"vier jahre genügen" 2 menschen und meinungen das parlament - nr. 44-45 - 30. oktober 2017 gastkommentare genügt ein hauptausschuss? beteiligung sichern pro t a v i r p © holger möhle, »general-anzeiger«, bonn r e u a b n e g r ü j © heribert prantl »süddeutsche zeitung«, münchen a uch in diesen tagen und wochen, in de- nen sondiert und verhandelt wird, ist deutschland nicht ohne führung. die (alte) bundesregierung führt die ge- schäfte weiter. deutschland ist keine republik der bananen-barone, sondern viertstärkste volkswirt- schaft der erde. die welt dreht sich weiter, die kriege und krisen werden nicht angehalten, die bundeswehr steht weiter in auslandseinsätzen, während cdu, csu, fdp und grüne die beste route für ihre überfahrt nach jamaika suchen. es muss also weiter regiert und entschieden werden. weil selbst die versiertesten glaskugel-deuter der- zeit nicht sehen, wann die nächste bundesregie- rung steht, kommt der sogenannte hauptaus- schuss ins spiel. der bundestag sollte ihn – wie bereits vor vier jahren – einsetzen. es ist kein gre- mium, das angst machen muss, vor allem ist er keine nebenregierung. aber er sichert doch die beteiligung des bundestages in einer zeit, in dem dort noch nicht alle ausschüsse arbeiten, weil ja auch der ressortzuschnitt der neuen bundesminis- terien noch nicht feststehen kann. aktuelle oder drängende entscheidungen zu zentralen belangen wie europa, verteidigung, petitionen oder haus- halt wären durch befassung durch den hauptaus- schuss abgedeckt. niemand wird dadurch über- gangen, sondern im gegenteil: eine geschäftsfüh- rende bundesregierung kann sich auf ein gremi- um abstützen, dass gewissermaßen gleichfalls ge- schäftsführend für die entscheidungsfähigkeit des bundestages steht. wie war das gleich nochmal: die parlamentarische demokratie ist wehrhaft? gut so, wehrhaft auch gegen mangelnde beteili- gung des parlaments in einer phase des über- gangs. hauptsache, kontrolle der regierung, hauptsache, hauptausschuss. dent das „herz der demokratie“ nennt, leidet zum auftakt der wahlpe- riode an insuffizienz. es handelt sich um ein künstlich herbeigeführtes parlamentarisches koma – die natürliche pulsfrequenz wird drastisch gesenkt. bei gesunden menschen liegt der ruhepuls bei 60 bis 80 schlägen pro minuten. die pulsfre- quenz des neuen bundestags liegt allenfalls bei 20 bis 30. warum? die fraktionen der sich bildenden jamaika- koalition weigern sich, das parlament in seine rech- te einzusetzen, bevor die regierung gebildet ist. sie weigern sich, dem parlament zu geben, was ihm laut grundgesetz zusteht – ausschüsse. schon zum auftakt des 18. bundestags haben die damaligen koalitionsverhandler, union und spd, so gehandelt und die ausschüsse erst nach monaten eingesetzt, nach der regierungsbildung – aus be- quemlichkeit; ansonsten könnte ein ausschussvor- sitzender neu gewählt werden müssen, wenn ein erster später minister wird. nach dieser logik dürf- ten in der konstituierungssitzung auch keine vize- präsidenten gewählt werden – einer könnte ja spä- ter minister werden. bequemlichkeit ist aber kein grund, das grundgesetz zu missachten. es reicht nicht, wie damals nur einen hauptaus- schuss einzusetzen, der die geschäfte des bundes- tags mehr schlecht als recht verwaltet. das ist nicht gut, das ist nicht recht, das ist unverfroren. die wähler haben nicht einen mickrigen hauptaus- schuss gewählt, sondern einen ganzen bundestag. die monatelange verweigerung ordentlicher aus- schussarbeit ist verfassungswidrig. sie behindert das parlament. die fraktionen der künftigen regie- rungsparteien erniedrigen den bundestag. schlecht, nicht recht contra der bundestag, den sein neuer präsi- mehr zum thema der woche auf den seiten 1 bis 7. kontakt: gastautor.das-parlament@bundestag.de herausgeber deutscher bundestag platz der republik 1, 11011 berlin fotos stephan roters mit der ständigen beilage aus politik und zeitgeschichte issn 0479-611 x (verantwortlich: bundeszentrale für politische bildung) redaktionsschluss 27. oktober 2017 anschrift der redaktion (außer beilage) platz der republik 1, 11011 berlin telefon (0 30)2 27-3 05 15 telefax (0 30)2 27-3 65 24 internet: http://www.das-parlament.de e-mail: redaktion.das-parlament@ bundestag.de chefredakteur jörg biallas (jbi) druck und layout frankfurter societäts-druckerei gmbh kurhessenstraße 4 – 6 