die stillen leiden der frisöre 10 zukunft der arbeit das parlament - nr. 16-17 - 18. april 2017 gesundheit auf dem langen berufsweg lauern diverse gesundheitsrisiken. manchmal hilft nur noch der ausstieg die stillen leiden der frisöre beruflich bedingte krankheiten sind ebenso vielfältig wie scheußlich. wer als junger mensch eine berufliche lauf- bahn einschlägt, denkt sicher selten über das gesundheitsri- siko nach, das der job noch so mit sich bringen könnte. dabei wäre ein kritischer blick in die zukunft in einigen fällen durchaus angebracht. keine frage: arbei- ten kann krank machen, nicht arbeiten al- lerdings auch (siehe interview unten). al- lein die schiere masse an geleisteter ar- beitszeit über jahrzehnte hinweg ist für körper und geist alles andere als gesund. wer heute mit 65 jahren in den ruhestand geht, ist häufig nicht nur ausgelaugt, son- dern unter umständen sogar körperlich oder psychisch stark angeschlagen. arbeitsbedingte gesundheitsgefahren erge- ben sich aus ergonomischen faktoren (sit- zen, stehen), einseitigen körperlichen be- lastungen (heben), der ar- beitsumgebung (lärm, luft) psychischen belas- tungen (zeitdruck), der ar- beitsorganisation (überlas- tung) sowie dem sozialver- halten im job (vorgesetzte, kollegen). es kann also viele gründe geben, wes- halb mitarbeiter krank werden. nicht wenige ar- beitnehmer kapitulieren denn auch schon weit vor dem gesetzlichen renten- eintrittsalter, und nicht, weil sie etwa weicheier wären, sondern weil sie von einer der offiziell anerkannten berufskrankheiten in die knie gezwungen wurden. in der anlage zur berufskrankhei- tenverordnung (bkv) sind derzeit in sechs gruppen insgesamt 77 leiden aufgeführt, die zu leistungsansprüchen der berufsge- nossenschaften oder der unfallversiche- rung führen können. typische leiden unterschieden wird zum beispiel in chemische oder physikalische einwirkungen (u.a. meniskus- oder band- scheibenschäden, druckluft, lärm und io- nisierende strahlen) sowie haut- oder in- fektionskrankheiten, von denen auch gera- de beschäftigte in gesundheitsberufen be- troffen sein können. als berufskrankheit anerkannt werden nur leiden, die typischerweise bei bestimmten tätigkeiten auftreten. wer im beruf krank wird, fällt deswegen noch nicht automa- tisch in diese kategorie. ein weiterer ha- ken: psychische störungen, die in einigen der als „riskant“ eingestuften berufe auch eine rolle spielen, fallen nicht unter die bkv-liste. dabei sind psychische erkran- kungen nach solchen des muskel-skelett- systems und atemwegsleiden die dritthäu- figste ursache für arbeitsunfähigkeitstage (au-tage), tendenz stark steigend. nach einer analyse der dak von 2016 ist der „anstieg der fehltage aufgrund psychischer erkrankungen eine der auffälligsten ent- wicklungen in bezug auf die kranken- standskennziffern in den letzten jahren“. viele fälle sind langwierig, manche enden in der berufsunfähigkeit, frauen sind häu- figer betroffen als männer. ist die erwerbsfähigkeit dauerhaft ganz er- heblich gemindert, kann eine erwerbsmin- derungsrente (em-rente) beantragt wer- den. die zahl der em-renten ist wegen verschärfter anspruchsvoraussetzungen zwischen 1996 (280.000) und 2006 (160.000) stark gefallen, steigt seit 2007 aber wieder leicht an. um berufskrankhei- ten zu verhindern, sollen die unfallversicherungsträ- ger „dieser gefahr mit allen geeigneten mitteln entge- genwirken“, notfalls da- durch, „dass die versicher- ten die gefährdende tätig- keit unterlassen“, wie es in der verordnung heißt. so riskantes handwerk zu den „gefährlichsten“ beru- fen zählen einige aus dem handwerk. erhalten mehr als 50 prozent der ge- rüstbauer und dachdecker im laufe ihres berufslebens eine em-rente. es gibt aber auch berufe, deren gesundheitsrisiko all- gemein stark unterschätzt wird. das trifft nach ansicht des arbeitsmediziners profes- sor albert nienhaus vom universitätsklini- kum hamburg-eppendorf (uke) auf den frisörberuf zu, der gleich mehrere risiken vereint: frisöre stehen meist, müssen beim arbeiten ungünstige bewegungen ständig wiederholen, arbeiten unter zeitdruck, sind haut belastender feuchtarbeit ausge- setzt und stoffen mit allergieauslösenden eigenschaften etwa beim färben, bleichen oder beim legen einer dauerwelle. nienhaus hat in einem forschungsprojekt festgestellt, dass durch den verzicht auf die „saure dauerwelle“, haarfärbemittel in feuchter statt pulverform sowie schulun- gen zum besseren arbeitsschutz die zahl der frisöre, die ihren job wegen haut- oder lungenkrankheiten aufgeben mussten, deutlich zurückgegangen ist. das restrisiko ist aber auch so noch groß genug. so kom- me es bei frisören „zu relevanten belastun- »die belastung bei den frisören ist bislang unterschätzt worden.