2 MENSCHEN UND MEINUNGEN Das Parlament - Nr. 20 - 11. Mai 2020 GASTKOMMENTARE BRAUCHEN WIR EINEN IMMUNITÄTSAUSWEIS? Sinnvoller Pass PRO Der Bundestag hat jüngst das zweite r e g n U _ n e f f e t S _ h c i r t s e d n B _ c r a M i l ( / t t a b s l e d n a H © Thomas Sigmund, »Handelsblatt«, Düsseldorf Bevölkerungsschutzgesetz zum ersten Mal beraten. Leider fehlte darin der wichtige Passus zum Immunitätsaus- weis. Der wäre einem Impfpass ähnlich gewesen und könnte ein sinnvolles Instrument sein, allmäh- lich wieder zu einer wie immer gearteten Normali- tät zurückzukehren. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn strich die Passage nach Protesten wie- der. Er hätte standhaft bleiben sollen. Intelligent gemacht, wäre so ein Ausweis sehr nützlich. Unter Beachtung höchster Datenschutz- standards würde ein Instrument geschaffen, dass uns leichter durch die Pandemie führt. Bestimmte Personen könnten dann an bestimmten Orten an- deren Regeln folgen als Menschen, die noch nicht infiziert waren. Das gilt vor allem für den Klinik- und Pflegebereich. Da wäre es natürlich sehr gut zu wissen, wer schon eine Immunität hat. Auch wenn es hart ist, unter Infektionsschutzge- sichtspunkten brauchen wir einen Instrumenten- kasten, in dem der Ausweis nur ein Instrument et- wa neben der Tracing App sein kann. Klar ist: Es darf dadurch keine Zweiklassengesellschaft ent- stehen. Manche Argumente der Gegner des Immu- nitätsausweises scheinen aber an den Haaren her- beigezogen. Dass sich Massen von Menschen frei- willig mit einer Krankheit anstecken, um einen Ausweis zu bekommen, ist abwegig. Auch das Ar- gument, dass Arbeitgeber einen Immunitätsaus- weis verlangen, bevor sie Jobs vergeben, gehört eher zu theoretischen Diskussionen. Im Job geht es um Qualifikation. Zudem ist es arbeitsrechtlich gar nicht erlaubt, solche Fragen zu stellen. Der Ethikrat wird das alles in seiner Stellungnah- me sicher berücksichtigen. Dann kommt auch et- was Dampf aus der ganzen Debatte. Jens Spahn ist schnell zurückgerudert – der Bundesgesundheitsminister bekam einmal mehr zu spüren, dass seine Neigung zum Vor- preschen nicht immer von Vorteil ist. Dass er ins „Zweite Gesetz zum Schutz der Bevölkerung in einer epidemischen Lage von nationaler Tragwei- te“ mal schnell die Möglichkeit für einen Immuni- tätsausweis einbaute und dies auch zügig durch den Bundestag bringen wollte, stieß auf viel Wi- derspruch. Nun soll der Ethikrat darüber befinden. Spahns Rückzieher zeigt nur, dass er sich vergrif- fen hat. Tatsächlich sollte dieses Vorhaben schnell beendet werden. Denn der Immunitätsausweis ist keine gute Idee. Zwar ist ein solcher Nachweis in einer Epidemie, bei der kein Impfstoff zur Verfü- gung steht, und das möglicherweise für lange Zeit, nicht grundsätzlich abwegig. Er kann in be- stimmten Berufen durchaus sinnvoll sein, in der Medizin etwa oder in der Pflege. Aber Spahns ursprünglicher Entwurf eröffnete die Möglichkeit, ihn auf die gesamte Gesellschaft aus- zudehnen. Mit der Folge, dass alle, die andere nicht mehr anstecken können, „von den Schutz- maßnahmen ganz oder teilweise ausgenommen werden können“, wie es im Entwurf hieß. Schon warben App-Entwickler mit der Aussicht, dass sich mit dem Nachweis auf dem Smartphone wieder problemlos verreisen ließe oder ein Konzertbesuch möglich würde. Einfach den grünen Haken in der App vorzeigen – und Corona ist das Problem der anderen. Das ist fast schon eine Einladung, sich anzustecken. Dann winkt Freiheit. Die Dummen wären jene, die das nicht wollen oder nicht dür- fen. Wer aber eines der wichtigsten Mittel zur Ein- dämmung einer Epidemie – den Selbstschutz – so übergeht