debattendokumentation 4 debattendokumentation das parlament - nr. 5-7 - 01. februar 2016 schlange wartender männer stand. das ist nicht eine „arbeit“, die man sich freiwillig aussucht, wie den missbrauchten frauen nach kriegsende manchmal zynisch vorgeworfen wurde. die prostitu- ierten wurden später auch nicht als zwangsarbeiter eingestuft, und sie hatten keinen anspruch auf restitution – die sogenannte wie- dergutmachung – oder erhoben kei- nen solchen. noch weniger ihre fami- lien, die sich ihrer schämten. der res- pekt, den man den überlebenden der lager, wenn nicht immer, so doch oft, entgegenbrachte, galt für sie nicht. erst in letzter zeit ist ihr schicksal genauer erforscht wor- den. eine solche diskriminierung und vertuschung gehen natürlich auf uralte vorurteile zurück, laut denen der geschlechtsverkehr die frau erniedrigt, den mann aber stärkt. und doch haben gerade diese gefangenen frauen weniger für den nazikrieg geleistet als alle anderen zwangsarbeiter. sie ha- ben nur sich selbst geschadet, kör- perlich und seelisch. wenn wir heute hier der zwangsarbeiterin- nen von damals gedenken, so müssen wir sie mit einschließen. übrigens waren weder diese „flei- ßig arbeitenden privilegierten“ noch die „weiber“ jüdischer her- kunft, denn das wäre ja rassen- schande gewesen. zurück zu meiner eigenen ge- schichte. beim roden und schie- nenlegen hatten wir öfters kontakt mit deutschen zivilisten, die auch unsere vorarbeiter waren. einmal saß ich in einer pause auf einem baumstamm neben einem dicken, vierschrötigen mann, der mich an- gesprochen haben muss, denn aus eigenem antrieb hätte ich mich nicht neben ihn gesetzt. er war neugierig, es war klar, dass ich nicht in die vorstellungen passte, die man sich von zwangsarbeitern machte. ein schwarzhaariges, ver- hungertes sträflingskind, das aber einwandfreies deutsch sprach, noch dazu ein mädchen, ungeeig- net für diese arbeit, eine, die in die schule gehörte. wie alt ich denn sei, fragte er. ich überlegte, ob hier die wahrheit am platz sei. vorsicht war geboten, denn, wie ich schon gesagt habe, die drei jahre altersunterschied, die ich mir angedichtet hatte, waren erst kürzlich meine überlebensstrategie gewesen. ich weiß nicht mehr, was ich ihm antwortete, doch ich weiß, dass ich nur eine absicht hatte: ich hätte ihn gern dazu gebracht, mir sein schmalz- brot zu schenken. das war nicht nur eine frage des hungers, sondern, abgeleitet vom hunger, wäre es auch eine leistung gewesen, wenn ich eine solche köstlichkeit, die es im lager selbstverständlich nicht gab, mit meiner mutter und mit susi hätte teilen können. ich beantwortete seine fragen also mit äußerster zurückhaltung, denn ich wollte mich nicht mit ei- nem fremden deutschen aufs glatteis begeben. er hingegen er- zählte mir, auch die deutschen kinder gingen jetzt nicht mehr zur schule, die würden jetzt alle ein- gezogen. das schmalzbrot habe ich nicht gekriegt. er schnitt mir zwar einen bissen davon ab, aber den konnte ich ja nur hungrig und sofort aufessen. er fraß mit genuss, während er mir vom hun- gernden deutschland berichtete. in seiner erinnerung, stelle ich mir vor, war ich eine kleine jüdin, der es gar nicht so schlecht ging, denn sie hat keine schauermär- chen erzählt, obwohl er ihr in sei- ner aufmunternden art gelegen- heit dazu gab, ja sie geradezu auf- forderte, über ihr leben zu plau- dern. und angst hatte sie in seiner vorstellung auch keine, sonst hätte sie nicht so frisch von der leber weg geredet. und vielleicht be- nutzt er unsere begegnung als ei- nen beweis, dass es den juden im krieg nicht schlechter ging als an- deren leuten auch. das nächste mal, als ich ver- suchte, etwas essbares zu ergat- tern, war ich noch