6 INNENPOLITIK Das Parlament - Nr. 15 - 08. April 2019 Ältestenrates R ückblende: Am 29. Juni 1995 nahm der Bundestag die Beschlussempfehlung des auf Drucksache 13/1803 an. Der Bundestag, hieß es da- rin, „wird mit Wirkung von der 15. Wahl- periode an auf unter 600 Abgeordnete ver- kleinert (heutiger Stand 672 minus höchs- tens bis 100 Abgeordnete)“. Im Oktober 1996 folgte die entsprechende Änderung des Bundeswahlgesetzes, mit der die Abge- ordnetenzahl auf den bis heute geltenden Sollwert von 598 reduziert wurde: Die Hälfte von ihnen ist in den 299 Wahlkrei- sen mit der Erststimme direkt zu wählen und der Rest via Zweitstimme über die Landeslisten der Parteien. Wirksam wurde die Neuregelung ab der Bundestagswahl 2002, bei der die Zahl der Parlamentarier von 669 auf 603 sank: auf eben 598 plus fünf Überhangmandaten. Letztere entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Das ist lange her. Seitdem gab es vier Bun- destagswahlen, bei denen die Abgeordne- tenzahl kontinuierlich stieg – zunächst nur aufgrund zunehmender Überhangmanda- te, ab 2013 dann auch durch zusätzliche Ausgleichsmandate. Sie waren damals bei einer Wahlrechtsreform nach Urteilen des Bundesverfassungsgerichts eingeführt wor- den, um die Überhänge zu kompensieren. Bestrebungen nach einem weiteren Re- formschritt mit dem Ziel, die Zahl der Ab- geordneten wieder zu begrenzen, scheiter- ten indes in der vergangenen Wahlperiode. Rekordzahl Seit der Bundestagswahl von 2017 gehören dem Hohen Haus nun 709 Mitglieder an: Zu der Rekordzahl von 46 Überhangmandaten (43 für die CDU/CSU und drei für die SPD) gesellten sich nun 65 Ausgleichsmandate, womit die Sollstärke von 598 in der laufenden Legislaturperi- ode um ganze 111 Sitze übertroffen wird. Zu viel, heißt es auch im Parlament selbst. Abhilfe wurde erhofft von einer Arbeits- gruppe, der unter Vorsitz von Bundestags- präsident Wolfgang Schäuble (CDU) Mit- glieder aller im Bundestag vertretenen Par- teien angehörte und die ihre Beratungen nach rund einem Jahr vergangene Woche abschloss. Das ernüchternde Ergebnis: „Trotz intensiver Bemühungen ist es uns nicht gelungen, zu einem Konsens zu kom- men“, teilte Schäuble anschließend den Fraktionsvorsitzenden in einem Brief mit. Dabei sind, wie er hinzufügte, auf Grund- lage aktueller Meinungsumfragen beim jet- zigen Wahlrecht auch Mandatszahlen von „weit über 800 vorstellbar“. Gleichwohl hätten sich alle denkbaren Alternativen zum geltenden Wahlrecht nicht als kon- sensfähig erwiesen, resümierte der Bundes- tagspräsident. Zugleich warb er dafür, die Zahl der Wahlkreise (und damit der Di- rektmandate) von 299 auf 270 zu reduzie- ren und gleichzeitig – wie 2012 vom Bun- desverfassungsgericht für zulässig erachtet – bis zu 15 Überhangmandate nicht auszu- gleichen: Dieses Modell, das allen Fraktio- nen Zugeständnisse abverlange, „würde nach Berechnungen des Bundeswahlleiters und der RWTH Aachen auf der Basis des Wahlergebnisses von 2017 zu einer Ge- samtgröße des Bundestages von 641 Sitzen führen“, fügte Schäuble hinzu und bat die Fraktionen, „zeitnah eine Verständigung und Entscheidung herbeizuführen“. KURZ NOTIERT Antrag zu Kommission »Direkte Demokratie« abgelehnt Der Bundestag hat vergangene Woche einen Antrag der AfD-Fraktion auf Ein- setzung einer Enquete-Kommission „Di- rekte Demokratie auf Bundesebene“ (19/1699) abgelehnt. Der Vorlage zufol- ge sollte die Enquete-Kommission einen Gesetzentwurf vorbereiten, der „insbe- sondere im Einklang mit dem