6 INNENPOLITIK Das Parlament - Nr. 12 - 18. März 2019 S ie hatten ihn gewarnt. Gleich am ersten Tag. Es gebe da einen unter den Heimbewohnern, der „ein bisschen Stress“ ma- che, einen „schlimmen Finger“. Auf den müsse er ein Auge ha- Sozialkompetenz, ben, hieß es. Wilhelm Bergs Berufsleben hatte soeben eine komplette Wende genommen. Er war gerade noch 61 Jahre alt, der nächste Ge- burtstag knapp vier Wochen entfernt. Mit Sozialarbeit hatte der ausgebildete Spediti- onskaufmann nie etwas am Hut gehabt, war lange Zeit selbständig gewesen. Doch jetzt, 2015, war er auf Jobsuche und hatte eine Anzeige der Stadt Emmerich gesehen. Gesucht wurden Mitarbeiter mit Englisch- kenntnissen, Einfüh- lungsvermögen. Berg bewarb sich und wur- de genommen. Am 1. September trat er seinen Dienst an als Betreuer in der Flücht- lingsunterkunft an der Tackenweide. Ge- meinsam mit seinem Kollegen Cyriaque Towenou wurde er für die Bewohner so et- was wie ein Universal-Problemlöser. Er half beim Ausfüllen von Formularen, bei der Wohnungssuche, verteilte alle 14 Tage die Schecks vom Sozialamt. „Im Endeffekt waren wir das Rundum-Betreuungspaket für die zahlreich erschienenen Asylanten“, sagte Berg in der vergangenen Woche dem Amri-Untersuchungsausschuss. Aliasnamen Gleich am ersten Arbeitstag sei ihm aufgefallen, dass an der Wand im Dienstzimmer eine Kopie der Meldebe- scheinigung eines einzigen Heimbewoh- ners hing, eines gewissen Mohammed Has- sa, mit Lichtbild. Auf dem Schreibtisch ha- be ein „Deckblatt“ gelegen, auf dem diver- se Aliasnamen des Mannes vermerkt waren sowie Delikte, die ihm zur Last gelegt wur- den. Berg wunderte sich: Ein solcher Auf- wand sei in „keinem anderen Fall“ getrie- ben worden. „Das war eine Ausnahme“, dass die Mitarbeiter der Unterkunft „in der Form“ für einen Bewohner „sensibilisiert“ worden seien. Der Mann sei ein besonde- rer Problemfall, deuteten Vorgesetzte und Kollegen an: „Wir waren gehalten, zu schauen, wie er sich benimmt, wenn wir ihn sehen.“ Dass dieser Mohammed Hassa in Wahrheit Anis Amri hieß, wusste Berg damals eben- so wenig wie er ahnen konnte, dass der Mann mehr als ein Jahr später auf dem Berliner Breitscheidplatz den bislang op- ferreichsten radikalislamischen Terroran- schlag in Deutschland verüben würde. Klar sei allerdings gewesen, dass er mit verschie- denen Namen und völlig ungeklärter Iden- tität unterwegs gewesen sei: „Es war ja nicht bekannt, welche Staatsangehörgkeit unser Freund Amri hatte. Er wurde als Ägypter geführt, als Tunesier, als Marokka- ner, das war ja sehr, sehr wechselhaft.“ Sein Geld habe Amri dennoch immer bekom- men. Da konnte er sich auf das Sozialamt verlassen, wenn Mitarbeiter der Unterkunft wegen seiner unklaren Identität Rückfra- gen stellten. Viel Mühe hatte Berg mit seinem Beob- achtungsauftrag in Sachen Amri nicht. Er habe den Mann insgesamt höchstens fünf oder sechs Mal zu Gesicht bekommen, in der Regel dann, wenn Zahltag war, und wieder Schecks verteilt wurden: „Eigent- lich war sein Bett immer leer.