erfolgloser. das war kurz vor auflösung des lagers, als wir schon die geschütze der sowjetarmee hörten und die ar- beit eingestellt worden war. letzte- res war eine erleichterung: keine arbeit mehr. doch es gab jetzt so wenig zu essen, dass ich an nichts anderes mehr denken konnte als an nahrung. wenn ich meine ta- gesration bekam, schlug ich die zähne ins brot, als müsste ich das ganze stück auf einmal in den mund stopfen. ganz selten sah ich mich wie von außen und schämte mich. eines abends hörte ich von su- si, dass an der hintertür der kü- chenbaracke irgendwelche abfälle verschenkt würden, die die kö- chinnen gerne den kindern geben wollten. ich lief hin, es kamen noch ein paar andere frauen, ich wurde ungeduldig, stieg die paar stufen zum barackeneingang hi- nauf, die anderen hinter mir her, und lief den beleuchteten gang entlang, der zur hintertür der kü- che führte. da öffnete sich eine seitentür, ein langer ss-mann kam heraus, der ruft mich, ich steh vor ihm, essgeschirr in der hand. er fragt, was ich will, ich sag’s ihm: „es soll hier noch reste zum ver- teilen geben.“ er sagt so was wie: „jetzt geben sie man acht!“ – mit unvergesslich preußischer aus- sprache für mein wiener ohr. ich denke noch immer, er lässt mich passieren, denn er wird doch nicht wollen, dass man etwaige reste wegwirft, doch nicht bei dieser hungersnot, und da schlägt er mir schon mit voller wucht ins ge- sicht. ich taumle nach hinten, den ganzen gang entlang, schlage mit dem kopf auf, die holzpantinen fallen mir von den füßen, das ess- geschirr aus den händen. susi hilft mir auf, wir gehen zurück zu unserer baracke, auf dem weg schimpfe ich wie ein rohrspatz: „es wird ihn schon noch erwi- schen, den kerl, der mich geschla- gen hat, früher oder später er- wischt’s ihn.“ jahrzehnte später in göttingen höre ich einem mann im rentne- ralter zu, wie er in schmidt’s dro- geriemarkt sich gegenüber einer verkäuferin den mund über die schmarotzenden ausländer aus polen zerreißt. „die ausländer, die sollt‘ man vergasen und die politi- ker gleich dazu“, meinte er. der satz trifft mich wie jener schlag ins gesicht in christianstadt. ich schau hin zu ihm, schätze sein al- ter, ja, der ist alt genug, der könnt’s gewesen sein. und er- wischt hat’s ihn und seinesglei- chen offenbar nicht. „solche sprü- che“, sage ich beklommen zu ihm, wir sehen uns in die augen, freunderl, wir kennen uns. da sagt er mit festem höhnischem blick: „ja, ja, sie haben schon richtig gehört.“ das lager christianstadt wurde anfang 1945 aufgelöst und die häftlinge in ein weiteres, nämlich nach bergen-belsen, überführt. in den ersten paar tagen ging der transport zu fuß, dann wurde er in einen zug verladen, wie ich erst nach dem krieg erfuhr, denn da waren wir nicht mehr dabei. mei- ne mutter, susi und ich sind am zweiten abend, als wir noch im freien waren und es dunkel wur- de, geflohen – und haben über- lebt. aber das ist schon eine ande- re geschichte. wenn die deutsche zivilbevöl- kerung später beteuerte, sie hätte nichts über den massenmord ge- wusst, so kann man sich darüber streiten, ob das stimmt, doch die massenhafte ausbeutung durch zwangsarbeit war sehr wohl be- kannt. viele jahre später, als ich oft in deutschland war und auch wieder viele freunde hier hatte – und noch habe -, stieß ich gele- gentlich auf menschen, deren fa- milien zwangsarbeiter während der nazizeit im hause hatten. meine freunde erinnerten sich an diese verschleppten menschen mit behagen, oft auch mit zuneigung. die hatten’s gut bei uns. die ha- ben mit uns kin- dern gespielt und gelacht und gesun- gen. die wohlmei- nenden erzähler wussten nichts oder wollten nichts wissen, von der wa- chen zurückhal- tung, dem miss- trauen, der