wie Spahn, der handelt instinktlos. Mehr zum Thema der Woche auf den Seiten 1 bis 7. Kontakt: gastautor.das-parlament@bundestag.de Keine gute Idee CONTRA p s T © Albert Funk »Der Tagesspiegel«, Berlin Herausgeber Deutscher Bundestag Platz der Republik 1, 11011 Berlin Fotos Stephan Roters Mit der ständigen Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte ISSN 0479-611 x (verantwortlich: Bundeszentrale für politische Bildung) Anschrift der Redaktion (außer Beilage) Platz der Republik 1, 11011 Berlin Telefon (0 30)2 27-3 05 15 Telefax (0 30) 2 27-3 65 24 Internet: http://www.das-parlament.de E-Mail: redaktion.das-parlament@ bundestag.de Chefredakteur Jörg Biallas (jbi) Stellvertretender Chefredakteur Alexander Heinrich (ahe) Verantwortliche Redakteure Claudia Heine (che) Claus Peter Kosfeld (pk) Hans-Jürgen Leersch (hle) Johanna Metz (joh) Kristina Pezzei (pez) Sören Christian Reimer (scr) CvD Helmut Stoltenberg (sto) Alexander Weinlein (aw) Abonnement Jahresabonnement 25,80 €; für Schüler, Studenten und Auszubildende (Nachweis erforderlich) 13,80 € (im Ausland zuzüglich Versandkosten) Alle Preise inkl. 7% MwSt. Kündigung jeweils drei Wochen vor Ablauf des Berechnungszeitraums. Ein kostenloses Probeabonnement für vier Ausgaben kann bei unserer Vertriebsabteilung angefordert werden. Namentlich gekennzeichnete Artikel stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion dar. Für unverlangte Einsendungen wird keine Haftung übernommen. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion. Für Unterrichtszwecke können Kopien in Klassenstärke angefertigt werden. Redaktionsschluss 7. Mai 2020 Druck und Layout Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH & Co. KG Kurhessenstraße 4 – 6 64546 Mörfelden-Walldorf Leserservice/Abonnement FAZIT Communication GmbH c/o InTime Media Services GmbH Postfach 1363 82034 Deisenhofen Telefon (0 89) 8 58 53-8 32 Telefax (0 89) 8 58 53-6 28 32 E-Mail: fazit-com@intime-media-services.de Anzeigenverkauf, Anzeigenverwaltung, Disposition FAZIT Communication GmbH c/o InTime Media Services GmbH Postfach 1363 82034 Deisenhofen Telefon (0 89) 8 58 53-8 36 Telefax (0 89) 8 58 53-6 28 36 E-Mail: fazit-com-anzeigen@ intime-media-services.de „Das Parlament“ ist Mitglied der Informationsgesellschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e. V. (IVW) Für die Herstellung der Wochenzeitung „Das Parlament“ wird ausschließlich Recycling-Papier verwendet. drastisch Vor rund zwei Monaten wurde das öf- fentliche und wirtschaftliche Leben in Deutschland eingeschränkt. Wenn Sie jetzt zurückblicken: Wie hat das Land die Corona-Krise bisher gemeis- tert? Bundesregierung, Bundestag, Länder und Gesellschaft haben sich in großer Ge- schlossenheit diesem Pandemie-Schock ge- stellt. Durch schnelles Handeln wurde eine erfolgreiche Strategie umgesetzt. Die Zu- stimmung in der Bevölkerung ist auch auf breiter Basis vorhanden. Wir gelten auf in- ternationaler Ebene als Vorbild im Kampf gegen die Pandemie. Jetzt geht es darum, die guten Ergebnisse weiter zu erhalten, um auch die wirtschaftlichen Herausforde- rungen offensiv angehen zu können. Nun ist in den zurückliegenden Wo- chen die Bundeskanzlerin zum Teil hef- tig kritisiert worden, sie würde zu viel bremsen, man hätte sehr viel früher schon von der Bremse gehen können. Ich glaube, dass die Infektionszahlen eine deutliche Sprache gesprochen haben. Die Bundesregierung hat sich nicht von Einzel- interessen leiten lassen, sondern hatte das Gemeinwohl im Auge. Deshalb gab es auch von Seiten des Bundestages eine gro- ße Übereinstimmung mit den Entschei- dungen der Bundesregierung. Jetzt werden die Einschränkungen