“ So habe er ihn als „sehr, sehr unauffällig“ in Erinne- KURZ NOTIERT Linke fordert Auflösung der Bundesbehörde Zitis Die Fraktion Die Linke dringt darauf, die Bundesbehörde „Zentrale Stelle für In- formationstechnik im Sicherheitsbe- reich“ (Zitis) aufzulösen. In einem An- trag (19/8270), den der Bundestag ver- gangene Woche an die zuständigen Aus- schüsse überwies, fordert die Fraktion die Bundesregierung auf, Zitis zum 31. Januar 2020 aufzulösen und deren Personal auf andere Bundesbehörden überzuleiten. In der Begründung schreibt die Fraktion, dass Zitis die Datensicher- heit und Grundrechte aller Bürger ge- fährde. Aufgabe der Behörde sei es, „staatliches Hacking durch technische Fähigkeiten zu unterstützen“. sto T Ordnungsgeld gegen Abgeordnete Strenz verhängt Das Präsidium des Bundestages hat ge- gen die CDU-Abgeordnete Karin Strenz wegen Verstoßes gegen die Verhaltens- regeln für Mitglieder des Parlaments ein Ordnungsgeld verhängt. Das geht aus ei- ner Unterrichtung (19/8390) des Präsidi- ums hervor. Das Ordnungsgeld wurde in Höhe von zwei Monatsdiäten oder knapp 20.000 Euro festgesetzt. Strenz wird vorgehalten, Nebeneinkünfte im Zusammenhang mit ihrem Engagement für Aserbaidschan nicht rechtzeitig ange- zeigt zu haben. pk T Weiterführende Links zu den Themen dieser Seite finden Sie in unserem E-Paper eID-Karte für ganz viele INNERES I FDP für Personalausweis auf dem Smartphone Bürger des Europäischen Wirtschaftsraums sollen nach dem Willen der Bundesregie- rung künftig eine sogenannte eID-Karte zum elektronischen Identitätsnachweis be- antragen können. Dies geht aus einem Ge- setzentwurf der Regierung (19/8038) her- vor, der vergangene Woche erstmals auf der Tagesordnung des Bundestags stand. In der Vorlage verweist die Bundesregie- rung darauf, dass der deutsche Personal- ausweis bereits mit einer Funktion zum elektronischen Identitätsnachweis ausge- stattet sei. Die eID-Funktion ermögliche Karteninhabern, ihre Identität gegenüber Online-Diensten einfach und sicher nach- zuweisen. Um sie einem größeren Perso- nenkreis zugänglich zu machen, soll laut Vorlage eine eID-Karte auf freiwilliger Basis eingeführt werden, die von Staatsangehöri- gen des Europäischen Wirtschaftsraums beantragt werden kann. Sie sei „kein Aus- weispapier im klassischen Sinne, sondern eine einfache Chipkarte, auf der die wich- tigsten Identifizierungsdaten (also insbe- sondere Name, Geburtsdatum und -ort, Adresse) abgespeichert sind“. Damit könne man „mittels der eID-Funktion deutsche E-Government-Dienstleistungen auf höchs- tem Vertrauensniveau“ abwickeln. Zugleich befasste sich das Parlament erst- mals mit einem Antrag der FDP-Fraktion (19/8265), in dem von der Bundesregie- rung eine „Gesamtstrategie für die Weiter- entwicklung des Personalausweises“ gefor- dert wird. Der Personalausweis müsse „auf das Smartphone oder andere sichere Spei- cherorte übertragbar sein, um als sicheres, nutzerfreundliches Grundelement der digi- talen Identifikation, auch ohne zusätzliche Hardware, dienen zu können“. sto T Kontrolle der Polizei INNERES II Linke fordert unabhängige Beschwerdestelle Die Bundesregierung soll nach dem Willen der Fraktion Die Linke eine unabhängige „Polizeibeschwerdestelle“ auf Bundesebene einrichten. Dazu soll sie dem Bundestag ei- nen Gesetzentwurf vorlegen, der die Kom- petenzen einer solchen Stelle festlegt, for- dert die Fraktion in einem Antrag (19/7119), den der Bundestag vergangene Woche an die Ausschüsse