und die fähigkeit, zu lieben zu entwickeln. die fähigkeit zu vertrauen ist mithin ab- hängig von der verlässlichen und liebevol- len zuwendung von „dauerpflegeperso- nen“ – meist der eltern: familie ist also auch, was sicher macht. egal, wie sie aus- sieht. susanne kailitz t die autorin ist freie journalistin in dresden. mehrere generationen unter einem dach: das war für viele jahrhunderte familienalltag und ist heute eher die ausnahme. © picture-alliance/zb mehr als 80 prozent der 20- bis 39-jäh- rigen wün- schen sich eine familie mit kindern. das parlament - nr. 35-36 - 29. august 2016 vertrauensfrage 7