Grundge- setz steht und die Vereinbarkeit der durch das Volk beschlossenen Gesetze mit höherrangigem Recht und dem Völ- kerrecht gewährleistet“. Regierungsentwurf zu Zensus 2021 überwiesen Einen Gesetzentwurf der Bundesregie- rung „zur Durchführung des Zensus im Jahr 2021“ (19/8693) hat der Bundestag vergangene Woche an die Ausschüsse überwiesen. Mit dem Gesetz soll die Rechtsgrundlage für die Durchführung des Zensus 2021 geschaffen werden. Laut Vorlage umfasst er eine Bevölke- rungs- sowie eine Gebäude- und Woh- nungszählung, eine Haushaltebefragung auf Stichprobenbasis und Erhebungen an Anschriften mit Sonderbereichen. Ge- nutzt werden sollen in erster Linie schon vorhandene Verwaltungsdaten. sto T Weiterführende Links zu den Themen dieser Seite finden Sie in unserem E-Paper Kein Konsens WAHLRECHT Fraktionen können sich nicht auf Vorschlag zur Verkleinerung des Parlaments einigen Nach der Bundestagswahl 2017 mussten Handwerker im Plenarsaal des Bundestages Sitze für 709 Abgeordnete einrichten – so viel wie noch nie in der Geschichte des Parlaments. © picture-alliance/Michael Kappeler/dpa CDU und CSU, die 2017 mit weitem Ab- stand die meisten Direktmandate erringen konnten, dürften von einen Verzicht auf ei- ne Kompensierung von bis zu 15 Über- hangmandaten am stärksten profitieren – was denn auch bei der SPD wie in der Op- position auf Ablehnung stößt. So betonte für die SPD-Fraktion ihr Parlamentarischer Geschäftsführer Carsten Schneider zwar, weiterhin eine Lösung anzustreben und auch „grundsätzlich Chancen für eine Eini- gung“ zu sehen. Allerdings, fügte er hinzu, könne die Basis für eine solche Einigung kein Vorschlag sein, „der einseitig eine Par- tei beziehungsweise Fraktion bevorteilt“. Entscheidend sei, „dass das Wahlrecht die Sitze entsprechend der Stimmverhältnisse nach dem Wählervotum abbildet“. Für den AfD-Abgeordneten Albrecht Glaser ist die Reform „daran gescheitert, dass die Interessen der Mandatsbesitzer größer wa- ren als der Reformwille“. Um die „Kultur der Ausgleichs- und Überhangmandate“ zu beseitigen, müsse bei der Zahl der Direkt- mandate eingegriffen werden. Kritik an Union Der FDP-Wahlrechtsex- perte Stefan Ruppert warf der Union vor, sie habe einen Kompromiss für ihren eige- nen parteipolitischen Vorteil verhindert. Er monierte, ein Verzicht auf den Ausgleich von 15 Überhangmandaten sei ein „partei- politischer Bonus zu Lasten der Steuerzah- ler“. Für Die Linke kritisierte ihr Rechtsex- perte Friedrich Straetmanns, dass CDU und CSU die einzigen Profiteure einer sol- chen Reform wären. Die beiden Unions- parteien wollten ein Wahlrecht, „das allein ihnen nutzt“. Die Parlamentarische Frakti- onsgeschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann, die für eine Verkleinerung der Zahl der Wahlkreise plädierte, erklärte, die Union müsse „aufhören, echte Lösungen zu blockieren“. Schäubles Vorschlag „be- vorteilt nur die CDU/CSU“. Die wiederum äußerte Bedenken gegen- über dem Vorschlag, die Zahl der Wahl- kreise zu reduzieren. Dies würde „zu einer größeren Distanz zwischen Abgeordneten und Bevölkerung führen und die notwen- dige demokratische Repräsentanz vor Ort ganz erheblich beschädigen“, argumentier- ten die Parlamentarischen Geschäftsführer der Unions-Fraktion, Michael Grosse-Brö- mer (CDU), und der CSU-Landesgruppe, Stefan Müller. Weiterhin richtig fänden sie es dagegen, „die Vorgabe des Bundesverfas- sungsgerichts umzusetzen und mindestens 15 Überhangmandate nicht durch zusätzli- che auszugleichen“. Schließlich würde das „schon zu einer spürbaren Verkleinerung des Bundestages führen“. Helmut Stoltenberg T Listenmandate Zu viele weiße Flecken ARBEIT Nicht nur die Linke will Tarifbindung stärken Immer weniger Beschäftigte in Deutsch- land arbeiten noch zu Bedingungen eines Tarifvertrages: 1998 arbeiteten noch 76 Prozent der westdeutschen und 63 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten zu Tarifver- trägen. 