kein sekt mit putin thema: menschenrechte in russland debatte aus anlass der fußball-wm seite 1-3 parteien und geld große koalition setzt außerordentliche anhebung der finanzen durch seite 6 parteien und stiftungen parlamentarier debattieren über den rechtsstatus der einrichtungen seite 11 berlin, montag 18. juni 2018 www.das-parlament.de 68. jahrgang | nr. 25-26 | preis 1 € | a 5544 fussball-wm bundesregierung soll politik russlands deutlich kritisieren, fordert der bundestag kein sekt mit putin der ball rollt. die fußball- kopf der woche kanzlerin unter druck a p d / e c n a i l l a - e r u t c i p © angela merkel so unter druck in den eigenen reihen stand die kanzlerin in ihrer 13-jährigen amtszeit noch nie: in der sitzung der unionsfrak- tion bekundete die große mehrzahl der redner sympathie für die pläne von innen- minister horst seeho- fer (csu), flüchtlinge an der grenze abzu- weisen, wenn sie in anderen europäischen registriert staaten wurden. dagegen hatte sich angela merkel (cdu) mit blick auf eine europäische asylpolitik stets gewandt. die kanz- lerin spielte auf zeit, sie wolle erst den eu-gipfel zu dem thema in zwei wochen abwarten. dafür warb zwei tage später in einer sondersitzung der cdu-abgeordneten die mehrzahl der redner und stärkte ihr den rücken. erstmals gab es getrennte sitzungen in der unionsfraktion, auch die csu- abgeordneten waren unter sich. „ich fühle mich gestärkt“, sagte merkel danach. seehofer aber drohte mit einem alleingang, einem ministerent- kru t scheid für zurückweisungen (seite 9). zahl der woche 1.023 tage sind seit dem legendären „wir schaffen das“-ausspruch von bundeskanzlerin angela merkel (cdu) am 31. august 2015 in der bun- despressekonferenz in berlin vergangen, mit der sie die massenweise aufnahme von flüchtlingen in deutschland rechtfertigte. zitat der woche »wir sind im endspiel um die glaub- würdigkeit.« markus söder (csu), bayerischer minister- präsident, vergangene woche in der sonder- sitzung der csu-abgeordneten zum asyl- streit in der union in dieser woche innenpolitik ausländer flüchtlings- und migrationspolitik seite 5 bundestag debattiert über europa und die welt großbritannien stimmt über brexit-gesetz ab unterhaus in london seite 7 weltmeisterschaft 2018 in russland hat begonnen. in einem land, in dem es laut der menschenrechts- organisation „memorial“ 158 politische gefangenen gibt, das in sa- chen pressefreiheit im ranking von „re- porter ohne grenzen“ auf rang 148 von 180 staaten liegt und dessen präsident wladimir putin in den vergangenen sechs jahren mehr als 30 gesetze und gesetzes- änderungen durchgesetzt hat, die die bür- gerrechte einschränken. darunter zählt die regelung, dass sich organisationen, die in- ternationale unterstützungsgelder erhal- ten, als „ausländische agenten“ registrieren lassen müssen. ebenso auch gesetze, die die rechte homosexueller einschränken. während sich am vergangenen donnerstag in moskau im wm-eröffnungsspiel der gastgeber und saudi-arabien gegenüber- standen, debattierte der bundestag auf ba- sis von anträgen der fdp (19/2672) und der grünen (19/2667) darüber, welcher politischer umgang mit wm-gastgeber pu- tin, aber auch mit den verantwortlichen des weltfußballverbandes fifa angemessen sei. ein boykott, da herrschte einigkeit, sei der falsche weg. ein „buisness as usual“ seitens der bundesregierung gehe aber auch nicht, wie manuel sarrazin (grüne) betonte. statt mit russlands präsident pu- tin oder fifa-chef infantino „auf der vip- tribüne zu kuscheln und sekt zu trinken“, müsse sie sich für politische gefangene einsetzen und die vorhandenen probleme klar ansprechen, forderte er. brücken bauen roderich kiesewetter (cdu) gab sich hoffnungsvoll. die wm könne brücken bauen über abgründe, die die russische führung in den letzten jahren verursacht habe, sagte der unionsabgeord- nete. aber: „der sport wird uns nicht verei- nen, wenn wir nicht gezielt die mängel an- sprechen, die das deutsch-russische und das europäisch-russische verhältnis belas- ten“, fügte er hinzu. wenn präsident putin versucht, mit der wm von seiner schlechten menschen- rechtsbilanz abzulenken, sollte der spieß umgedreht werden, befand britta dassler (fdp). „wir sollten die schattenseiten der russischen regierung beleuchten“, sagte sie. dassler verwies auch auf zuletzt stattge- fundene demonstrationen der bevölke- rung in russland. dies zeige, wie stark der wunsch nach rechtsstaatlichkeit in der be- völkerung sei. auch aus sicht von andre hahn (die lin- ke) gibt es „keinen