« albert nienhaus, arbeitsmediziner herr deister, arbeitslosigkeit kann menschen krank machen. wie kommt es zu dieser „psychosozialen zermürbung“? arbeitslos zu werden, bedeutet eine massi- ve veränderung des gesamten lebens, auch der seelischen und sozialen seite. wenige psychosoziale faktoren bewirken so ausge- prägte probleme wie die arbeitslosigkeit. die folgen sind psychischer, sozialer und körperlicher art. es geht um den wert von arbeit. wir sind sehr stark darauf bezogen, dass arbeit einen wert darstellt, der auch die person ausmacht. es geht gerade auch darum, diese strate- gien zu verbessern, etwa in der verhaltens- therapie. wer in der weise krank ist, braucht also professionelle hilfe? ja, absolut. es ist ähnlich wie bei einem trauerfall. es gibt die normale trauer und die pathologische trauer, wenn also je- mand nicht mehr aus eigener kraft in ei- nen normalen alltag zurückfindet. wer zum beispiel alkohol trinkt, damit es ihm gut geht, hat ein problem. welche krankheiten treten in solchen sind die schäden umso größer, je län- ger die arbeitslosigkeit andauert? nein, man kann das nicht an der länge der arbeitslosigkeit festmachen, sondern an der perspektive. wenn jemand keine chan- ce mehr für sich sieht, in absehbarer zeit wieder eine stelle zu bekommen, dann macht das krank. die chronische arbeitslo- sigkeit, die perspektivlosigkeit, das nicht mehr gebraucht werden, das sind die din- ge, die pathogen sind. fällen typischerweise auf? häufig leiden arbeitslose menschen an an- passungsstörungen, sie können sich also schlecht auf die neue situation einstellen. hinzu kommen depressive störungen, angststörungen, somatoforme störungen sowie abhängigkeitserkrankungen. wie wird denn aus der akuten krise eine krankheit? problematisch wird es, wenn die psyche nicht mehr in der lage ist, eine neue si- tuation im alltag zu bewältigen. das kön- nen menschen normalerweise ziemlich gut. wenn jemand wegen arbeitslosigkeit deprimiert ist, dann ist das noch keine krankheit, wohl aber, wenn die sympto- me deutlich verstärkt eine eigendynamik entwickeln, etwa schlafstörungen, an- triebsminderung, hoffnungslosigkeit bis hin zur verzweiflung und suizidalität. der übergang ist fließend, aber sympto- me der depression lassen sich klar festle- gen. die frage ist, was betroffene der neu- en lage an bewältigungsstrategien (co- ping-strategie) entgegenzusetzen haben. weiterführende links zu den themen dieser seite finden sie in unserem e-paper arno deister ist neurologe und psychiater. wenn aus der krise eine krankheit wird pack die badehose ein psychiatrie arbeitslosigkeit wird von betroffenen als extreme bedrohung wahrgenommen – mit weitreichenden folgen freizeit viele menschen erholen sich mit tv und internet der frisörberuf ist oft nicht nur mäßig gut bezahlt, sondern zählt auch zu jenen berufen, die der gesundheit langfristig sehr schaden können. © picture-alliance/dpa gen für den bewegungsapparat“. durch das hantieren über schulterhöhe, andere fehl- stellungen sowie sehr häufig wiederholte bewegungen im handgelenk werden rü- cken, schultern, nacken, arme und hände belastet. sehnenscheidenentzündungen und das karpaltunnelsyndrom, eine art nervenquetschung mit taubheitsgefühlen in der hand, schmerzen und dem mögli- chen verlust feinmotorischer fähigkeiten, können die folge sein, rücken- und kopf- schmerzen kommen häufig hinzu. ständige überforderung die beruflich bedingten schädigungen der frisöre wer- den nach einschätzung des mediziners spätestens im alter von 50 ein ernstes pro- blem, oft auch schon früher. dabei könn- ten die risiken durch ergonomisch gestal- tete salons zumindest verringert werden. so stünden nicht in jedem frisörladen hö- henverstellbare stühle bereit, und auch der waschplatz sei meist nur an den bedürfnis- sen der kunden ausgerichtet, nicht der fri- söre. „da ist noch viel luft nach oben“, meint nienhaus. gravierende gesundheitliche risiken bein- haltet auch die alten- und krankenpflege, für