2 MENSCHEN UND MEINUNGEN Das Parlament - Nr. 29-30 - 15. Juli 2019 GASTKOMMENTARE GRUNDRECHTE AUCH FÜR VERFASSUNGSFEINDE? Ein Irrglaube PRO t a v i r P © Helene Bubrowski, »Frankfurter Zeitung« Allgemeine Z W N © Lars Laue, »Nordwest-Zeitung«, Oldenburg Peter Tauber, ehemaliger Generalsekretär der CDU, hat im Grundgesetz eine Vor- schrift entdeckt, die in Vergessenheit ge- raten war. Nach Artikel 18 darf das Bun- desverfassungsgericht, an sich für die Verteidi- gung von Grundrechten zuständig, Verfassungs- feinden die Meinungsfreiheit, Versammlungsfrei- heit, Pressefreiheit und andere Grundrechte ent- ziehen. Diese Vorschrift bringt den Schrecken der Väter und Mütter des Grundgesetzes über die Machtergreifung der Nationalsozialisten zum Aus- druck. Die freiheitlich demokratische Grundord- nung soll geschützt werden, indem man ihren Feinden das Wort verbietet. Das ist 70 Jahre her, aber das Thema ist kein gestriges. Angesichts von 24.000 Rechtsextremisten, einem – mutmaßlich – politischen Mord an einem Kommunalpolitiker, zahllosen Drohungen gegen Repräsentanten des Staates ist es zwingend, die Selbstverteidigungs- kräften des Systems zu aktivieren. Der Rückgriff auf Artikel 18 ist aber weder wirk- sam noch praktikabel. Aus gutem Grund hat das Bundesverfassungsgericht die wenigen Versuche, die es gab – zuletzt Anfang der 1990er Jahre – ab- gewehrt. Es ist ein Irrglaube, dass sich Verfas- sungsfeinde domestizieren ließen, indem man ih- nen die Grundrechte entzieht. Zu befürchten wäre eine stärkere Radikalisierung, der Opfer-Mythos bekäme reichlich Nahrung. Hinzu kommt: Mag es in den 1950er Jahren noch denkbar gewesen sein, verfassungsfeindliche Äußerungen einer Person im Blick zu haben, ist das heute ausgeschlossen. Letztlich lenkt die Debatte über Artikel 18 nur da- von ab, dass andere Maßnahmen überfällig sind. Hass und Hetze breiten sich in den sozialen Me- dien aus, Internetkonzerne verdienen daran. Hier sind Sicherheitsbehörden und Justiz gefordert. res Zusammenlebens. Wer aber die Frei- heit der Meinungsäußerung, die Presse- freiheit oder die Versammlungsfreiheit missbraucht, um unser demokratisches System zu bekämpfen, dem können diese Grundrechte ent- zogen werden. Gegeben hat es einen solchen Fall bisher nicht. Gleichwohl muss dieses scharfe Schwert zum Schutz unserer freiheitlichen Verfas- sung notfalls auch zum Einsatz kommen. Wer mit seinen Äußerungen dazu beiträgt, das po- litische Klima in unserem Land nicht nur zu vergif- ten, sondern darauf abzielt, die demokratische Grundordnung zu gefährden, muss die Antwort unserer wehrhaften Demokratie deutlich zu spü- ren bekommen. Nicht erst durch den Fall des er- schossenen Kasseler Regierungspräsidenten Wal- ter Lübcke wird klar, dass Rechtsextreme vor nichts zurückschrecken, um diesen Staat zu be- kämpfen. Wer unsere Verfassung nicht achtet, son- dern sie aus den Angeln heben will – egal, ob aus rechter oder linker Gesinnung heraus – , dem soll- te der Staat mit aller Härte begegnen. Der Staat schützt damit all diejenigen, die in die- sem Land friedlich nach den Regeln des Grundge- setzes zusammenleben wollen. „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt“, hatte der deutsche Philosoph Immanuel Kant einst seine Interpretation des Freiheitsbe- griffs zusammengefasst. Kant ist aktueller