6 INNENPOLITIK Das Parlament - Nr. 21-22 - 18. Mai 2020 In Zeiten der Corona-Pandemie, in denen das Denken eher um die Zeitpläne für die nächsten Locke- rungen oder den unsicheren Som- merurlaub kreist, scheint die Bun- destagswahl 2021 noch sehr weit weg zu sein. Ist sie aber nicht, jedenfalls nicht für den Politikbetrieb: Schon in gut einem Monat können den Parteien mit der Aufstellung ihrer Kandidaten beginnen, nämlich ab dem 25. Juni. Bei der Kür von Wahlkreiskandidaten ist es natürlich hilfreich zu wissen, welche und wie viele Wahlkreise es eigentlich geben wird. Das klingt banal, spielt aber eine gro- ße Rolle bei der Frage, wie viele Abgeord- nete nach der Wahl im Bundestag sitzen werden. Der liegt derzeit mit 709 Mitglie- dern weit über der Sollgröße von 598, zu der sich aktuell 111 „Überhangmandate“ und „Ausgleichsmandate“ gesellen – eine Folge des in Deutschland praktizierten per- sonalisierten Verhältniswahlrechts. Überhangmandate entstehen, wenn Partei- en in den Wahlkreisen mehr Direktmanda- te gewinnen als ihrem Zweitstimmenergeb- nis entspricht; damit die Zusammenset- zung des Parlaments trotzdem dem Zweit- stimmenergebnis der Parteien entspricht, werden zur Kompensation zusätzliche „Ausgleichsmandate“ vergeben. Im Ergebnis könnte der nächste Bundestag, so wird befürchtet, auf mehr als 800 Parla- mentarier anwachsen. Um das zu verhin- dern, ringt das Parlament seit Jahren ver- geblich um einen halbwegs konsensfähi- gen Weg. Aktuell liegt den Abgeordneten dazu ein Gesetzentwurf von FDP, Linken und Grünen (19/14672) vor, der unter an- derem eine Verringerung der Zahl der Wahlkreise und damit der Direktmandate von derzeit 299 auf 250 vorsieht und am kommenden Montag den Innenausschuss in einer Sachverständigen-Anhörung be- schäftigen wird. Für den Drei-Fraktionen-Vorschlag freilich „ist der Zug für die nächste Wahl wohl bald abgefahren“, wie Friedrich Straet- manns (Linke) vergangene Woche in einer Aktuellen Stunde des Parlaments beklagte, „denn die Neueinteilung der Wahlkreise ist zum jetzigen Zeitpunkt nur noch sehr schwer rechtzeitig zu machen“. Koalitionsvertreter machten indes deutlich, dieser Zugverbindung nicht nachzutrauern: „Wir wollen für die nächste Bundestags- wahl keine Reduzierung der Wahlkreise“, betonte Carsten Schneider für die SPD, und Mathias Middelberg (CDU) gab zu be- denken, die mit einer solchen Reduzierung verbundene Ausdehnung der Wahlkreise würde die Verbindung zwischen Abgeord- neten und Bürgern schmälere. Gleichwohl sei er persönlich der Meinung, dass man „durchaus über eine moderate Reduzie- rung der Zahl der Wahlkreise sprechen“ könne. Ansgar Heveling (CDU) warb für ein Mo- dell, das unter anderem eine „moderate Reduzierung der Wahlkreise auf 270“ bein- haltet sowie eine „Hinnahme von aus- gleichslosen Überhangmandaten, so wie sie das Bundesverfassungsgericht für zuläs- sig ansieht“. Der Vorschlag erntete mehrfa- chen Widerspruch: Eine solche Wahlkreis- reduzierung sei „allein aufgrund der Zeit gar nicht mehr umzusetzen“, argumentier- te SPD-Mann Schneider. Und für Die Linke monierte Straetmanns, die „Idee der 15 nicht auszugleichenden Überhangmanda- te“ benachteilige alle Wähler, die nicht die Union wählen wollen. Kritik an CSU „Durchaus offen“ zeigte sich Straetmanns für einen Vorschlag