überwies. Die Möglichkeit, polizeiliches Verhalten von unabhängiger Seite überprüfen zu las- sen, sei „zentrales Gebot in einem Rechts- staat“, schreibt die Fraktion in der Vorlage. Die besondere Stellung der Polizei als be- waffnetem Ordnungshüter und Teil des staatlichen Gewaltmonopols erfordere in besonderer Weise die Möglichkeit, Fehlver- halten unabhängig von polizeilichen Strukturen überprüfen zu lassen. Lars Herrmann (AfD) sagte, der Antrag be- weise, „welch tiefes Misstrauen“ die Linken gegenüber der Polizei hätten. Für Michael Brand (CDU) ist der Antrag „ideologisch“. „Er misstraut, er unterstellt, er ist unfair“, gab Brand zu Protokoll. Konstantin Kuhle (FDP) findet den Antrag „einseitig von Misstrauen gegen die Polizei geprägt“. Für Petra Pau (Linke) soll dagegen die Polizei- beschwerdestelle ein vertrauensvolles Ver- hältnis zwischen Bürgern und Staat stär- ken, und für Irene Mihalic (Grüne) gehört es zum „Selbstverständnis einer modernen, bürgernahen Polizei“, sich extern kontrol- lieren zu lassen. Susanne Mittag (SPD) gab zu Protokoll, dass ihre Fraktion schon im ersten NSU-Untersuchungsausschuss die Einrichtung einer unabhängigen Beschwer- destelle gefordert habe. sto T AfD gegen Langzeit-Kanzler GRUNDGESETZ Fraktion will Amtszeit begrenzen »Schlimmer Finger« FALL AMRI Zeuge berichtet über Begegnungen mit dem späteren Attentäter im Flüchtlingsheim Fahndungsfotos von Anis Amri nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 © picture-alliance/Arne Dedert/dpa rung. Ein letztes Mal begegnete ihm Berg bei der Scheckausgabe am 15. September 2016, gut drei Monate vor dem Anschlag. Erst zu diesem Zeitpunkt habe auch offi- ziell festgestanden, dass der Leistungs- empfänger tatsächlich Anis Amri hieß. Im Nachhinein habe sich herausgestellt, dass viele Heimbewohner, insbesondere Tune- sier, ihn längst unter diesem Namen kannten. Dass Amri in Emmerich als schwierig galt, hatte nach Bergs Erinnerung zunächst nur mit seinen kleinkriminellen Neigungen zu tun. Er habe es halt „mit dem Eigentum nicht so wörtlich“ genommen. Doch bald meldeten sich Heimbewohner, die Amri als rabiaten Islamisten beschrieben. Auch der Staatsschutz begann sich erkennbar für ihn zu interessieren. Zwischen Ende Januar und August 2016 habe er drei bis vier An- rufe der Polizei erhalten, die sich nach Am- ri erkundigt habe, sagte Berg. Noch im Spätherbst 2016 seien zweimal Polizisten in der Unterkunft gewesen, die nach Amri suchten. Religiöser Fanatismus Der Ausschuss hörte in der vorigen Woche auch zwei der Beamten, die damals bei Berg anriefen. Die Kriminalhauptkommissare D. und K., Staatsschützer aus dem Polizeipräsidium in Krefeld, fuhren am 11. Dezember 2015 nach Kleve, um in den Räumen der Aus- länderbehörde einen Mitbewohner Amris zu treffen. Der syrische Kurde Lokman D. hatte sich bei mehreren Behörden über Amris religiösen Fanatismus und seine Sympathien für den sogenannten Islami- schen Staat (IS) beschwert. Der Staats- schutz Krefeld legte daraufhin am 28. Ok- tober 2015 einen „Prüffall Islamismus“ an. Die Angaben des Syrers seien ihm „im Ge- gensatz zu vielen Behauptungen“, die er sonst höre, durchaus „glaubhaft“ vorge- kommen, sagte der Zeuge D. Nach Erinnerung seines Kollegen K. hatte der