denn je. Freiheit in einem demokratischen Rechtsstaat be- deutet eben nicht, alles tun und sagen zu können, was man will. Wer sich an diese Grundregeln nicht hält und unsere Verfassung aushebeln will, dem muss notfalls das Grundrecht auf freie Meinungs- äußerung entzogen werden. Mit aller Härte CONTRA Freiheit ist ein wesentliches Merkmal unse- Mehr zum Thema der Woche auf den Seiten 1 bis 12. Kontakt: gastautor.das-parlament@bundestag.de Herausgeber Deutscher Bundestag Platz der Republik 1, 11011 Berlin Fotos Stephan Roters Mit der ständigen Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte ISSN 0479-611 x (verantwortlich: Bundeszentrale für politische Bildung) Redaktionsschluss 12. Juli 2019 Anschrift der Redaktion (außer Beilage) Platz der Republik 1, 11011 Berlin Telefon (0 30)2 27-3 05 15 Telefax (0 30)2 27-3 65 24 Internet: http://www.das-parlament.de E-Mail: redaktion.das-parlament@ bundestag.de Chefredakteur Jörg Biallas (jbi) Druck und Layout Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH & Co. 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Wenn man eine politische Aufgabe wahr- nimmt, wird man viel stärker durch Tages- aktualitäten beansprucht, als wenn man die Politik aus der Ferne betrachtet. Inso- fern ist mein Blick heute ein Blick aus der Ferne, der eher die großen Linien der poli- tischen Entwicklung wahrnimmt als die Tagesaktualitäten, die das Leben eines Ab- geordneten stark prägen. Der politische Be- trieb ist immer sehr krisengeprägt: Es kom- men viele Themen auf den Tisch, die unter großem Zeitdruck entschieden werden müssen. Das ist ein großer Unterschied zu den richterlichen Aufgaben in Karlsruhe, bei denen man das Privileg hat, über die Fragen, mit denen man befasst ist, trotz der Arbeitsfülle in der Regel ohne gravierenden Zeitdruck nachdenken zu können. Und Ihr Blick auf das Grundgesetz – hat der sich geändert? Mein Blick auf das Grundgesetz ist unver- ändert geblieben. Ich halte es insgesamt für eine vorzügliche Verfassung. Auch eine her- vorragende Verfassung kann man freilich noch weiter verbessern. Aber sowohl aus der früheren Perspektive eines Bundestags- abgeordneten als auch aus der jetzigen Per- spektive eines Verfassungsrichters können wir uns sehr glücklich schätzen, eine so ge- lungene Verfassung zu haben. Sie sind nicht der erste Richter am Bundesverfassungsgericht, der aus der aktiven Politik kommt. Droht da nicht immer der Ruch der Befangenheit, wenn das Gericht über eine Gesetzesregelung befinden muss, an der man selbst zuvor als Abgeordneter mitgewirkt hat? Das Bundesverfassungsgericht hat 16 Rich- terinnen und Richter. Für das Bundesver- fassungsgericht ist die Vielfalt der Perspek- tiven sehr wichtig. Es wäre schlecht, wenn sich die Richterschaft ausschließlich aus ei- ner bestimmten Berufsgruppe rekrutieren würde. Deshalb haben wir am Bundesver- fassungsgericht seit jeher einen Mix an be- ruflicher Expertise. Unter den Verfassungs- richtern finden sich zum Beispiel Hoch- schullehrer und Berufsrichter. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten auch im- mer wieder gute Erfahrungen gesammelt mit Politikern, die am Bundesverfassungs- gericht ihre politische Erfahrung in die Per- spektive des Gerichts einbringen. Ich bin der Überzeugung, dass es für das Bundes- verfassungsgericht gut ist, wenn ihm auch Politiker angehören. Sie werteten es einmal als Gewinn für das Gericht, dass ihm mit Ihnen erst- mals seit 2005 wieder ein Rechtsanwalt angehört. Was macht diesen Gewinn aus? Das Bundesverfassungsgericht ist ein Bür- gergericht: ein Gericht, das den Bürger vor der Verletzung seiner Grundrechte durch die öffentliche Hand schützen soll. Ver- mutlich kein juristischer Beruf kann die Perspektive des Rechtschutzsuchenden so gut nachvollziehen wie der Anwaltsberuf. Die Sorgen der Rechtschutzsuchenden auf- zunehmen und juristisch einzuordnen, sie zu vertreten und auf dem unter Umstän- den mühsamen Wege der Rechtsschutzsu- che zu begleiten, ist die tägliche Arbeit der Anwaltschaft. »Gericht für den Bürger« STEPHAN HARBARTH Der Vizepräsident des Bundesver- fassungsgerichts über die Werte des Grundgesetzes und die Bedeutung der Verfassung für den Einzelnen tanz des Grundgesetzes, die auch in die neuen Länder ausgestrahlt hat. Nicht nur das Grundgesetz feiert 2019 ein rundes Jubiläum: Die Weimarer Verfassung wurde vor 100 Jahren be- schlossen, die Paulskirchenverfassung vor 170 Jahren. Steht das Grundgesetz zu ihnen in einer Kontinuität? Das Grundgesetz greift Elemente dieser Vorgängerverfassungen auf, aber unter- scheidet sich in wichtigen Punkten. Die Paulskirchenverfassung etwa war die Ver- fassung einer konstitutionellen Monarchie, aber es gibt dennoch Anknüpfungspunkte, etwa einen Katalog von Grundrechten oder die Zuständigkeit eines direkt gewählten Parlaments einerseits und einer Länder- kammer andererseits für die Gesetzgebung, ein Strukturelement, das alle deutschen Verfassungen bis zum Grundgesetz durch- zieht. Insofern konnte das Grundgesetz auch Ideen der Paulskirchenverfassung auf- greifen, so wie es natürlich auch viele Ide- en der Weimarer Reichsverfassung aufge- griffen hat. Das beginnt mit der Staatsform der Republik und setzt sich mit dem Grundrechtekatalog fort. Und die Unterschiede? Das Grundgesetz hat bestimmte Fragen an- ders entschieden als die Weimarer Reichs- verfassung. So ist etwa die Stellung des Staatsoberhaupts deutlich schwächer als in der Weimarer Verfassung, in der nach dem Ende der Monarchie mit dem Reichspräsi- denten eine Art Ersatzmonarch mit sehr starken Befugnissen geschaffen wurde. Das Grundgesetz versucht auch, mit der Kon- zeption der wehrhaften Demokratie zu ver- hindern, dass die Bundesrepublik in ähnli- cher Weise scheitern könnte wie Weimar. Das sind die viel zitierten „Lehren der Vergangenheit“ – was ist die wich- tigste? Die ganz große Lehre des Grundgesetzes nach der Barbarei des Dritten Reichs ist, den Staat vom Individuum aus zu denken mit der Unantastbarkeit der Menschenwür- de an der Spitze unserer Verfassung. Das Bewusstsein, dass der Staat dem Menschen zu dienen hat und nicht der Mensch dem Staat und dass der Kern der Verfassung nicht einmal vom verfassungsändernden Gesetzgeber verändert werden kann, halte ich für das Beeindruckendste am Grundge- setz. Das Grundgesetz hat eine Reihe von Konsequenzen aus Weimar gezogen. Be- sonders wichtig ist dabei die Idee der wehrhaften Demokratie. Das Grundgesetz wird oft für seine klare Sprache gelobt. Für manche Verfas- sungsänderungen kann das aber kaum gelten. Gefährdet das Bestreben, man- chen Regelungen Verfassungsrang zu