die derzeit händeringend nach personal gefahndet wird. in diesem berufsfeld ist die kombination von physischen und psy- chischen gefahren markant. zu den be- kannten hebe-risiken gesellen sich herz- kreislauf-probleme infolge von nacht- und schichtarbeit sowie psychische belastungen unter anderem bei der betreuung dementer menschen. in krankenhausstationen für demente und in pflegeheimen komme es relativ häufig zu gewaltsamen übergriffen der patienten auf die pflegekräfte, berichtet nienhaus und spricht von einem tabuthe- ma. dadurch fühlten sich viele pflegekräfte psychisch stark belastet. hinzu komme die körperliche überlastung, wenn beispiels- weise hilfsmittel zur versorgung bettlägeri- ger patienten entweder nicht verfügbar sei- en oder unter zeitdruck gar nicht genutzt würden. der arbeitsmediziner folgert: „als pflegekraft bis 65 voll durchzuarbeiten, ist schon für viele ein riesenproblem.“ entlastung gefordert auch die dortmun- der bundesanstalt für arbeitsschutz und arbeitsmedizin (baua) hat das problem erkannt und in einer analyse untermauert. so seien die psychischen arbeitsanforde- rungen in der alten- und krankenpflege „fast durchweg erhöht“. folge seien über- forderung und stress. dies trage dazu bei, dass der anteil älterer pflegekräfte gering ausfalle und ein großer ausstiegswunsch bestehe. nach ansicht von nienhaus ist das be- wusstsein für die gesundheitsgefahren am arbeitsplatz in deutschland noch immer mangelhaft ausgeprägt. die arbeitsbedin- gungen müssten so gestaltet werden, dass der job auch im höheren alter zu schaffen sei. dazu müssten ältere arbeitnehmer ge- zielt entlastet werden, etwa durch stunden- reduktion oder das sogenannte jobenrich- ment, also mehr eigenverantwortliche auf- gaben, während jüngere die anstrengende- re basisarbeit verrichten. mit blick auf ältere arbeitnehmer kommt auch die baua zu dem denkwürdigen schluss, dass die demografisch bedingte notwendigkeit, länger zu arbeiten, nur dann ermöglicht werden könne, „wenn die arbeitsfähigkeit im alter erhalten bleibt“. dazu seien „die arbeitsbedingungen an äl- ter werdende belegschaften anzupassen, um ein gesundes altern bei der arbeit zu ermöglichen.“ claus peter kosfeld t das müsste dann ja nach dem um- bruch in ostdeutschland seit 1989 sehr häufig vorgekommen sein. ja, das ist dort häufig der fall gewesen, dass menschen sich nicht mehr wert fühlen und meinen, das, was sie können, werde nicht mehr gebraucht. viele menschen ha- ben große probleme damit gehabt, für sich selbst wieder eine „wertvolle“ aufgabe zu finden. das erleben wir gerade auch im mittleren westen der usa. betroffenen schaffen, für sich überhaupt noch eine lebensperspektive zu entwi- ckeln. ein verlorener job ist nicht damit zu ver- gleichen, wenn die gesamte grundlage des alltags wegbricht. wenn so eine firma zu- macht, die in einer region viele arbeits- plätze angeboten hat, ist das für die men- schen eine extreme verlusterfahrung. das kann zu schweren depressionen und im extremfall auch zu suiziden führen. kann arbeitslosigkeit zu einem blei- benden trauma werden? der begriff trauma ist anders definiert. es ist aber auf jeden fall eine chronisch mas- siv belastende situation, die die anpas- sungsfähigkeit des menschen überfordern kann und darüber zu erkrankungen führt. sind die symptome bei jüngeren ar- beitslosen anders als bei älteren? die anpassungsfähigkeit ist auch abhängig vom lebensalter und vom geschlecht. für junge leute, die noch gar keinen beruf ha- ben, ist arbeitslosigkeit eine große bedro- hung, weil dann oft die perspektive ganz fehlt. wenn jemand kurz vor der rente steht, geht er mit der lage natürlich anders um. für männer hat arbeit wiederum eine an- dere bedeutung, da spielt der kränkungs- aspekt bei erwerbslosigkeit eine größere rolle. die reaktion auf die arbeitslosigkeit hängt aber immer von der persönlichen si- tuation der betroffenen ab. ältere männer nehmen es oft besonders schwer, weil ihre möglichkeiten auf dem arbeitsmarkt fak- tisch beschränkt sind. wie erleben es menschen, wenn nicht nur der job abhanden kommt, sondern gleich die ganze firma? das ist tatsächlich eine massive verluster- fahrung, die vergleichbar ist mit trauerfäl- len in der familie. für viele betroffene ist die firma so etwas wie familie oder hei- mat gewesen. hier geht es darum, ob es die wie problematisch sind aus