der SPD, sofern „geregelt ist, dass es sich um ein Übergangswahlrecht handelt“. Schnei- der entgegnete, die von der SPD vorge- schlagene „Kappung“ ab einer maximalen Größe von 690 Abgeordneten solle „nur eine Brücke für die nächste Bundestags- Die Zeit läuft WAHLRECHT Zwischen den Fraktionen zeichnet sich weiterhin kein Durchbruch für eine Neuregelung zur Reduzierung der Abgeordnetenzahl ab Bundestagssitzung vom vergangenen Mittwoch: Bei Pandemie-bedingten Sicherheitsabständen finden derzeit selbst im weiten Rund des Plenarsaals nicht alle 709 Abgeordnete gleichzeitig einen Platz. © picture-alliance/dpa / Michael Kappeler wahl“ sein und nicht „für immer der Stan- dard“. Zugleich räumte er ein, dass diese Regelung auch „Härten“ sowohl für direkt gewählte Abgeordnete als auch im Blick auf Ausgleichsmandate mit sich bringe. Sowohl aus den Reihen der Opposition wie aus der SPD-Fraktion wurde in der De- batte insbesondere der CSU vorgeworfen, eine Einigung zu verhindern. „Sie lehnen alle vorgelegten Vorschläge bisher ab und pochen auf Ihren eigenen, der ausschließ- lich Ihre Partei begünstigt“, sagte Uli Grötsch (SPD) mit Blick auf die CSU. Marco Buschmann (FDP) kritisierte, jeder Vorschlag der CSU sei entweder verfas- sungswidrig gewesen oder habe das Pro- blem nicht gelöst. Damit seien die von der CSU in die Diskussion eingeführten Beiträ- ge „das komplette Gegenteil“ des Drei- Fraktionen-Vorschlags. Britta Haßelmann (Grüne) betonte, mit diesem Vorschlag könne man „das perso- nalisierte Verhältniswahlrecht proportional gerecht“ für alle Parteien umsetzen. Dane- ben gebe es auch andere Vorschläge wie das „Kappungsmodell“, wonach jede Partei nur mit so vielen Direktmandaten ins Par- lament einziehen könne, wie ihr Zweit- stimmenergebnis ermögliche. Auch damit würde das Verhältniswahlrecht umgesetzt, das in Deutschland gelte. „Also ginge auch der Vorschlag der SPD“, fügte sie hinzu. Albrecht Glaser (AfD) warb für eine Be- grenzung der Direktmandate als „Königs- weg“: „Diejenigen, die in ihrem Wahlkreis am schlechtesten abschneiden, kommen nicht zum Zuge – wenn wir das so ma- chen, ist das hochdemokratisch.“ Für die CSU nannte es demgegenüber Mi- chael Frieser „nicht nachvollziehbar“, dass bei einer Regelung zur Reduzierung der Abgeordnetenzahl nur die direkt gewähl- ten Parlamentarier „die Rechnung bezah- len sollen“. Auch habe er bei dem Vor- schlag der drei Oppositionsfraktionen in den zurückliegenden Monaten nichts von Kompromissfähigkeit gesehen. Man brau- che aber eine Lösung, um einen unkon- trollierten Aufwuchs des Bundestages zu verhindern. Helmut Stoltenberg T > K O M PA K T Modelle zur Verkleinerung > FDP, Linke und Grüne Die drei Frak- tionen schlagen in einem gemeinsamen Gesetzentwurf (19/14672) unter ande- rem eine Verringerung der Zahl der Wahl- kreise von 299 auf 250 vor. > AfD Bereits 2019 lehnte der Bundestag einen AfD-Antrag (19/14066) ab, die Zahl der Direktmandate einer Partei entspre- chend ihrem Zweitstimmenergebnis zu begrenzen. > SPD Sie will als Übergangslösung für die nächste Bundestagswahl eine maxi- male Obergrenze von 690 Abgeordneten. > Union Aus ihren Reihen wird auf das Mo- dell einer Wahlkreiszahl von 270 bei Hin- nahme einer bestimmten Zahl ausgleichs- loser Überhangmandate verwiesen. Eine Zumutung als solidarischer Akt KULTUR Bundestag beschließt Gutschein-Lösung »Es ist ein gutes Gesetz, weil es für einen fairen Ausgleich sorgt.