debattendokumentation 6 debattendokumentation das parlament - nr. 11-12 - 13. märz 2017 cem özdemir, bündnis 90/die grünen ein starkes europa muss oberstes ziel der außenpolitik sein gen müssen, damit es sie morgen noch gibt. eigentlich sollte jede kollegin und jeder kollege, die bzw. der an diesem pult hier reden darf, als deutsche bzw. als deutscher re- den, aber sie bzw. er sollte immer auch zugleich als überzeugte eu- ropäerin bzw. europäer reden; denn man kann nur guter deut- scher staatsbürger sein, wenn man gleichzeitig auch überzeugter eu- ropäer ist und das in seinem han- deln und in seiner sprache deut- lich macht. auch das wäre sehr wichtig für den zusammenhalt der europäischen union. dazu. das aber – das gilt für jedes projekt, das man liebt, für jedes projekt, das einem wichtig ist – es gehört ehrlichkeit heißt: europa kann nur erfolgreich sein, wenn es dynamisch bleibt, wenn wir selbstkritisch sind, wenn wir anpassungsfähig sind und wenn wir auch nicht den reformwillen verlieren. darum ist es erforder- lich, angesichts der angriffe von innen wie von außen zu reagieren. zu den angriffen muss man sa- gen: dass diese von herrn putin kommen, gut, daran haben wir uns gewöhnt. dass er uns und der europäischen union nicht gut ge- sinnt ist, das wissen die meisten hier, vielleicht bis auf einige weni- ge. aber dass jetzt noch dazu der präsident der vereinigten staaten von amerika kommt, ist etwas, was ich mir zumindest in meiner schulzeit nicht hätte vorstellen können. aber das kann doch nicht heißen, dass wir uns jetzt hier den ganzen tag erzählen, wie schlimm die welt ist, sondern daraus kann es doch nur eine konsequenz ge- ben, nämlich dass wir uns mit al- len kräften darum kümmern, dass das vornehmste ziel der deut- schen außenpolitik europa sein muss, die europäische union sein muss, ein starkes, ein handlungs- fähiges europa sein muss. ich will nicht, dass wir, wenn wir in 120 jahren hoffentlich er- neut die römischen verträge fei- ern, austrittsschreiben im brief- kasten der europäischen union haben. ob wir die bekommen oder ob wir sie nicht bekommen, das liegt eben auch an uns. da will ich schon sagen: ich hätte in den vergangenen jahren ihrer kanzlerschaft, frau merkel, gerne etwas von ihnen darüber gehört, wie sie sich europa vorstellen, wie ihre vorstellung von europa ist. wenn man nicht führt, wenn man nicht erklärt, dann macht man sich weniger angreifbar – na- l i e d e m m h c a / t b d © cem özdemir (*1965) landesliste baden-württemberg im september 1946 geschah et- was erstaunliches: gerade ein- mal ein jahr war vergangen seit dem schrecklichsten krieg al- ler zeiten mit 60 millionen kriegstoten und dem holocaust mit 6 millionen opfern. europa war noch immer ein trümmer- feld. genau in einer solchen situa- tion ruft winston churchill, zwi- schenzeitlich oppositionsführer im unterhaus in großbritannien, die „vereinigten staaten von europa“ aus. man höre und stau- ne: zentrale akteure dieser „verei- nigten staaten von europa“ soll- ten die einstmaligen erzfeinde frankreich und deutschland sein. was sich damals wie eine wilde utopie anhörte, ist heute längst realität. nein, wir haben nicht die verei- nigten staaten von europa, aber wir können bald 60 jahre römi- sche verträge und damit 60 jahre europäische integration feiern. ich finde, das ist ein freudiger anlass. bei allen schlechten nachrichten, die wir in diesen tagen haben, sollten wir nicht vergessen, was wir da zu feiern haben. in diesen 60 jahren haben viele menschen, nicht nur bei uns in der bundesrepublik deutschland, sondern in der ganzen europäi- schen union, ein großartiges europa aufgebaut, mit demokra- tie, mit menschenrechten und mit freiheit – mit werten, die am en- de triumphiert haben. die zeiten