Krefelder Staatsschutz damals rund 100 Islamismus-Prüffälle zu bearbeiten. Im Fal- le Amris schaltete sich indes bald nach der Unterredung in Kleve das nordrhein-west- fälische Landeskriminalamt ein. Der Mann sei bereits „Gegenstand der Beobachtung“ in einem anderen Ermittlungsverfahren, zusätzlicher Fahndungsaufwand in Krefeld daher „kontraproduktiv“, lautete in den Worten des Zeugen D. die Weisung aus Düsseldorf. Winfried Dolderer T Die AfD-Fraktion dringt auf eine Begren- zung der Amtszeit des Bundeskanzlers. Nach einem Gesetzentwurf der Fraktion (19/8275), über den der Bundestag vergan- gene Woche erstmals beriet, soll im Grund- gesetz verankert werden, dass eine Wieder- wahl des Kanzlers nur einmal zulässig ist. Dies soll nicht für die erstmalige Übernah- me der Amtsgeschäfte nach einem kon- struktiven Misstrauensvotum oder einer ge- scheiterten Vertrauensfrage gelten. In be- sonderen Lagen könnten sich Wahlperi- oden verkürzen, sodass die einmalige Wie- derwahl die Handlungsfähigkeit des Kanz- lers „in diesen Fällen über Gebühr ein- schränken würde“, heißt es in der Vorlage. Stephan Brandner (AfD) sagte in der De- batte, im Fall der amtierenden Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wäre dem Land bei einer nur vierjährigen Amtszeit „sehr ge- dient gewesen“. Philipp Amthor (CDU) er- widerte, man könne über eine Amtszeitbe- grenzung diskutieren, doch habe die AfD in Wahrheit „erneut einen Versuch gestar- tet, um gegen Angela Merkel zu hetzen“. Stefan Ruppert (FDP) betonte, man müsse nicht über die Beschränkung der Wahlfrei- heit diskutieren; insofern sei er gegen den Gesetzentwurf. Mahmut Özdemir (SPD) argumentierte, die Machtfülle einer Kanz- lerschaft entstehe nicht durch eine stetige Wiederwahl. Niema Movassat (Linke) hielt der AfD vor, sie wolle „ihre ‚Merkel muss weg‘-Parole in ein Gesetz gießen. Britta Ha- ßelmann (Grüne) befand, bei Fragen der Akzeptanz der Demokratie sei die der Amtszeitbegrenzung „nicht der relevanteste Punkt“. sto T Ost-Quote nicht mehrheitsfähig Nicht mehr zur Europawahl INNERES Linke und AfD wollen neuen Proporz für Bundesbehörden WAHLRECHT Ausschluss für Vollbetreute soll fallen In der Analyse waren sich alle Fraktionen des Bundestages am vergangenen Freitag einig: Es gibt zu wenig Ostdeutsche in den Führungsetagen der deutschen Wirtschaft, Wissenschaft und auch der politischen Ver- waltung. Das nützte jedoch weder der Lin- ken, die in einem Antrag (19/8013) eine Ost-Quote für Bundesbehörden fordert, noch der AfD-Fraktion, die, ebenfalls in ei- nem Antrag (19/8279), verlangt, dass be- stehende Bundesbehörden vom Westen in den Osten verlegt werden sollen. Beide An- träge fanden keine Unterstützung bei den übrigen Fraktionen, die vor allem eine Ost-Quote kategorisch ablehnten. Ei- ne stärkere Ansiedlung von Bundesbehörden im Osten sei zwar unbedingt nötig, so der einhellige Tenor, je- doch würde eine Verlage- rung bereits bestehender Behörden nur zu neuen Ungerechtigkeiten führen. Für Elisabeth Kaiser (SPD) ging es in der Debatte je- doch um mehr als um Ge- rechtigkeitsfragen, sondern schlicht um den gesellschaftlichen Zusam- menhalt. „Denn in Spitzenpositionen nicht vertreten zu sein oder sich dort nicht vertreten zu fühlen, führt bei einigen Ost- deutschen zu Verdruss über die deutsche Einheit, bis hin zu Wut gegenüber unserem demokratisch verfassten Staat.