64546 mörfelden-walldorf leserservice/abonnement frankfurter societäts-medien gmbh c/o intime media services gmbh postfach 1363 82034 deisenhofen telefon (0 89) 8 58 53-8 32 telefax (0 89) 8 58 53-6 28 32 e-mail: fs-medien@ intime-media-services.de abonnement jahresabonnement 25,80 €; für schüler, studenten und auszubildende (nachweis erforderlich) 13,80 € (im ausland zuzüglich versandkosten) alle preise inkl. 7% mwst. kündigung jeweils drei wochen vor ablauf des berechnungszeitraums. ein kostenloses probeabonnement für vier ausgaben kann bei unserer vertriebsabteilung angefordert werden. namentlich gekennzeichnete artikel stellen nicht unbedingt die meinung der redaktion dar. für unverlangte einsendungen wird keine haftung übernommen. nachdruck nur mit genehmigung der redaktion. für unterrichtszwecke können kopien in klassenstärke angefertigt werden. verantwortliche redakteure claudia heine (che) alexander heinrich (ahe), stellv. cvd claus peter kosfeld (pk) hans krump (kru), cvd hans-jürgen leersch (hle) johanna metz (joh) kristina pezzei (pez) sören christian reimer (scr) helmut stoltenberg (sto) alexander weinlein (aw) anzeigenverkauf, anzeigenverwaltung, disposition frankfurter societäts-medien gmbh c/o intime media services gmbh postfach 1363 82034 deisenhofen telefon (0 89) 8 58 53-8 32 telefax (0 89) 8 58 53-6 28 32 e-mail: fs-medien-anzeigen@ intime-media-services.de „das parlament“ ist mitglied der informationsgesellschaft zur feststellung der verbreitung von werbeträgern e. v. (ivw) für die herstellung der wochenzeitung „das parlament“ wird ausschließlich recycling-papier verwendet. die spd fordert, die kanzlerin alle drei monate zur regierungsbefragung ins parlament zu laden. ich will die positionen der geschäftsord- nungsdebatte bei der konstituierenden sitzung nicht im einzelnen bewerten. grundsätzlich habe ich die debatte aber man muss das genau abwägen. aber ich glaube, dass es eine aufgeschlossenheit im bundestag gibt, wenigstens über mehr plebiszitäre elemente nachzudenken. an- weiterführende links zu den themen dieser seite finden sie in unserem e-paper herr präsident, derzeit nehmen re- gelmäßig zwei dutzend unionspoliti- ker an den sondierungsgesprächen zur regierungsbildung teil. ist es für sie komisch, diesmal nicht dabei zu sein? nein, ich habe mich entschieden, eine andere große aufgabe wahrzunehmen und das ist eine große ehre für mich. es war keine leichte entscheidung, das amt des finanzministers aufzugeben. aber acht jahre sind genug. als die unions- fraktion mir mitgeteilt hat, dass sie mich gern als bundestagspräsidenten vorschla- gen würde, habe ich mich gefreut und mich unmittelbar aus den mit der regie- rungstätigkeit verbundenen geschäften zurückgezogen. ich bin nach vier jahren als innenminister und acht jahren als fi- nanzminister in der merkel-regierung, die ich mit leib und seele ausgefüllt ha- be, in einer abkühlphase. wenn ich jetzt die sondierungsgespräche sehe, denke ich: das habe ich alles schon gehabt, da fehlt mir persönlich nichts. ich finde die neue aufgabe auch anders, schön und ehrenvoll. können sie sich noch erinnern, was sie empfunden haben, als sie 1972, al- so vor 45 jahren, ihre erste bundestags- sitzung als abgeordneter erlebt haben? ja, klar, ich war angespannt. als relativ junger mann damals hatte ich einen gro- ßen respekt vor dem deutschen bundes- tag und all diesen politikern, die ich zum großen teil ja nur aus den medien kann- te. es war eine mischung aus ehrfurcht und respekt. aber natürlich wollte ich auch die welt verändern. das alles ist schon sehr bewegend gewesen. und ich kann mich noch gut daran erinnern, dass die erfahrenen kollegen mit uns neuen sehr kollegial umgegangen sind. das ha- be ich später auch so gehalten und im- mer dafür plädiert, neuen kollegen unter die arme zu greifen. übrigens nicht nur solchen aus der eigenen fraktion. seitdem haben sie acht ihrer insge- samt zwölf vorgänger als parlaments- präsidenten selbst als abgeordneter er- lebt. lassen sich aus diesen erfahrun- gen lehren für die eigene amtsführung ableiten? als ich 1972 in den bundestag kam, wur- de mit annemarie renger eine sozialde- mokratin bundestagspräsidentin. das war für die cdu/csu eine ganz neue und zunächst einmal schwierige erfah- rung. dann kamen karl carstens, richard stücklen, rainer barzel, philipp jennin- ger, rita