der diktaturen sind in südeuropa vorbei, aber sie sind gott sei dank auch in osteuropa vorbei, genau- so wie der eiserne vorhang ge- schichte ist. wir haben mittlerweile – das sa- ge ich mit stolz – ein europa der offenen grenzen innerhalb der eu, wir haben ein europäisches parlament, eine direkt gewählte volksvertretung, wir haben eine unionsbürgerschaft – alles dinge, auf die wir stolz sein können, alles dinge, die wir aber auch verteidi- türlich ist das einfacher; das ver- stehe ich schon –, dann polarisiert man nicht so. nur, das problem ist: es gibt in der politik kein va- kuum. das vakuum wird immer gefüllt, und wenn wir als demo- kraten es nicht füllen, dann füllen es die populisten. ich will aber nicht, dass die populisten uns sa- gen, wie es mit europa weiterge- hen soll, sondern wir müssen sa- gen, was mit europa passiert. auch das will ich sehr klar sa- gen: wer glaubt, dass europa zu einem reinen binnenmarkt zu- rückentwickelt werden kann, der ist nicht nur naiv, sondern der hat europa bereits abgeschrieben. die römischen verträge, die die grün- dungsmütter und gründungsväter wollten, sind eben nicht bloß rei- ne handelsverträge gewesen; ih- nen ging es um eine große euro- päische idee. machen wir uns doch nichts vor: auch wir deutsche mit all un- serer wirtschaftlichen stärke sind am ende des tages zu klein, um die probleme, über die wir hier re- gelmäßig im parla- ment reden, ob es die terrorbekämpfung ist, ob es der kampf gegen den klimawan- del ist, ob es der kampf gegen epide- mien oder der ein- satz für demokratie ist, zu lösen. dafür brauchen wir die an- deren partnerinnen und partner; aber dann muss man auch mit den partnern so umge- hen, dass die partnerschaft erfolg- reich wird. darum hätte ich gerne von ih- nen gehört, dass sie sagen: nur wenn es den europäischen nach- barn gut geht, dann geht es uns deutschen gut. das muss künftig das narrativ der deutschen euro- papolitik sein. ich hätte gerne ein- mal etwas darüber gehört, dass über 40 prozent jugendarbeitslo- sigkeit in griechenland und spa- nien eben nicht nur ein grie- chisches und spanisches problem sind, sondern dass das auch ein problem der deutschen innenpoli- tik ist, meine damen und herren; denn wenn die zukunftshoffnun- gen der menschen in europa ver- loren gehen, dann gehen sie regel- mäßig leider nicht zu den demo- kraten, sondern dann gehen sie oft zu den populisten, und das führt uns nicht weiter. wenn man über europa spricht, dann muss man eben auch über sozialpolitik sprechen. dann muss man darü- ber sprechen, dass ein europa, das zukunftsfähig ist, nur ein gerech- tes europa sein kann. und ein gerechtes europa, das bekommen wir nur, wenn wir ver- stehen, was jeder unternehmer weiß: man kann sich in der krise eben nicht nur raussparen, son- dern in der krise muss man auch investieren, damit der rubel wie- der rollt, damit die wachstums- zahlen steigen und damit arbeits- plätze geschaffen werden. ich freue mich auch, dass wir mittlerweile an jedem wochenen- de menschen sehen, junge men- schen, die in europäischen städ- ten auf die straßen gehen und sich versammeln, und es werden woche für woche mehr. das mot- to „pulse of europe“, unter dem sie sich versammeln, bedeutet: wir alle sind für die zukunft europas verantwortlich, jeder und jede von uns. wissen sie, ich bin ja jetzt lange genug dabei, dass ich immer so ein bisschen darauf warte: wann kommt eigentlich „die bösen eu- ropäer, die bösen in brüssel“? ich finde es großartig, dass die das nicht sagen. die sagen nicht nur nicht: „die anderen sind schuld“, sondern sie sagen: wir sind, jeder von uns ist europa. jeder von uns hat es in der hand, wie europa aussieht. – ich finde, wir sind die- sen jungen menschen zu großem dank verpflichtet. den