2017 waren dies nur noch 57 bezie- hungsweise 44 Prozent, wie Zahlen des In- stituts für Arbeitsmarkt- und Berufsfor- schung belegen. Diesen Trend will Die Lin- ke stoppen und hat deshalb einen Antrag (19/8963) vorgelegt, der vor allem darauf abzielt, die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen einer Branche im Tarif- ausschuss zu erleichtern. Außerdem sollen öffentliche Aufträge des Bundes nur noch an tariftreue Firmen vergeben werden. In einer Debatte über diesen Antrag am vergangenen Freitag teilten diesen Vor- schlag uneingeschränkt nur die Grünen, die SPD verwies auf ihre eigenen Ideen aus ihrem Sozialstaatspapier, die aber in eine ähnliche Richtung gehen. Union und FDP betonten vor allem den Autonomieaspekt in der Tarifpartnerschaft und die AfD be- klagte den negativen Einfluss von EU-Rege- lungen und EU-Rechtsprechungen. Bernd Riexinger (Linke) rechnete vor, dass es im Osten Deutschlands einen Unter- schied von 400 Euro im Monat ausmache, ob jemand in der Gastronomie mit oder ohne Tarifvertrag arbeite. „Tarifverträge sind ein öffentliches Gut“, betonte er. Auch die Koalition wolle die Tarifbindung stärken und führe deshalb Gespräche mit Arbeitgebern und Gewerkschaften, bekräf- tigte Uwe Schummer (CDU). „Wir werden Regelungen finden, aber nur mit den Tarif- partnern und nicht gegen sie“, sagte er. Uwe Witt (AfD) beklagte den Anstieg pre- kärer Beschäftigung. Aber trotz ihrer Lip- penbekenntnisse habe die Große Koalition bisher nichts gegen die sinkende Tarifbin- dung getan. Die AfD-Fraktion fordere eine strikte Einhaltung des Subsidiaritätsprin- zips, weil viele deutsche Regelungen zum Arbeitnehmerschutz durch EU-Regelungen unterlaufen würden, sagte Witt. Bernd Rützel (SPD) versicherte: „Tarifver- träge sichern in erheblichem Maß den so- zialen Frieden in Deutschland.“ Dort, wo es Tarifbindung gebe, gehe es den Men- schen besser, deshalb müsse die sinkende Tarifbindung gestoppt werden. Zwar sei die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarif- verträgen bereits 2014 erleichtert worden, dies reiche aber noch nicht aus. „Wir brau- chen ein Tariftreuegesetz auch auf Bundes- ebene“, betonte Rützel. Till Mansmann (FDP) nannte es „grund- sätzlich gut“, wenn der Staat die Rahmen- bedingungen für die Tarifautonomie schaf- fe. Aber Die Linke wolle mit ihren Vor- schlägen die neutrale Rolle des Staates ab- schaffen, kritisierte er. Ein fehlender Tarif- vertrag bedeute im Übrigen nicht automa- tisch die Ausbeutung der Beschäftigten, sagte Mansmann. Ihre Fraktion unterschreibe die Zielsetzung des Linken-Antrags „ohne Wenn und Aber“, betonte Beate Müller-Gemmeke (Grüne). Die weißen Flecken in der Tarif- landschaft würden größer, deshalb „wollen auch wir die Spielregeln im Tarifausschuss ändern, weil sie derzeit eine Allgemeinver- bindlicherklärung viel zu oft blockieren“, sagte sie. Claudia Heine T Suche nach dem Monster MINDESTLOHN Nur die FDP will weniger Dokumentation Mit ihrem Ziel, die Dokumentationspflich- ten beim Mindestlohn zu reduzieren, stößt