süssmuth und wolfgang thierse. jeder hat das amt auf ganz eigene weise gestaltet. schließlich hatten wir mit nor- bert lammert, das ist im bundestag auf allen seiten unbestritten, über zwölf jah- re einen großartigen präsidenten. ich bin wiederum eine eigene persönlichkeit. und mit 75 jahren muss ich mir keinen anderen mehr als vorbild nehmen, son- dern meine rolle mit meinen möglich- keiten so gut wie möglich wahrnehmen. in ihrer antrittsrede haben sie da- rauf verwiesen, im bundestag schlage „das herz der demokratie“. wird die bedeutung des parlaments in der öf- fentlichkeit hinreichend wahrgenom- men? parlamentarier sind wahrscheinlich der meinung, diese frage mit nein beant- worten zu müssen. aber der grad der ak- zeptanz liegt an uns, den abgeordneten. es hat also wenig sinn, sich darüber öf- fentlich zu beklagen. der bundestag muss versuchen, seine aufgaben so gut wie möglich wahrzunehmen. wobei klar ist: für die mehrheit ist die dominieren- de aufgabe zwangsläufig, eine regierung zu bilden und zu tragen. und für die op- position, die regierung im kampf zwi- schen mehrheit und minderheit auf den prüfstand zu stellen. einerseits gelegentlich werden bundestagssitzungen als dröge empfunden. brau- chen wir eine reform der parlamentarischen ab- läufe? die erwartungen der öf- fentlichkeit sind schwer zu fassen. sind kontroversen und span- nende auseinandersetzun- gen gefragt. andererseits gibt es ein grundgefühl in der bevölkerung, das besagt: die parla- mentarier sollen sich nicht so viel strei- ten, sondern gemeinsam an einem strang ziehen. wenn sie das dann tun, ist es auch wieder nicht recht. dann heißt es: bundestagssitzungen sind dröge. dabei wird schnell vergessen, dass das parla- ment ein forum mit einem unglaubli- chen ausmaß an sachverstand, an exper- tise, an information ist. das wird öffent- lich nicht immer sichtbar. da können wir sicher besser werden, keine frage. aber wir sollten auch klar machen: die einfa- che parlamentsreform, die alle probleme löst, gibt es nicht. »vier jahre genügen« wolfgang schäuble der neue bundestagspräsident hält eine verlängerung der legislatur- periode für unnötig und will eine reform parlamentarischer abläufe jetzt schnell prüfen © wolfgang-schaeuble.de dererseits wird gerade in unserer von kommunikation geprägten welt, in der partikulare interessen sich stark verbrei- ten können, eine stabile, von freiheit und rechtsstaatlichkeit geprägte demo- kratie ohne das prinzip der repräsentati- on nicht funktionieren. davon bin ich zutiefst überzeugt. ist der bundestag als einziges di- rekt gewähltes verfassungsorgan selbst- bewusst genug gegenüber der regie- rung? der bundestag ist ja eben nicht wie im präsidialen verfassungssystem der verei- nigten staaten von amerika nur der ge- genpart zur regierung, sondern muss in seiner mehrheit auch die regierung tra- gen. die das parlament aber gleichzeitig kontrollieren soll. wie lässt sich dieser spannungsbogen für den abgeordneten ausfüllen? ganz gut. unsere freiheitliche verfassung beruht wie alle rechtsstaatlichen verfas- sungen auf dem prinzip von checks und balances. nur: das mehrheitsprinzip al- lein macht noch keine stabile ordnung. das zweite relevante element ist das recht. und damit auch der schutz von minderheiten, das recht jedes einzelnen und unabhängiger institutionen. deswe- gen hat der bundestag ja auch nicht alles zu entscheiden. so war die geldpolitik seit 1949 nicht der politischen mehrheit anvertraut. ebenfalls steht die unabhän- gigkeit der justiz für jeden überzeugten demokraten außer frage. der bundestag hat also mehrere funktionen: politisch muss die mehrheit die regierung tragen; gleichzeitig hat der bundestag die aufga- be, die regierung zu kontrollieren. das heißt, er muss sich selbst kontrollieren. daher geben wir uns ja auch regeln, wie wir abgeordnete uns selbst verhalten sol- len. darüber wacht beispielsweise der äl- testenrat. einer, der acht jahre lang fi- nanzminister war, wird ohnehin sagen: man muss sehr aufpassen, dass immer auch andere darauf achten, dass das eige- ne handeln nicht unbegrenzt ist. es braucht immer kontrolle. welchen ratschlag gibt der dienst- älteste bundestagsabgeordnete seinen erstmals ins parlament gewählten kol- legen? ich erinnere mich an ein gespräch mit meinen damaligen unions-fraktionsvor- sitzenden rainer barzel. der hat damals zu mir gesagt: „wissen sie, reden kön- nen hier alle, sonst wären sie nicht hier. was sie hier lernen können und lernen müssen oder sollten, ist zuhören.