« Johannes Fechner (SPD) Nur sehr langsam fährt auch das kulturelle Leben in Deutschland nach dem coronabe- dingten Lockdown wieder hoch. Die ersten Museen und Bibliotheken öffnen wieder, in einigen Bundesländern wird in den kommenden Wochen auch wieder ein Ki- nobesuch möglich sein. All dies geschieht unter strengen Hygiene- und Abstandrege- lungen, der Zugang wird zahlenmäßig be- grenzt. Von einem Normalzustand wird wie in allen anderen Bereichen des öffent- lichen Lebens aber noch lange keine Rede sein können. Besonders hart hat es die Ver- anstalter von Konzerten und Festivals, Theater oder Opernhäuser getroffen. Großveranstaltungen sol- len bundesweit bis zum 31. August untersagt blei- ben und es ist nicht ausge- schlossen, dass dieses Ver- bot in einigen Bundeslän- dern sogar verlängert wird. Um die Veranstalter vor dem finanziellen Aus zu be- wahren, verabschiedete der Bundestag am vergangenen Donnerstag die sogenannte Gutschein-Lösung. Den entsprechenden Ge- setzentwurf der CDU/CSU- und der SPD- Fraktion (19/18697) billigte das Parlament in der durch den Rechtsausschuss geänder- ten Fassung (19/19218) mit den Stimmen der Koalition gegen das Votum der Opposi- tionsfraktionen. Abgelehnt wurden hinge- gen gemäß der Beschlussempfehlungen des Rechts- und des Kulturausschusses (19/ 19218, 19/19202) acht Anträge der FDP, AfD, der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen, die weitergehende Hilfen für die Kulturszene gefordert hatten. Die Gutschein-Lösung sieht vor, dass die Käufer von Tickets für Kultur-, Freizeit und Sportveranstaltungen zunächst einen Gut- schein statt einer Kostenerstattung für eine abgesagte Veranstaltung erhalten sollen. Gelten soll dies für Tickets für Konzerte, Festivals, Theater- und Filmvorstellungen, Vorträge, Lesungen, Musik-, Sprach- oder Sportkurse, die vor dem 8. März dieses Jahres gekauft wurden. Eine Auszahlung des Ticketpreises sollen die Kunden nur verlangen kön- nen, wenn die Gutschein- Lösung wegen persönlicher Lebensverhältnisse unzu- mutbar ist oder der Gut- schein bis Ende 2021 nicht eingelöst wird. Kulturstaatsministerin Mo- nika Grütters (CDU) be- grüßte die Entscheidung des Bundestages ausdrück- lich. Sie helfe, einen wichtigen Kulturbe- reich in der Corona-Krise „zu retten“, ver- kündete sie gegenüber der Presse. Im Ple- narsaal des Bundestages wurde die Gut- scheinlösung von der Opposition hinge- gen massiv kritisiert. Selbst in der Koaliti- on hatte sie in einen Streit ausgelöst, die Verabschiedung des Gesetzes war schließ- lich um eine Woche verschoben worden. So betonte Johannes Fechner (SPD), dass das Gesetz zwar einen „ganz wichtigen Bei- trag“ dafür leiste, „dass wir unsere Kultur- landschaft mit den Events in Deutschland erhalten und ganz viele Arbeitsplätze si- chern“. Er räumte aber zugleich ein, dass die SPD gerne „mehr Verbraucherschutz“ gewährleistet hätte. So hätte man die Här- tefallregelung im Gesetz gerne „präziser“ gefasst und eine Schlichtungsstelle für Streitigkeiten eingerichtet, führte Fechner an. Dies sei aber mit dem Koalitionspart- ner nicht zu machen gewesen. Trotzdem sorge das Gesetz für einen „fairen Aus- gleich“. Johannes