ge- ben, die Verständlichkeit der Verfassung? Wir haben in der Geschichte des Grundge- setzes 63 Verfassungsänderungen erlebt. Dadurch ist der Umfang des Grundgesetzes deutlich angewachsen. Und sicherlich gibt es viele Verfassungsänderungen, die in po- litisch nachvollziehbarer Weise versuchen, Vorgänge in großer Ausführlichkeit in der Verfassung zu regeln, die aber vermutlich besser der Ebene des einfachen Rechts vor- behalten blieben. Dabei geht es aus meiner Sicht nicht in erster Linie um die Verständ- lichkeit des Grundgesetzes. © picture-alliance/dpa Sondern? »Der Staat hat dem Menschen zu dienen und nicht der Mensch dem Staat.« Immer wieder ist zu hören, das Bun- desverfassungsgericht betätige sich als politischer Akteur – zu Recht? Wäre ihm dieser Vorwurf nie gemacht wor- den, hätte es seine Aufgabe verfehlt. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet nicht nach politischen Maßstäben, sondern nach rechtlichen, aber es entscheidet häufig Fäl- le, die auch eine politische Dimension ha- ben. Wenn das Bundesverfassungsgericht in jedem Fall, der eine politische Dimensi- on hat, den Bürgern Rechtsschutz verwei- gern würde, würde es die Funktion, die ihm das Grundgesetz zuge- dacht hat, eklatant verfeh- len. Nicht nur anlässlich des 70. Geburtstages des Grundgesetzes ist viel von dessen Werten die Rede. Was sind für Sie die „Wer- te des Grundgesetzes“? Das Grundgesetz hat in be- sonderer Weise das Indivi- duum im Blick. Bereits im Rahmen des Herrenchiem- see-Konvents wurde der Gedanke formuliert, dass der Staat dem Menschen und nicht der Mensch dem Staat zu dienen habe. Aus diesem Grund wurde an die Spitze des Grundgesetzes der Grundrechtskatalog eingeleitet durch die zentrale Verankerung der Unan- tastbarkeit der Menschenwürde. Das Grundgesetz ist von Anfang an eine Werte- ordnung gewesen. Das Bundesverfassungs- gericht hat schon in den 1950er Jahren entschieden, dass das Grundgesetz nicht wertneutral ist, sondern dass es bestimmte Werte der Gesellschaft verankert: etwa Mei- nungsfreiheit, Religionsfreiheit, Versamm- lungsfreiheit. Und das Grundgesetz kennt Werte, die sogar dem verfassungsändern- den Gesetzgeber entzogen sind: zum Bei- spiel Sozialstaatlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. gestellt, Das Grundgesetz definiert Grenzen und Pflichten staatlichen Handelns. Es wendet sich dabei aber doch nicht nur an den Staat? Das Grundgesetz wendet sich nicht nur an den Staat, sondern setzt auch eine Werte- ordnung im Verhältnis zwischen Privaten. Deshalb hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung immer wieder klargemacht, dass das Grundgesetz eine Werteordnung setzt, die auch auf die Rechtsbeziehungen der Bürger untereinan- der ausstrahlt. So regelt das Grundgesetz auch Werte im Verhältnis zwischen Indivi- duen. Das Grundgesetz er- freut sich breiter Akzep- tanz in der Gesellschaft. Gilt das für die in ihm de- finierten Werte auch so uneingeschränkt? Das Grundgesetz hat in der Tat eine ganz bemerkens- werte gesellschaftliche Ak- zeptanz. Ich habe den Ein- druck, dass diese fundamentalen Wertent- scheidungen des Grundgesetzes für Demo- kratie, Rechtsstaatlichkeit, den Schutz von Grundrechten heute etwas stärker angegrif- fen werden als in früheren Jahrzehnten, aber ich bin überzeugt, dass die überwälti- gende