psychi- atrischer sicht befristete verträge und damit verbundene ständige jobwechsel, unterbrochen durch phasen der arbeitslo- sigkeit? in solchen fällen ist das mehr eine frage, wie menschen mit dieser beruflichen situa- tion jeweils umgehen. das ist nicht per se ein faktor, der zu einer spezifischen er- krankung führt. natürlich kann das auch eine schwierige lage sein, steht aber nicht im vordergrund, wenn es um auslöser et- wa für eine depressive erkrankung geht. was macht denn eigentlich die arbeit so unverzichtbar, abgesehen vom regel- mäßigen einkommen? sie ist eine bestätigung des wertes von menschen. der entscheidende punkt von arbeit ist: wertschätzung, aufgaben haben, gesehen werden, ein strukturierter tagesab- lauf. arbeit, die etwa vom vorgesetzten nicht wertgeschätzt wird, ist demzufolge auch ein problem. es geht aus psychologi- scher und psychiatrischer sicht um die funktion von arbeit. wenn diese funktion wegfällt, hat das folgen. das gespräch führte claus peter kosfeld. t professor arno deister ist chefarzt des zentrums für psychosoziale medizin des klinikums itzehoe und präsident der deutschen gesellschaft für psychiatrie und psychotherapie, psychosomatik und nervenheilkunde (dgppn). noch vor 70 jahren bestand der alltag der meisten menschen in deutschland im we- sentlichen aus arbeit. die arbeiter hatten weder urlaubsansprüche noch freie wo- chenenden. die gewerkschaften bewirkten schließlich in teilweise heftigen und lang- wierigen arbeitskämpfen deutliche verbes- serungen für arbeiter und angestellte. so setzten sich in deutschland und europa allmählich neue sozialstandards durch. im 20. jahrhundert halbierte sich die durch- schnittliche arbeitszeit in europa schritt- weise von 78 auf 39 stunden pro woche. 1955 warb der dgb offensiv für die fünf- tage-woche mit 40 stunden unter dem slogan „samstags gehört vati mir“. 1967 wurde die gewerkschaftsforderung in der metallindustrie dann realität. damit war das tor zur „freizeitindustrie“ offen, ein heute milliardenschwerer markt mit tausenden jobs und zahllosen ange- boten. so lagen die ausgaben der privaten haushalte in deutschland für freizeit, un- terhaltung und kultur 2015 bei rund 146 milliarden euro. allein der tourismus ist ein riesiger, ständig wachsender markt. die stark verschachtelte freizeitbranche a p d / e c n a i l l a - e r u t c i p © freizeitspaß im tropical island bei berlin lockt mit diversen ideen zur selbstverwirk- lichung nach dem arbeitstag und am wo- chenende, darunter fitnessstudios, well- nessangebote, vereinssport oder auch „es- cape rooms“, um einfach mal alles hinter sich zu lassen. „man darf allerdings nicht vergessen, dass 90 prozent der umsätze der freizeit- und tourismusindustrie auf ein drittel der ge- sellschaft zurückzuführen sind“, sagt peter zellmann vom institut für freizeit- und tourismusforschung in wien. zwei drittel verbrächten ihre zeit weniger konsumori- entiert. auch nach berechnungen der bat- stiftung für zukunftsfragen gönnen sich 97 prozent der deutschen in ihrer freizeit vor allem eine fernseh-pause, dicht gefolgt von internetnutzung und telefonaten. me- dien und technik dominieren den alltag. laut einer studie der oecd verbringt die deutsche bevölkerung im alter zwischen 15 und 64 jahren nur noch 18 prozent ih- rer zeit mit arbeit oder ausbildung. jedoch gibt es auch viele menschen, die lieber auf etwas freizeit verzichten und stattdessen einer fair bezahlten arbeit nachgehen wür- den, wenn der arbeitsmarkt dies denn her- gäbe. vollzeitbeschäftigte in deutschland arbei- ten derzeit im schnitt 41,4 stunden pro woche. mit steigendem einkommen spiele der „zeitwohlstand“ eine immer größere rolle, sagt der tarifexperte norbert reuter von der dienstleistungsgewerkschaft verdi. deshalb gehe es bei den tarifverhandlun- gen wieder stärker um das thema arbeits- zeit, jedoch gekoppelt an die forderung nach höheren löhnen, denn: „arbeitszeit- verkürzung muss man sich auch leisten können.“ der gewerkschafter gibt zu be- denken, dass der in den vergangenen jahr- zehnten massiv ausgebaute freizeitanteil ohne den produktivitätsanstieg als folge des technischen fortschritts nicht möglich gewesen wäre. „der hätte auch genutzt werden können, um mehr zu produzieren. aber offensichtlich war den menschen die freizeit wichtiger.“ nelly ritz t i r e g r u b a d u a c n p p g d © / l