Frei (CDU) machte für den ange- sprochenen Koalitionspartner auch gar kei- nen Hehl daraus, dass die Gutschein-Lö- sung eine „Zumutung“ für die Verbraucher darstelle. Aber sie sei „vertretbar“. Auf der einen Seite ginge es um Eintrittskarten im Wert von zweistelligen oder niedrigen drei- stelligen Beträgen. Das Geld hätten die Verbrau- cher bereits ausgegeben, deswegen gerate niemand in finanzielle Not. Auf der anderen Seite müsse be- fürchtet werden, dass Ver- anstalter reihenweise in die Insolvenz gingen, wenn sie die Tickets erstatten müs- sen, argumentierte Frei. Die Opposition bemängel- te vor allem zwei Punkte an der Gutschein-Lösung: Zum einen bleibe der Ver- braucher auf dem finanziellen Verlust sit- zen, wenn der Veranstalter doch in die In- solvenz gehe. Zum anderen helfe es den Veranstaltern nur sehr bedingt, da ihre Ein- nahmeverluste mit der Gutschein-Lösung in die Zukunft verschoben würde, hieß es übereinstimmend aus den Reihen von AfD, FDP, Linken und Grünen. Lothar Maier (AfD) hielt der Koalition vor, sie stelle damit wichtige Rechtsgrundsätze auf den Kopf. Wenn der Staat eine Gut- schein-Lösung vorschreibe, dann müsse er auch das Insolvenzrisiko für den Verbrau- cher übernehmen. Gutschein-Lösungen seien durchaus sinnvoll, betonte Maier, sie müssten aber auf Freiwilligkeit beruhen. In diesem Sinne argumentierte auch Katha- rina Willkomm (FDP). Einen „Zwangsgut- schein“ müsse ihre Fraktion ablehnen. Es gehe nicht an, dass nach der Härtefallrege- lung der Käufer des Tickets dem Veranstal- ter nachweisen müsse, dass ein Gutschein für ihn un- zumutbar sei. Eine Erstat- tung des Tickets in Geld müsse in jedem Fall mög- lich sein, forderte die Libe- rale. Amira Mohamed Ali (Lin- ke) prophezeite der Koaliti- on, sie werde mit der Gut- schein-Lösung zum einen die Kulturbranche nicht retten, aber im Gegenzug den Verbraucherschutz aus- höhlen. „Beides ist nicht akzeptabel“, betonte Ali. Es brauche viel- mehr einen „wirksamen Schutzschirm“ für die Veranstalter und die Kulturschaffenden. Einen Schutzschirm für die Kulturbranche und die Künstler forderte auch Erhard Grundl (Grüne). Die ersten Maßnahmen der Bundesregierung in der Corona-Krise seien zwar schnell gekommen, sie seien aber auf die spezifischen Bedürfnisse der Kulturschaffenden „nicht zugeschnitten“. Die Soforthilfen für Freischaffende deckten eben nur die Betriebskosten und der Zu- gang zur Grundsicherung gehe an den Ar- beitsrealitäten vieler Kulturschaffender vor- bei, führte Grundl an. Auch die Gutschein- Lösung sei keine Lösung, da sie das Risiko einseitig bei den Verbrauchern ablade, dies sei unsolidarisch. Alexander Weinlein T »Zwangsgut- scheine kündigen die Solidarität ein Stück weit auf. « Erhard Grundl (Grüne) Ein Gruß ins Jenseits: »Salut, ça va?« FALL AMRI Der Untersuchungsausschuss spürt Nachrichten auf dem Mobiltelefon des Attentäters vom Berliner Breitscheid-Platz nach Anis Amri, der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, war gerade mal vier bis fünf Stunden tot, als sich auf seinem Smartphone ein alter Bekannter meldete. Mit drei Worten auf Französisch: „Salut, ça va?“, also: „Hallo, wie geht’s?