grund, die zweifellos starker mann russland: wie dieser fan beim auftaktsieg seiner mannschaft präsentiert sich auch die führung des landes gern als unschlagbar. © picture-alliance/dpa cherheit, wie es heißt“, sagte die vorsitzen- de des sportausschusses. ed i to r ia l vorhandenen defizite russlands zu be- schönigen“. gleichwohl könne er sich des eindrucks nicht erwehren, dass hier mit zweierlei maß gemessen werde. es sei be- fremdlich, dass derartige anträge immer dann in den bundestag eingebracht wür- den, wenn es gegen russland gehe. bei an- deren staaten sei die sensi- bilität offenbar deutlich we- niger ausgeprägt. hahn ver- wies auf die situation 1996 in atlanta, wo vor den som- merspielen 9.000 obdachlo- se afroamerikaner festge- setzt worden seien. als 2002 die olympischen winter- spiele in salt lake city statt- gefunden haben, sei zum gleichen zeitpunkt guanta- namo eingerichtet worden, „wo bis heute menschen oh- ne prozess und urteil festge- halten werden“. zu all diesen dingen habe es keinen antrag im bundestag gegeben, sagte der linken-abgeordnete. kritik an den anträgen gab es von seiten der afd. darin fänden sich viele binsen- weisheiten, bemängelte jürgen braun (afd). das sich „zwei formell deutsche na- tionalspieler“, özil und gundogan, dem türkischen „gewaltherrscher erdogan an den hals geworfen“ hätten, finde hingegen keine erwähnung. anders als nationalspie- ler emre can, der sich dem treffen mit er- dogan verweigert habe, seien die beiden sogar noch „mit einer privataudienz beim bundespräsidenten“ be- lohnt worden, kritisierte braun. weiter ging es in der de- batte mit einem blick in die zukunft. auf russland folgt in vier jahren katar als ausrichter der wm. „wir beobachten mit gro- ßer sorge, dass internatio- nale sportgroßveranstal- tungen immer häufiger in länder vergeben werden, in denen presse- und mei- nungsfreiheit sowie men- schenrechte nicht gewahrt, sondern mit füßen getreten werden“, beklagte dagmar freitag (spd). als „beispiellosen vorgang“ bezeichnete sie es, das der journalist hajo seppelt von der ard-dopingredaktion nicht in russland dabei sein könne. „we- gen unkalkulierbarer risiken für seine si- »wir sollten die schatten- seiten der russischen regierung beleuchten.« britta dassler (fdp) gyde auf augenhöhe die vorsitzende des men- schenrechtsausschusses, jensen (fdp), befand: „wenn wir gesellschaftliche werte glaubhaft vertreten wollen, dann dürfen wir großereignisse zukünftig nur an echte demokratien vergeben.“ dem entgegnete frank steffel (cdu), dann könnten solche veranstaltungen wohl nur noch in europa stattfinden. „das kann nicht unsere politische antwort sein“, sagte er. einig war er sich mit jensen in der for- derung, nicht den fehler zu machen, russ- land und putin gleichzusetzen. steffel zi- tierte den unlängst aus der haft entlasse- nen russischen oppositionsführer alexej nawalnyj. der habe auf die frage, ob er russland die daumen drücke, geantwortet: ja, weil russland mehr sei als putin. wie ein sportlich fairer umgang des bun- destags mit der russischen duma aussehen kann, thomas oppermann (spd). vor einigen tagen habe der fc bun- destag gegen ein team der duma gespielt. „wir haben zwar verloren, aber auf augen- höhe gespielt und die situation für gesprä- che genutzt“, sagte er. götz hausding t erläuterte richtige debatte von jörg biallas geben sie es zu: sie hatten nicht die spur ei- nes schlechten gewissens, als sie der deut- schen nationalelf beim auftaktspiel der fuß- ball-weltmeisterschaft die daumen gedrückt haben. warum? nun, immerhin findet diese wm in einem land statt, das bei aufrichtigen demokraten für stirnrunzeln sorgt. autoritäre strukturen sowie konflikte mit menschen- und völkerrecht böten eigentlich anlass, in den fußballarenen protest-plakate statt fan-flag- gen zu schwenken. aber die (verständliche) begeisterung für den sport verdrängt die (be- rechtigte) kritik an der politik. wieder einmal. denn diese fußball-wm ist kein einzelfall. zuletzt wurde über die frage, ob und wie sport und politik zu trennen sind (siehe auch gastkommentare auf seite 2), bei den olympischen spielen 2012 in china disku- tiert. damals wie heute bleibt der erkenntnis- gewinn überschaubar. für die zukunft ist bes- serung leider nicht in sicht. der irrwitzige vor- stoß, die fußball-wm 2022 im wüstenstaat katar auszurichten, soll schon jetzt hunderte arbeiter an stadionneubauten das leben ge- kostet haben. auch das ist ausdruck einer hal- tung, die einer an den werten einer liberalen gesellschaft orientierten