“ ge- nau zuhören, das ist der eine ratschlag. der zweite ratschlag ist, zu verinnerli- chen, dass man einer von 709 abgeord- neten ist. man hat seine eigene verant- wortung, wie es im grundgesetz steht. aber man ist ebenfalls gewählt als teil einer politischen gemeinschaft. daraus ergibt sich ein guter maßstab für die richtige balance zwischen selbstbewusst- sein und der bereitschaft, sich auf argu- mente anderer einzulassen und so eini- gungen zu ermöglichen. ich habe ja auch in der konstituierenden sitzung in meiner einleitenden bemerkung ver- sucht zu beschreiben, dass es ein kom- plizierter prozess ist, interessen und mei- nungen zu vertreten, aber auch mitzu- wirken an der notwenigkeit, die vielfalt von interessen durch kompromisse zu reduzieren und mehrheitsentscheidun- gen herbeizuführen. als einen guten auftakt für die legislatur- periode empfunden. die beiträge der parlamentarischen geschäftsführer ha- ben die unterschiedlichen positionen sehr gut klar gemacht. ich finde die entscheidung richtig zu sagen: ja, nie- mand bestreitet, dass es handlungsbedarf gibt; al- so sollten wir die einzel- nen punkte genauer prü- fen. im rahmen meiner möglich- keiten darauf hinwirken, dass ge- schieht. es ist für das re- gierungslager wie für die opposition pflicht und im übrigen auch eine chance, dass der souverän, dass die öf- fentlichkeit versteht, was wir machen. ich werde jetzt schnell das »ich bin nach meiner zeit in der regierung merkel gerade in einer ab- kühlphase.« gehört zu dem handlungsbedarf diskutiert auch eine verlängerung der legislaturperiode von vier auf fünf jahre? darüber müsste im bun- destag und mehrheitlich entschieden werden. ich persönlich bin nicht der meinung, dass eine längere legisla- turperiode von vorteil wä- re. jedenfalls habe ich die- sen eindruck in all den jahren als parlamentarier nicht gewinnen können. vier jahre sind ein ordent- liches maß. ich war chef des kanzleram- tes, fraktionsvorsitzender und parlamen- tarischer geschäftsführer. in all diesen ämtern muss man wissen, dass ein or- »wir hatten mit norbert lammert über zwölf jahre einen groß- artigen präsidenten.« auch in den fraktionen? dass fraktionen nach intensiven diskus- sionen am ende möglichst gemeinsam handeln, ist ein gebot der klugheit. des- wegen sind die debatten, die ich in der öffentlichkeit über frakti- onszwang höre, unsinn. jeder abgeordnete ist frei und kann machen, was er will. aber wenn er klug ist, weiß er, dass er alleine nicht so viel erreichen kann. und dass diejeni- gen, die ihn gewählt ha- ben, ihn auch nicht nur als solisten gewählt ha- ben. das sagt einer, der so oft wie kein anderer in seinem wahlkreis direkt gewählt worden ist. »die debatte über den fraktions- zwang in der öffentlich- keit ist unsinn.« das gespräch führten helmut stoltenberg und jörg biallas. t wolfgang schäuble (75) wurde am vergangenen dienstag zum präsidenten des deutschen bundestages gewählt. zwischen 1984 und 1991 sowie von 2005 bis 20017 gehörte er in ver- schiedenen positionen der bundes- regierung an. unter anderem war schäuble innen- und finanzminister. 1990 handelte schäuble maßgeblich den deutschen einigungsvertrag mit aus. von 1998 bis 2000 war schäuble bundesvorsitzender der cdu. dentliches, seriöses gesetzgebungsverfah- ren ein jahr lang dauert. also darf man eben nicht erst drei monate vor ende der wahlperiode damit anfangen. an diesem prinzip würde sich auch bei einem zusätzlichen jahr nichts ändern aber über das wahl- recht, das uns den größ- ten bundestag aller zei- ten beschert hat, müsste man schon nachdenken, oder? auch hier gilt: die fraktio- nen im bundestag müssen sich einigen. das wird nicht einfach. aber natür- lich ist der hinweis richtig, dass das parlament sehr groß geworden ist. deswegen wird es einen neuen an- lauf geben müssen. ich habe sehr bedau- ert, dass das in der letzten legislaturperi- ode nicht gelungen ist und werde deshalb ver- trauensvolle gespräche mit den verantwortlichen in den fraktionen führen. auch der ruf, plebis- zitäre elemente auf bun- desebene einzuführen, wird lauter. von allen im bundestag vertrete- nen parteien ist ihre die einzige, die das nicht in der einen oder anderen form fordert.