“ Eine Ost- Quote würde jedoch die Trennungen der Vergangenheit zementieren. Kaiser forder- te, den anstehenden Führungswechsel in vielen ostdeutschen Institutionen zu nut- zen, um die Repräsentanz Ostdeutscher dort zu stärken. Tatsächlich kam eine Studie der Universität Leipzig 2016 zu dem Ergebnis, dass Ost- für deutsche in Führungspositionen stark un- terrepräsentiert sind. Demnach stammen nur etwa 20 Prozent der Führungskräfte in den neuen Bundesländern aus dem Osten. Im gesamtdeutschen Maßstab besetzen Ostdeutsche nur knapp zwei Prozent der Führungspositionen in Wirtschaft, Politik oder Wissenschaft, obwohl sie knapp 17 Prozent der Bevölkerung stellen. Kein einziger Rektor einer ostdeutschen Hoch- schule kommt derzeit aus dem Osten. Eine Quote sei dennoch der „falsche Weg“, um diese Unterrepräsentanz zu beseitigen, betonte auch Christian Hir- te (CDU), Beauftragter der Bundesregierung die ostdeutschen Bundesländer. Wer solle denn definieren, wer „ostdeutsch“ sei, fragte er. Vielmehr müsse es da- rum gehen, die Verantwort- lichen vor Ort für diese Thematik zu sensibilisieren, denn in den nächsten zehn Jahren werde es altersbe- dingt einen großen Aus- tausch von Führungsperso- nal im Osten geben. Sein Parteikollege Marian Wendt fragte: „Widerspricht eine Quote nicht dem eige- nen Ehrgeiz?“ Es wolle sich doch kaum je- mand nachsagen lassen, nicht wegen sei- nes Könnens, sondern wegen einer Quote eine bestimmte berufliche Position erreicht zu haben. Eine Quote gehe auch an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes vorbei, denn sie ignoriere in Zeiten des Fachkräfte- mangels die tatsächlichen Bedürfnisse der regionalen Arbeitgeber, zu denen auch die Bundesbehörden gehören, sagte er. Von diesen gebe es im Osten viel zu wenig und entgegen der Behauptung der Bundes- regierung seien auch keine neuen Ansied- »Sich in Spitzenpo- sitionen nicht vertreten zu fühlen, führt zu Verdruss.« Elisabeth Kaiser (SPD) lungen im Osten geplant, verteidigte An- ton Friesen (AfD) den Antrag seiner Frakti- on. Er warf der Bundesregierung vor, das Ziel der gleichwertigen Lebensverhältnisse, wie es das Grundgesetz formuliere, zu ignorieren. Gregor Gysi (Die Linke) verwies auf den Artikel 36 des Grundgesetzes, der verlangt, dass bei den obersten Bundesbehörden Be- amte aus allen Ländern in angemessener Weise vertreten sein sollen. „Der Bundestag und die Bundesregierung lassen sich von diesem Artikel nicht leiten, sie verletzen das Grundgesetz“, kritisierte Gysi. Es kön- ne nicht sein, dass 30 Jahre nach dem Mauerfall in elf von 14 Bundesministerien nicht ein Abteilungsleiter aus dem Osten komme. Aber „wer die innere Einheit will, muss endlich gleiche Chancen und Lebens- verhältnisse in Ost und West, in Nord und Süd schaffen“, erklärte Gysi. Linda Teuteberg (FDP) lehnte eine Ost- Quote dennoch ab, denn diese setze vo- raus, juristisch klar zu definieren, wer ost- deutsch sei. Dies sei aber unrealistisch, sag- te sie. Zunächst sei eine genaue Analyse auch in den Bundesländern nötig, um das Problem anschließend sachlich und nicht ideologisch zu lösen. Claudia Müller (Bündnis 