moral zuwiderläuft. sport-großereignisse sind immer auch eine politische leistungsshow des gastgebers. russland hatte das schon als ausrichter der olympischen winterspiele 2014 in sotschi be- wiesen. vier jahre später setzt die nation alles daran, sich selbst zu übertreffen: 13 milliarden us-dollar wurden in die wm-infrastruktur in- vestiert. das ist schon deshalb wahnsinn, weil allein acht fußballstadien neu gebaut worden sind, die nach der wm niemand braucht. angesichts solcher dimensionen ist bemer- kenswert, wie hoch die welle der empörung hierzulande schwappt, wenn zwei einfältige türkischstämmige nationalkicker mit deut- schem pass einen autokratischen staatschef vom bosporus treffen. gewiss, auch das war ir- gendwie politisch, nicht von klugheit getrie- ben, letztlich aber so bedeutsam wie das wm- vorrundenspiel iran gegen marokko. sport und politik stehen seit jeher in einer be- ziehung zueinander. große sportfeste können helfen, beispielsweise verletzungen von men- schenrechten in den fokus der weltöffentlich- keit zu rücken. auch deshalb war es richtig, dass der deutsche bundestag am tag der wm- eröffnung über die innenpolitische situation in russland debattiert hat. wirtschaft und finanzen welthandel abkommen mit kanada und japan seite 10 bundestag debattiert über kehrseite lesung spricht über die neue mittelklasse seite 12 der soziologe andreas reckwitz mit der beilage das parlament frankfurter societäts-druckerei gmbh 60268 frankfurt am main 1 2 6 2 5 4 194560 401004 schäuble weist vereinnahmung des parlaments zurück bundestag parlamentspräsident kritisiert afd nach eigenmächtiger schweige-aktion: »wir müssen maß halten« bundestagspräsident wolfgang schäuble (cdu) hat das verhalten des afd-abge- ordneten thomas seitz und seiner fraktion wegen des versuchs einer eigenmächtigen schweigeminute im fall der getöteten su- sanna während einer parlamentsdebatte entschieden zurückgewiesen. es sei mit der würde des verfassungsorgans deutscher bundestag „nicht vereinbar, wenn auch nur der anschein der instrumentalisierung der opfer von verbrechen entsteht“, sagte schäuble am vergangenen donnerstag zu beginn der plenarsitzung des parlaments. ein einzelner abgeordneter dürfe „den bundestag nicht durch einen eigenmächti- gen aufruf zu einer schweigeminute für seine zwecke vereinnahmen wollen – auch nicht eine einzelne fraktion“. seitz hatte am vorletzten freitag in einer bundestagsdebatte gesagt, er widme seine redezeit der in wiesbaden tot aufgefunde- nen 14-jährgen susanna, und dann ge- schwiegen, während sich die abgeordneten der afd von ihren plätzen erhoben. tatver- dächtig im fall susanna ist ein flüchtling, der derzeit in untersuchungshaft befindet. bundestagsvizepräsidentin claudia roth (grüne) hatte als amtierende sitzungsleite- bundestagspräsident schäuble vergangenen donnerstag im plenum © picture-alliance/dpa rin seitz ermahnt, zum thema der debatte zu sprechen, und ihn schließlich des red- nerpultes verwiesen, als er ihrer aufforde- rung nicht folge leistete. schäuble verwies vergangene woche da- rauf, dass unmittelbar nach dem vorfall im plenarsaal auf den seiten der afd-fraktion in einem sozialen netzwerk ein video des vorgangs veröffentlicht worden sei. in der folge sei roth in zahllosen kommentaren, in emails und anrufen „verleumdet, belei- digt und bedroht“ worden, und dies zum teil auf eine weise, die ihn veranlasst habe, polizeiliche schutzmaßnahmen für sie prüfen zu lassen. schäuble unterstrich, dass die redezeit ei- nes abgeordneten auf wortbeiträge be- schränkt sei und es unabhängig davon in der kompetenz des parlamentspräsidenten liege, über schweigeminuten und gedenk- worte im plenum zu entscheiden. der bundestagspräsident betonte zugleich, dass demokratischer streit im parlament notwendig sei, aber nach regeln geführt werden müsse. „es gehört zu unserer ver- antwortung, dass wir aus der erfahrung un- serer geschichte lernen, wie leicht verant- wortungsloser streit zu hass und einer es- kalation von gewalt führen kann“, sagte er. das verhalten im parlament habe auch folgen für die öffentliche debatte in der gesellschaft. es könne vorbildlich sein für eine zivilisierte auseinandersetzung, aber auch anlass sein für „hass und hetze“, für verrohung bis hin zu schlimmsten formen von gewalt. „wir müssen maß halten“, mahnte der parlamentspräsident, „um un- ser politisches und gesellschaftliches klima nicht zu vergiften“. helmut stoltenbergt weiterführende links zu den themen dieser seite finden sie in unserem e-paper