enthusias- mus, den ich mir hier wünschen würde, finden wir auf den straßen bei den jungen menschen,und das tut gut. es tut gut, in diesen ta- gen diesen enthu- siasmus zu hören. ich gestatte mir jetzt einen ex- kurs, weil es ja hieß: wir sollten türkische politiker hier reden las- sen. – dazu sage ich gleich etwas. aber, herr oppermann, wenn tür- kische politiker hier reden dürfen, dann ist es natürlich schwierig, zu begründen, warum dann ein herr orban nicht bei der csu zu gast sein soll. da ist ja eine gewisse lo- gik. also, laden sie ihn von mir aus ein. aber wenn sie ihn einla- den, dann sagen sie ihm bitte, wie asylpolitik in europa auszusehen hat, und dann sagen sie ihm bitte etwas über europäische werte. er- zählen sie ihm doch etwas von ih- ren csu-bürgermeistern vor ort, die eine ganz großartige politik machen. das würde ich mir wün- schen: nicht nach dem mund re- den, sondern klartext! jetzt will ich doch noch etwas zur türkei sagen. ich höre in die- sen tagen immer: wir brauchen die türkei. – klar. wer könnte da widersprechen? aber gerade jetzt ist es wichtig, zu sagen, dass die türkei auch uns braucht! es ist doch nicht so, dass die bundesre- publik deutschland und europa mitglied in der türkei werden wollen. die türkei will mitglied in der europäischen union werden. da wäre es doch vielleicht auch ganz gut, wenn man mal sagt, wer sich wem anzupassen hat und wer sich an wessen normen orientie- ren muss. als wir teil dieser bundesregie- rung mit der sozialdemokratie waren und die beitrittsverhand- lungen mit der türkei geführt ha- ben, da war die türkei auf dem reformweg. wir haben damals beitrittsverhandlungen initiiert und haben eine reformorientierte türkei unterstützt, in der eigen- tum an christen zurückgegeben wurde, in der über die kurdische frage gesprochen werden konnte und in der die folter bekämpft wurde. sie haben eine türkei, die sich in die gegenteilige richtung entwickelt hat, auf einmal auf ih- rer karte nicht nur wiederentdeckt durch den flüchtlingsdeal, son- dern ihnen konnte es mit den bei- trittsverhandlungen nicht mehr schnell genug gehen. dieser ich gestehe, es überfordert mich intellektuell, zu verstehen, wie die türkei-logik regierung funktioniert. vielleicht liegt es da- ran, dass es in der frage der türkei bei ihnen gar keine logik gibt. aber ich wollte gar nicht so pole- misch sein. sie haben mich ein- fach dazu provoziert. lassen sie mich zur türkei fol- gendes sagen: alle haben gesagt, dass diese vorwürfe aus der türkei mit dem nazivergleich absurd sind, dass sie eigentlich so absurd sind, dass man gar nicht darauf antworten muss. ich finde, die beste antwort geben unsere lehre- rinnen und lehrer in der bundes- republik deutschland, die im ge- schichtsunterricht, aber auch in anderen fächern das narrativ un- seres landes „nie wieder ausch- witz!“ unseren kindern gemein- sam beibringen. vielleicht nehmen wir das sogar zum anlass, zu überlegen, wie wir das künftig vermitteln in gesell- schaften, in schulklassen, die bunt zusammengewürfelt sind, da es ja leider immer weniger überleben- de des holocaust gibt, die in die schulklassen kommen. ich hatte das glück, dass ich eine überle- bende in meiner schulklasse er- lebt habe. ich kann ihnen gar nicht sagen, wie mich das beein- druckt hat als jemanden, der so et- was zu hause nie gehört hat. viel- leicht müssen wir das künftig ge- meinsam so weiterentwickeln, dass wir in interkulturellen klas- sen gerade ganz besonderen wert darauf legen, dass dieses „nie wie- der auschwitz!“ gelehrt wird, aber auch die verantwortung aufgezeigt wird, die daraus erwächst: dass man das nur umsetzen kann, wenn man sich nicht nur bei uns, man kann sich aus der krise nicht nur raus- sparen, sondern man muss auch investieren.