90/Die Grünen) rechtfertigte die Personalpolitik in den ost- deutschen Bundesländern nach der Wie- dervereinigung. Damals sei quasi über Nacht ein neues Rechtssystem im Osten eingeführt worden; da habe man auch die damit vertrauten Beamten gebraucht. Aber das sei 30 Jahre her und nun gebe es keine Begründung mehr für die ostdeutsche Un- terrepräsentanz. Es sei jedoch formal sehr schwierig zu definieren, wer als ostdeutsch gilt, weshalb eine Ost-Quote nicht der richtige Weg sei, um dies zu ändern, sagte Müller. Claudia Heine T Menschen, die auf eine gerichtlich bestell- te Betreuung in allen Angelegenheiten an- gewiesen sind, sowie wegen Schuldunfä- higkeit in einem psychiatrischen Kranken- haus untergebrachte Straftäter sollen ab Jahresmitte nicht mehr von Bundestags- oder Europawahlen ausgeschlossen wer- den. Einen entsprechenden Antrag der Ko- alitionsfraktionen „für die Einführung ei- nes inklusiven Wahlrechts“ (19/8261) ver- abschiedete der Bundestag am Freitag mit 345 von 585 abgegebenen Stimmen bei 240 Enthaltungen. Keine Mehrheit fanden ein Gesetzentwurf der FDP-Fraktion (19/ 3171) und ein gemeinsamer Gesetzentwurf der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/ Die Grünen (19/4568) zur Streichung der Wahlrechtsausschlüsse. In ihrem Antrag verwiesen CDU/CSU und SPD darauf, dass mit einem Be- schluss des Bundesverfassungsgerichts vom Januar 2019 (Az. 2 BvC 62/14) Än- a p d / e c n a i l l a - e r u t c i p © Von der Bundestagswahl 2013 waren 81.220 Vollbetreute ausgeschlossen. derungen am Bundes- und am Europa- wahlgesetz notwendig geworden sind. Die dort verankerten Wahlrechtsaus- schlüsse müsstenaufgehoben werden. Dem Antrag zufolge soll der Bundestag zeitnah eine entsprechende Änderung des Wahlrechts verabschieden, die zum 1. Juli dieses Jahres in Kraft treten soll. Eine Umsetzung im Hinblick auf die Europa- wahl am 26. Mai 2019 sei aus praktischen Gründen nicht mehr möglich. Die Verfassungsrichter hatten entschieden, dass der Wahlrechtsausschluss gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl und das Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung verstoße. Mehrere Be- troffene hatten gegen ihren Ausschluss von der Bundestagswahl 2013 Beschwerde ein- gelegt. Laut Gericht waren bei dieser Wahl 81.220 Vollbetreute ausgeschlossen. In der Debatte warf Jens Beeck (FDP) der Koalition vor, die Betroffenen bei der Eu- ropawahl im Mai wieder ausschließen zu wollen. Dies sei grundgesetzwidrig. Corin- na Rüffer (Grüne) fand es „eine einzige Unverfrorenheit“, wenn die Betroffenen bei dieser Europawahl „wieder in die Röh- re gucken“. Sören Pellmann (Linke) nann- te es „zynisch“, wenn die Koalition in ih- rem Antrag schreibe, dass die Europawahl leider nicht mehr erreichen werden könne. Ulla Schmidt (SPD) sagte, sie hätte sich ge- freut, wenn man die Neuerung schon zur Europawahl geschafft hätte, doch sei dies nach Ansicht von Juristen nicht möglich. Volker Ullrich (CSU) ergänzte, auch wenn es „für diese Europawahl weh tut“, könne man es aus verfassungsrechtlichen Grün- den „diesmal nicht schaffen“. Christian Wirth (AfD) sagte, die Bedenken bezüglich der abgeschlossenen Listenaufstellungen zur Europawahl seien „nicht von der Hand zu weisen“. Helmut Stoltenberg T