verach- tung oder dem neid, der über- oder unterschät- zung des feindes, die in diesen unbezahlten haushaltshilfen ge- steckt haben müssen. und wenn es einigen von denen doch manchmal im feindesland gemüt- lich wurde und sie mit den fein- den sympathisierten, so hatte der feind sie ja untergekriegt, und sie hatten ein stück ihrer identität aufgegeben. wenn die damaligen deutschen kinder, inzwischen erwachsene, die für mich diese erinnerungen auskramten, diesen konflikt nicht wahrhatten, so kommt das daher, dass keiner sich so ohne weiteres als feind sieht. der feind ist im- mer der andere, wie könnte man selber ein feind sein, besonders wenn man lieb zu fremden und der augapfel der eltern ist. man vermied das wort „zwangsarbei- ter“, wenn man von ihnen sprach, und man zuckte zusammen, wenn ich mich nicht scheute, auch das wort „sklavenarbeit“ in den mund zu nehmen. zum beispiel in oldenburg, da hielt ich einen vortrag an der uni- versität über ein literarisches the- ma – ich glaube, es war über kleist und den sklavenaufstand im heu- tigen haiti, in san domingo, eine seiner großen novellen. nachher beim wein erzählte eine pensio- nierte studienrätin, gastarbeiter hätten während des kriegs auf dem bauernhof, wo sie aufwuchs, gearbeitet. „die waren nicht zu gast“, sage ich stur, „die waren zwangsarbeiter.“ „ja, ja“, erwidert sie, in erinnerung versunken, „kriegsgefangene waren das, po- len.“ ich lass nicht so leicht locker. „auch keine kriegsgefangenen“, sage ich, „der krieg mit polen war längst zu ende, der hat nicht lange gedauert, zivilisten waren das, verschleppte, auch frauen, die zu hause ihre eigenen familien hat- ten.“ sie sieht mich ernst an, und ich denke noch, die ist ein gutmü- tigerer mensch, als ich es bin, denn sie ist nicht so aggressiv ver- bissen wie ich. „ja, ja, zwangsar- beiter“, sagt sie, „wie traurig, ein pole und eine polin.“ aber der mann, der pole, der sei gar nicht hasserfüllt gewesen, sondern hätte ihnen ein pferd, das polnische banden gestohlen hatten, wieder besorgt. versöhnlich sei er gewe- sen. – immerhin, ich hab sie dazu gebracht, zuzugeben, dass es da et- was zum versöhnen gab. verehrtes publikum, ich habe jetzt eine ganze weile über moderne versklavung als zwangsarbeit in na- zi-europa gespro- chen und beispiele aus dem verdrän- gungsprozess zitiert, wie er im nach- kriegsdeutschland stattfand. aber eine neue generation, nein, zwei oder sogar drei genera- tionen sind seither hier aufge- wachsen, und dieses land, das vor 80 jahren für die schlimmsten verbrechen des jahrhunderts ver- antwortlich war, hat heute den beifall der welt gewonnen, dank seiner geöffneten grenzen und der großzügigkeit, mit der sie sy- rische und andere flüchtlinge auf- genommen haben und noch auf- nehmen. ich bin eine von den vielen au- ßenstehenden, die von verwunde- rung zu bewunderung übergegan- gen sind. das war der haupt- grund, warum ich mit freude ihre einladung angenommen und die gelegenheit wahrgenommen ha- be, in diesem rahmen, in ihrer hauptstadt, über die früheren un- taten sprechen zu dürfen, hier, wo ein gegensätzliches vorbild ent- standen ist und trotz hindernis- sen, ärgernissen, rückschlägen und zweifeln noch weiter ent- steht, mit dem schlichten und da- bei heroischen slogan: wir schaf- fen das. ich danke ihnen für diese einla- dung. (langanhaltender beifall – die anwesenden erheben sich) er fraß mit genuss, während er mir vom hungernden deutschland berichtete. der rias-kammerchor sang zum abschluss der gedenkstunde nach den texten von johann esser und wolfgang langhoff und der vertonung von rudi goguel die „moorsoldaten“. © dbt/achim melde ich bin als außenstehende von verwun- derung zu bewunderung übergegangen.