Mehrheit der Bevölkerung ebenso uneingeschränkt hinter diesen Prinzipien steht wie in der Vergangenheit. Macht es Ihnen Sorge, dass diese Wer- te stärker angegriffen werden? Es muss jedem Sorge bereiten, wenn De- mokratie, Rechtsstaatlichkeit und Schutz von Grundrechten heute von Teilen der Be- völkerung teilweise auch bekämpft werden. Wir leben in einer Zeit, in der global betrachtet autoritäre Herrschaftssysteme eine erhebliche Anzie- stärker hinterfragt, hungskraft entfalten – insofern ist die jetzi- ge Zeit eine besondere Bewährungsprobe für die freiheitliche Demokratie. Das ver- langt von allen Akteuren einen außerge- wöhnlichen Einsatz bei ihrer Verteidigung. Wer ist da gefordert? Jeder Einzelne ist aufgefordert, in seiner Sphäre für die freiheitliche Demokratie zu werben, und denen, die versuchen, sie ver- ächtlich zu machen, sie zu beschädigen und zu beseitigen, couragiert entgegenzu- treten. 1990 gab es im Zuge der Wiedervereinigung Anläufe, eine gesamtdeut- sche Verfassung zu erar- beiten und zur Abstim- mung zu stellen. Wäre das wünschenswert gewe- sen? Das Grundgesetz hat sich in den 40 Jahren bis zur Wiedervereinigung eine he- rausragende gesellschaftli- che Akzeptanz erworben. Deshalb kann ich gut nachvollziehen, dass man damals die Ablösung des Grundgeset- zes durch eine andere Verfassung zwar dis- kutiert, im Ergebnis aber verworfen hat. Man hat auch aus geschichtlichen Erfah- rungen heraus gesagt: Das Grundgesetz hat sich 40 Jahre hervorragend bewährt; wir wollen nicht riskieren, eines Tages mit ei- ner eventuell schlechteren Verfassung auf- zuwachen. Denn Verfassungen können auch scheitern. Verständlichkeit ist wichtig, aber wichtig ist auch, dass man sich den Unterschied zwi- schen einem einfachen Gesetz und einer Verfassungsnorm verdeutlicht, die nur mit Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat geändert werden kann. Werden Regelungen ins Grundgesetz geschrieben, die auch im einfachen Recht verankert sein könnten, verengt sich zunächst einmal der demokratische Diskurs. Denn über viele Grundgesetzregelungen diskutiert die de- mokratische Gesellschaft nicht mehr. Sehen Sie weitere Folgen? unglaublich Wir leben in einer Welt, die dyna- sich misch verändert. Es kön- nen nur Länder bestehen, die selbst wandlungsfähig sind. Deshalb sehe ich es mit einer gewissen Sorge, wenn man sich diese Flexi- bilität nimmt, dass man allzu viele Anpas- sungen künftig nur mit Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat erreichen kann. Das macht die Organisation eines Staates schwerfälliger und die Bewältigung der Zukunftsherausforderungen nicht ein- facher. dadurch Das Gespräch führte Helmut Stoltenberg.T Stephan Harbarth (47) ist seit 2018 Vizepräsident des Bundesverfassungs- gerichts. Zuvor gehörte er ab 2009 als CDU-Abgeordneter dem Bundestag an, zuletzt als stellvertretender Fraktionsvorsitzender. »Jeder Einzelne ist aufgefordert, für die freiheitliche Demokratie zu werben.« Es war die frei gewählte DDR-Volks- kammer, die den Beitritt zum Geltungs- bereich des Grundgesetzes beschloss…. Dass die Volkskammer im Sommer 1990 mit überwältigender Mehrheit den Beitritt zum Grundgesetz beschlossen hat, spricht Bände in puncto gesellschaftlicher Akzep- Weiterführende Links zu den Themen dieser Seite finden Sie in unserem E-Paper