nach und nach wieder gelockert, auch in der Gastronomie und im Tourismus - Branchen, die besonders darunter gelit- ten haben. Wie stehen Sie dazu? Wir durchlaufen derzeit eine Krise, die alle Bereiche unseres wirtschaftlichen und ge- sellschaftlichen Lebens schwer erschüttert hat. In vielen Branchen gibt es eine große Betroffenheit. Mehr als zehn Millionen Kurzarbeiter und 2,7 Millionen Arbeitslo- se. Das ist die Folge eines nie gekannten Einbruchs in Deutschland. Das ganze Ausmaß der Krise unserer Volkswirtschaft werden wir aber wohl erst im dritten oder vierten Quartal 2020 sehen. Das wird für alle Branchen noch ein echter Belastungstest. Einzelne Branchen wie Tourismus und Gastronomie sind davon besonders stark betroffen. der Wirtschaftsleistung Halten Sie die Öffnung dort für ver- antwortbar? Auch wenn man jetzt die Ti- sche weiter auseinanderrückt, sind die Leute doch eng zusammen, und es ist nicht auszuschließen, dass sich dennoch größere Gruppen in den Lokalen bilden. Wir müssen tatsächlich aufpassen, dass wir keine zweite Infektionswelle bekommen. Deshalb müssen mit jedem Grad der Öff- nung die Abstands- und Hygieneregeln weiter eingehalten werden. Wir müssen das Entstehen von neuen Infektionsherden ver- hindern. Das öffentliche Gesundheitswe- sen leistet hierzu einen wesentlichen Bei- trag. Damit können die Länder und Kom- munen sicherstellen, dass bei einer regio- nalen Dynamik mit hohen Infektionszah- len sofort vor Ort mit neuen Beschränkun- gen reagiert werden kann. Im Einzelhandel hat es ja in letzter Zeit schon einige Lockerungen gegeben. Nun berichten die Kaufleute, dass sich die Kunden trotzdem sehr zurückhalten. Muss man sich da auf eine lange Durst- strecke einstellen? Es ist klar, dass die Konsumstimmung nach diesem Pandemieschock nicht gut ist. Und zweifelsfrei steht unsere Gesellschaft noch immer vor großen Herausforderungen. Das wird uns noch länger beschäftigen. Des- halb ist eine ganzheitliche Konzeption zur Wiederbelebung der Wirtschaft eine der wesentlichen Aufgaben, die wir als Parla- ment jetzt haben. Die Autoindustrie für Deutschland besonders wichtige Branche als eine »Wir sind Vorbild« WIRTSCHAFT Der Finanzexperte der CSU mahnt zur Vorsicht beim Hochfahren der Wirtschaft und lehnt eine Autokaufprämie ab © Büro Michelbach/Tobias Koch will eine Abwrackprämie. Wie stehen Sie zu dieser Forderung? Die Wiederbelebung unserer Volkswirt- schaft werden wir nach meiner Ansicht nicht mit mehr Staatswirtschaft, sondern nur mit der bewährten Ordnungspolitik der Sozialen Marktwirtschaft erfolgreich ge- stalten können. Es lebt die Illusion, dass nach den guten öffentlichen Haushalten der vergangenen Jahre alle Wünsche nach konsumtiven Ausgaben erfüllt werden kön- nen. Der Anstieg der Staatsausgabenquote auf mehr als 50 Prozent ist für die nächsten Generationen besorgniserregend. Deshalb müssen wir auch die Subventionspolitik für einzelne Branchen intensiv prüfen. Manche Branchen haben sich so an staatliche Hil- fen gewöhnt, dass sie einfach Dauersubven- tionen wünschen. Auch die diskutierte Kaufprämie für Neufahrzeuge sollte zu- nächst einmal auf die Zielgruppe hin ge- prüft werden. Wenn wir mehr als zehn Mil- lionen Kurzarbeiter haben und auf drei Millionen Arbeitslose zulaufen, frage ich mich, wem überhaupt der Sinn nach Auto- neukauf steht. Viele Leute haben ganz an- PARLAMENTARISCHES PROFIL dere Sorgen. Deswegen heißt es hier auf Seiten des Parlaments Erfolgsaussichten und Effizienz genau zu prüfen. Das wird die Mitarbeiter der Autoin- dustrie nicht besonders freuen. Können Sie denen denn auch Hoffnung machen? Wir müssen erst einmal sehen, inwieweit wir mit der