die FDP-Fraktion auf breite Ablehnung der anderen Fraktionen. Das wurde während der Debatte über einen Antrag (19/7458) der FDP in der vergangenen Woche deut- lich. Die Fraktion kritisiert die Dokumen- tation der Arbeitszeit, wie sie das Mindest- lohngesetz vorschreibt, als zu bürokratisch. Als Nachweis für die Arbeitszeit solle die monatliche Lohnbescheinigung mit der Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden und dem daraus resultierenden Bruttolohn ausreichend sein, schreibt die FDP. Thomas Kemmerich (FDP) warf der Bun- desregierung vor, dem Mittelstand zu miss- trauen. Beim Mindestlohn werde mit Ka- nonen auf Spatzen geschossen. Nötig sei ein Vertrauensbeweis an den Mittelstand, den liefere die FDP mit ihrem Antrag. Matthias Zimmer (CDU) sprach dagegen von einem „liberalen Bürokratiemonster“, das die FDP da an die Wand male. Es gehe der FDP nicht darum, die Ehrlichen zu ver- teidigen, sondern zum Schutzpatron der Unehrlichen zu werden. Der Wettbewerb dürfe aber nicht dadurch geführt werden, dass der Mindestlohn über eine Ausdeh- nung der Arbeitszeiten unterschritten wer- de, so Zimmer. Jürgen Pohl (AfD) warf der FDP vor, mit den immer gleichen Schlagworten die Rechte der Arbeitnehmer aushöhlen zu wollen. Dies sei reine Klientelpolitik á la Mövenpick. „Es geht der FDP doch nur da- rum, durch die Hintertür am Mindestlohn zu arbeiten.“ Mit diesem Antrag würden die Wild-West-Zustände bei den Paketzu- stelldiensten nur verfestigt, sagte er. Bernd Rützel (SPD) betonte: „Es wäre ehr- lich gewesen zu sagen: Wir sind gegen den Mindestlohn.“ Auch die SPD baue gern unnötige Bürokratie ab. „Aber wenn wir wollen, dass unsere Gesetze angewendet und eingehalten werden, dann brauchen wir Kontrollen.“ Jede Arbeitsstunde müsse bezahlt werden, sagte er. Susanne Ferschl (Die Linke) warf der FDP vor, „immer die gleiche Leier“ zu spielen. „Es geht doch aber nicht um unnötige Bü- rokratie, sondern darum, dass Beschäftigte nicht um ihren Lohn und der Staat nicht um die Sozialbeiträge betrogen werden.“ Beate Müller-Gemmeke (Bündnis 90/Die Grünen) betonte, es reiche nicht, wie die FDP es tue, auf den Arbeitsvertrag oder die Lohnbescheinigung zu verweisen. Die Menschen müssten darauf vertrauen, dass der Mindestlohn nicht nur auf dem Papier stehe, sagte sie. che T Komplize oder nicht? Umstrittene Verträge AMRI-AUSSCHUSS Zeuge berichtet über Ben Ammar VERTEIDIGUNG Ministerium gelobt Besserung Einen Lastwagen kapern. Den Fahrer er- schießen. Einen Weihnachtsmarkt überrol- len – macht man das allein? Braucht man dazu einen Helfershelfer? Anis Amri, der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, hatte seinen tunesischen Landsmann Bilel ben Ammar. Einen Drogenkomplizen, Freund, Vertrauten – auch Mittäter beim Anschlag? Am Vorabend der Tat saßen Amri und Ben Ammar noch in einem Imbiss beisammen. Nach dem Anschlag war Ben Ammar zehn Tage abgetaucht, bevor er am 30. Dezem- ber 2016 festgenommen wurde. Es gibt ein Foto vom Tatabend, das Ben Ammar mit blauen Handschuhen auf dem Breitscheid- platz zeigen soll. Die Vermutung steht im Raum, er habe dort einen Mann mit einem Kantholz niedergeschlagen, um Amris Flucht zu decken. Schließlich wurde er ab- geschoben, am 1. Februar 2017, kaum an- derthalb Monate nach der Tat. Warum so hastig, fragen seither die Skeptiker. Um sei- ne Tatbeteiligung zu vertuschen? Oder weil er für den marokkanischen Geheimdienst arbeitete? Ärger über Berichte Vor dem 1. Untersu- chungsausschuss („Breitscheidplatz“) saß in der vorigen Woche einer, dem das alles nicht so recht einleuchten will. Er habe die Berichterstattung der jüngsten Zeit über Ben Ammars angebliche Rolle „mit gro- ßem Ärger“ zur Kenntnis gekommen, sagte Kriminaldirektor Dominik Glorius. Der heute 52-Jährige leitet beim Bundeskrimi- nalamt (BKA) das Referat ST 25 „Völker- strafrecht“. Seit Juli 2016 war er zwei Jahre lang in Berlin eingesetzt und dort in füh- render Funktion an den Ermittlungen be- teiligt, die auf Amris Anschlag folgten. Für Glorius steht fest: Eine konkrete „Unter- stützungshandlung“ beim Attentat ist Ben Ammar nicht nachzuweisen. Schon die Bundesanwaltschaft habe, als sie die Ermittlungen gegen ihn einleitete, in aller Vorsicht von einem „Anfangsver- dacht“ gesprochen, er könnte „in nicht näher zu bestimmender Art und Weise Beihilfe“ geleistet haben. In der Untersu- chungshaft hätten Beamte des BKA ihn zweimal stundenlang verhört, ohne viel zu erfahren. Ben Ammar habe einge- räumt, Amri gekannt zu haben, eine eige- ne radikalislamische Gesinnung aber be- stritten. Amri sei für diesen in erster Linie ein Geschäftsfreund im Drogenhandel ge- wesen, erläuterte der Zeuge. Mann mit Handschuhen Der Mann mit den blauen Handschuhen am Tatort sei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht Ben Ammar gewesen. Es gebe andere Fotos, die zeigten, wie derselbe Mann Ver- letzten erste Hilfe leistete. Auch unter sei- nen BKA-Kollegen, meinte Glorius, habe es Zweifel gegeben, ob auf dem Tatortfoto nicht doch Ben Ammar zu sehen sei. Al- lerdings hätten jene Beamten, die ihm in den beiden Vernehmungen gegenübersa- ßen, dies ausgeschlossen. Nach seiner Festnahme hätten die Behör- den Ben Ammar wegen eines geringfügi- gen Sozialhilfebetrugs in Haft behalten, um ihn nicht wieder aus den Augen zu verlieren. Ende Januar 2017 habe sich ab- gezeichnet, dass die Haft nicht weiter ver- längert werden könne. Um ihn nicht auf freien Fuß setzen zu müssen, habe das BKA deswegen „im Einvernehmen mit der Bundesanwaltschaft“ seine Abschiebung befürwortet. Winfried Dolderer T Manchmal sei ein gutes „Prüfernäschen“ durchaus von Nutzen, sagte Hans-Joachim Waller vom Bundesrechnungshof schmun- zelnd. Auch der richtige Riecher habe da- bei geholfen, der Fülle von fehlerhaften Verträgen bei der Vergabe von Aufträgen an externe Firmen auf die Spur zu kommen, sagte er in der vergangenen Woche als Zeu- ge im Beratervertrag-Untersuchungsaus- schuss des Verteidigungsausschusses. Waller kündigte an, dass seine Behörde in absehbarer Zeit überprüfen wird, ob das Bundesverteidigungsministerium seine Praxis bei der Vergabe von solchen Verträ- gen nach der Kritik an Verstößen gegen Re- geln und Recht tatsächlich geändert hat. Überraschendes Ausmaß Bei der Sitzung unter Vorsitz von Wolfgang Hellmich (SPD) sagte Waller, das Ministerium habe die entsprechende Dienstvorschrift ver- schärft: „Wenn diese eins zu eins befolgt wird, dürften Fehler eigentlich nicht mehr auftreten.“ Allerdings habe der Bundes- rechnungshof schon 2008 und 2009 Ver- tragsabschlüsse mit Externen beanstandet und dennoch zwischen 2016 und 2018 wieder Fehler festgestellt. Auf die Frage, ob die Bundeswehr aus den untersuchten Vor- gängen gelernt habe, sagte er: „Das hoffe ich.