wirtschaftlichen Entwicklung im dritten und vierten Quartal dieses Jah- res vorankommen. Wir können aber eine Wiederbelebung der Volkswirtschaft am besten mit einer bewährten Ordnungspoli- tik der sozialen Marktwirtschaft voranbrin- gen. Ein konfuser Überbietungswettbewerb hinsichtlich staatlicher Versorgungsleistun- gen und Erfüllung ineffektiver Unterstüt- zungsforderungen einzelner Branchen ist sehr schwierig. Warum Autos und nicht ir- gendeine andere Branche, die zur Unter- stützung aufruft? Es gibt auf diesem Feld sehr schnell Forderungen, die nicht gerade als gerecht einzustufen sind. Was jetzt schon vom Staat zugesagt ist und was unvermeidlich noch kommen wird, das sind unvorstellbare Beträge. Können Sie sich vorstellen, wie das je- mals wieder abgebaut werden kann? Die Ausgaben des Staates zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Corona- Krise haben Ausmaße, die es für die künfti- gen Generationen sehr schwierig machen. Wir haben auf der Haben-Seite Spielräume durch die gute Wirtschaftsentwicklung der vergangenen Jahre und den Abbau der Ver- schuldung. Aber die sind nicht unbegrenzt, zumal es auch Forderungen für den ge- meinsamen Binnenmarkt in Europa gibt. Deswegen müssen wir alle Ausgaben, alle Programme auf den Prüfstand stellen. Ich halte nichts von Ausgabenprogrammen, die Strohfeuer entfachen. Vielmehr sollte man zu einer generellen ordnungspoliti- schen Linie kommen, und die beste ist, dass man den Menschen mehr Freiheit gibt, indem man ihnen über eine Steuer- entlastung mehr Geld zur Verfügung stellt. Dann werden die Leute selbst am besten wissen, was sie mit ihrem Mehr an Liquidi- tät anfangen. Das ist, glaube ich, die beste Grundlage für die Wiederbelebung der Wirtschaft. Es gibt Meldungen, dass den Kommu- nen die Finanzen wegbrechen. Vor allem bei der Gewerbesteuer ist ein katastro- phales Ergebnis zu erwarten. Sollten die Kommunen deshalb Hilfe vom Bund be- kommen? Bund, Länder und Kommunen sitzen ja bei Steuermehreinnahmen im gleichen Boot, und so ist es auch bei den Steuer- rückgängen. Es ist natürlich verständlich, dass auch die Kommunalpolitik ihre Inte- ressen formuliert. Aber man muss sehen, dass die weiteren Unterstützungsmöglich- keiten eine finanzielle Grenze haben. Wir müssen uns darauf konzentrieren, den Be- trieben, den Steuerzahlern, den Verbrau- chern Freiräume zu geben, um die Wieder- belebung der Wirtschaft zu erreichen. Da- rum ist es am besten, wenn man den Soli zum 1. Januar 2020 ganzheitlich rückwir- kend abschafft und die Unternehmensbe- steuerung modernisiert, um Liquidität zur Wiederbelebung der Wirtschaft zu errei- chen. Davon profitieren dann auch die Kommunen. I Das Gespräch führte Peter Stützle. T Hans Michelbach (CSU) gehört dem Bundestag seit 1994 an und ist Obmann der Unionsfraktion im Finanzausschuss. Weiterführende Links zu den Themen dieser Seite finden Sie in unserem E-Paper Die Gewerkschafterin: Susanne Ferschl Den Tag der Arbeit erlebte Susanne Ferschl am Compu- ter. Für die Gewerkschafterin war das hart. „Den 1. Mai gemeinsam auf der Straße zu begehen, das ist nicht nur eine Tradition, sondern immer wieder beson- ders und irgendwie prickelnd“, sagt die Linken-Bundestagsabge- ordnete am Telefon. Doch Corona machte dem einen Strich durch die Rechnung. Die Folge: Die Maikundgebung des DGB verfolgte Ferschl, 47, am Bildschirm. Und auf die Straße ging sie am Nach- mittag. Aber zum Spazieren. Schwächt Corona die Arbeiterbewegung? „Nicht, wenn wir uns so- lidarisch verhalten“, sagt die Allgäuerin. Was sie darunter versteht, hat sie in einen Antrag gepackt, der in der vergangenen Woche in den Bundestag eingebracht worden ist: „Sozialen Schutz auch während der COVID-19-Pandemie umfassend gewährleisten“ heißt er und umfasst mehrere Punkte – für die Zeit der Corona-Krise sol- len unter anderem die Regelsätze für Hartz-IV um 200 Euro pro Monat erhöht werden, und es soll einen einmaligen Zuschuss für Kinder geben, damit sie im Zuge des Home Schooling zurechtkom- men. „Insbesondere ärmere Familien haben ein Problem: Viele All- tagsprodukte haben sich verteuert – und plötzlich müssen Eltern für den Unterricht daheim sorgen. Dafür sind zumindest vorüber- gehend die Regelsätze zu erhöhen und Zuschüsse für IT-Ausstat- tung zu bezahlen“, sagt Ferschl. Auch soll der Zugang zu sozial- staatlichen Leistungen für diesen Zeitraum auf alle Personen aus- geweitet werden, die sich in Deutschland aufhalten, „das ist schlicht ein notwendiges Gebot der Menschlichkeit“. Es überrasche sie, sagt sie, wie schnell, leise und effizient in der Corona-Krise Hilfe für Unternehmen organisiert wurde – im Ver- gleich zu den Arbeitnehmern; zum Beispiel erstattet die Bundes- agentur für Arbeit den Arbeitgebern nun die Sozialabgaben auf die kurzarbeitsbedingt entfallene Arbeitszeit komplett. „Beim Kurzar- beitergeld dagegen wird mehr gegeizt, dabei sollte es auf 90 Pro- zent erhöht werden.“ Ferschl ist eingefleischte Arbeitnehmervertreterin. Nach dem Abitur ..................................................................................................................................................... »Insbesondere ärmere Familien haben ein Pro- blem: Viele Alltagsprodukte haben sich verteuert.« r e m m o S F. / e c n a i l l a - e r u t c i p ´ © wollte sie eigentlich Lebensmittelchemie studieren, begann 1992 zur Vorbereitung eine Ausbildung als Chemielaborantin bei Nestlé. Schnell politisierte sie sich, sah „die Ungleichgewichte und ständi- gen Auseinandersetzungen wegen Arbeitsbedingungen und Ent- lohnung“ – aber auch, dass man „relativ gut mitreden und mitent- scheiden kann“. Als Azubi trat sie der Gewerkschaft Nahrung, Ge- nuss, Gaststätten (NGG) bei, 1994 wurde sie in den Betriebsrat ge- wählt. Zwei Jahre später wurde sie im Alter von 26 Jahren zur frei- gestellten Betriebsratsvorsitzenden gewählt und übernahm damit Verantwortung für 700 Kollegen. Es folgten: 2006 Wahl zur Vorsit- zenden des Gesamtbetriebsrates von Nestlé Deutschland, in den europäischen Betriebsrat und in den Aufsichtsrat. „Die Aufgaben wurden immer mehr. Bald entschied ich mich, doch nicht mehr zu studieren und weiter für Arbeitnehmerrechte zu kämpfen. Das ist eine Richtungsentscheidung, welche die sachliche Karriere ab- schneidet.“ Früher sei sie SPD-affin gewesen, sagt sie, habe aber mit der Agen- dapolitik unter Gerhard Schröder ein „Trauma“ erlitten. Erst seit 2016 ist Ferschl Mitglied bei den Linken, seit 2017 sitzt sie für den Wahlkreis Kaufbeuren-Ostallgäu im Bundestag, ist Fraktionsvize. „Irgendwann dämmerte mir, dass es nicht ausreicht, nur im Betrieb Veränderungen anzustreben – sondern für die ganze Gesell- schaft.“ Die Linke, die sich immerhin in der Nachfolge einer Arbei- terpartei sieht, interessierte sich für Ferschl, es gab Anfragen. In ih- rer Fraktion ist sie als Arbeiterin, wie in allen anderen Fraktionen auch, in der Minderheit. „Der Bundestag erinnert mich sehr an ei- nen Betriebsrat“, sagt sie. „Manche Diskussionen mit dem Ma- nagement hatten wenig mit der Basis zu tun – und unter Parla- mentariern ist es oft auch so.“ Seit Tagen ist ihr wichtigstes Arbeitsutensil das Telefon. Gespräche von 8:30 Uhr bis 12 Uhr, dann von 14 Uhr bis 18 Uhr, alles durch- getaktet. „Das Organisieren ist schwieriger geworden. Aber ge- schafft werden muss ja.“ Jan Rübel T