“ Aber selbst nach den alten Vorgaben hätte es nicht zu den Verstößen kommen dürfen, wenn sich alle daran gehalten hät- ten, gab er sich überzeugt. Es geht dabei um Verträge der Bundeswehr mit externen Firmen, die dem Bundesrech- nungshof wegen der hohen Zahl der Verga- ben und der hohen Quote von Regelverstö- ßen wie fehlende Prüfung von Bedarf und Wirtschaftlichkeit aufgefallen waren. „Das Ausmaß der Verstöße hat uns alle über- rascht, erläuterte Waller. Das Ministerium habe sein rechts- und regelwidriges Verhal- ten inzwischen eingeräumt, aber herausge- stellt, dass es keine Hinweise auf persönli- che Verfehlungen gebe. Ausdrücklich nicht zu Eigen mache sich der Bundesrech- nungshof die Einschätzung des Ministeri- ums, dass kein wirtschaftlicher Schaden entstanden sei, betonte Waller. Die Verant- wortlichen müssten ermittelt werden. Sein Kollege Helmut Peters hatte in der vorangegangenen Ausschusssitzung von ei- nem Schaden in Höhe von gut einer Milli- on Euro gesprochen, weil die Bundeswehr im IT-Bereich einen Auftrag an eine Firma erteilt habe, die selbst nie tätig geworden sei, aber Rechnungen von Subunterneh- men mit Aufschlag weitergereicht habe. Auf eigene Suche nach Verantwortlichen mache sich der Bundesrechnungshof laut Waller nicht: „Wir gucken nur auf das Pa- pier und nicht, wer dahinter steckt.“ Geänderte Abläufe Am zweiten Sitzungs- tag mit Beweisaufnahmen wandte sich der Ausschuss erstmals auch den Abläufen und Verantwortlichkeiten im Ministerium bei Verträgen mit externen Firmen zu. Der Leiter der Abteilung Haushalt und Con- trolling im Ministerium, Karl-Henning Bald, räumte eine „Fülle von Fehlern“ ins- besondere bei der Wirtschaftlichkeitsprü- fung ein. Es würden nun die Lehren gezo- gen „aus Fehlern, die wir in der Vergan- genheit gemacht haben“. So seien zum Beispiel Vergabevorschriften als auch Transparenzregeln geändert wor- den bei Verträgen, die sich auf externe Un- terstützung der Bundeswehr beziehen. Vie- les sei also bereits erreicht worden, sagte Bald. Franz Ludwig Averdunk T Stichtag für Einsatzmedaille VERTEIDIGUNG Die FDP-Fraktion ist mit ihrer Forderung nach einer Streichung der Stichtagsregelung bei der Verleihung der Einsatzmedaille der Bundeswehr geschei- tert. Der Bundestag lehnte den entspre- chenden Antrag (19/6055, 19/8588) am vergangenen Donnerstag mit den Stimmen der CDU/CSU-, der SPD- und der Links- fraktion gegen das Votum der Fraktionen der AfD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen ab. Die Einsatzmedaille der Bundeswehr ist eine Auszeichnung für die Teilnahme an den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Für die Verleihung galt bislang der 30. Juni 1995 als Stichtag, für die Einsatzmedaille „Gefecht“ der 29. April 2009. Nach Ansicht der Liberalen schließt die Stichtagsregelung Soldaten und Zivilperso- nal der Bundeswehr in früheren Einsätzen von einer Würdigung aus. Dies werde von den Soldaten als ungerecht empfunden. Der Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Thomas Silber- horn (CSU) verwies darauf, dass der Stich- tag für die Einsatzmedaille inzwischen durch das Ministerium auf den 1. Novem- ber 1991 vorverlegt worden sei. Der Antrag der Liberalen habe sich somit erledigt. Der Stichtag für die Einsatzmedaille „Gefecht“ sei deshalb gewählt worden, weil am 29. April 2009 mit dem Hauptgefreiten Sergej Motz in Afghanistan erstmals ein Bundeswehrsoldat in einem Gefecht getö- tet worden sei. Der FDP-Abgeordnete Alexander Müller entgegnete, dass durch die Vorverlegung ein willkürlich gewählter Stichtag durch ei- nen anderen ersetzt worden sei. Auch vor 1991 seien Soldaten im Ausland eingesetzt und auch vor 2009 in Gefechte verwickelt worden. aw T