“ Die Nach- richt erreichte am 23. Dezember 2016 um 8.55 Uhr Amris HTC-Mobiltelefon, das sich seit knapp drei Tagen in Berliner Poli- zeigewahrsam befand. Absender war ein tunesischer Landsmann des Terroristen, ein gewisser Mouadh Tounsi alias „Momo1“. Die postume Nachfrage nach Amris Befin- den zählt zu den bizarren und bis heute rätselhaften Episoden, die sich um die Ge- schichte des opferreichsten radikalislami- schen Anschlags in Deutschland und sei- nes Urhebers ranken. So wie der Umstand, dass der Lastwagen, den Amri am Abend des 19. Dezember 2016 in Berlin kaperte, um den Weihnachtsmarkt an der Kaiser- Wilhelm-Gedächtniskirche zu überrollen, zwei Tage zuvor im lombardischen Sesto San Giovanni auf die Reise gegangen war – Weiterführende Links zu den Themen dieser Seite finden Sie in unserem E-Paper dem Ort, wo der Täter 80 Stunden nach der Tat an einer Polizeikugel starb. Dass das Mobiltelefon, dem die Ermittler we- sentliche Erkenntnisse über Amris Lebens- wandel in den Wochen vor dem Attentat verdanken, nicht im Führerhaus des Last- wagens lag, sondern im Kühlerrost steckte. Oder auch, dass sich darauf zwei Fotos vom Tatort fanden, die erst Stunden nach dem Anschlag entstanden sein können. IS-Publikation Die Frage „wie geht’s?“ be- schäftigte in der vorigen Woche ausgiebig den Amri-Untersuchungsausschuss. Den AfD-Obmann Stephan Keuter hatte irri- tiert, dass sie nicht korrekt in zwei Worten formuliert war, also „ça va?“, sondern sich wie „cava“ las. Der Diplom-Betriebswirt und Bankkaufmann Keuter tauchte tief ein in die Geheimnisse der romanischen Phi- lologie und stellte fest, dass „Cava“ einer- seits eine katalanische Sektmarke ist, ande- rerseits auf Italienisch auch „Steinbruch“ bedeuten kann. Wollte sich „Momo1“ mit Amri an einem Steinbruch verabreden? Fragen über Fragen. Dank des Mobiltelefons wissen die Ermitt- ler immerhin, seit wann spätestens Amri mit „Momo1“ in Verbindung stand. Am 10. November 2016 übersandte der Ge- währsmann, der sich damals mit hoher Der von Amri bei dem Anschlag verwendete Lkw am Tag nach dem Attentat. Ein Mobil- telefon des Täters steckte im Kühlergrill des Fahrzeugs. © picture-alliance/dpa / Michael Kappeler Wahrscheinlichkeit in Libyen aufhielt, ein 143 Seiten umfassendes PDF-Dokument, eine Publikation des sogenannten Islami- schen Staates (IS). „Frohe Botschaft zur Rechtleitung für diejenigen, die Märtyrer- Operationen ausführen“, lautete der erbau- liche Titel. Kein Handbuch mit praktischen Bomben-Tipps, vielmehr spiritueller Trost und seelische Stärkung für Möchtegern-At- tentäter, erklärte Kriminalhauptkommissa- rin N.S. dem Ausschuss in der vorigen Wo- che. Interessierte Leser fanden hier feinzi- selierte theologische „Argumente“ zur Be- gründung, warum es ein gottgefälliges An- liegen sei, Ungläubige abzumurksen. Die Zeugin S. ist seit 2002 im Bundeskri- minalamt (BKA) tätig, seit 2003 beim Poli- zeilichen Staatsschutz und dort seit 2005 Besonderen mit der Abwehr des radikalislamischen Ter- rorismus befasst. Nach dem Breitscheid- platz-Attentat forschte sie in der ermitteln- den Aufbauorganisation (BAO) „City“ nach Gewährsleuten Amris im IS. Die Terrororganisation habe sich die Betreuung ihrer in Ländern des westlichen Kulturkreises lebenden Anhänger einige Mühe kosten lassen, erläuterte sie. Der IS habe in seinen Herrschaftsgebieten über ein Netz von Mentoren verfügt, deren Auf- gabe es war, die Schützlinge aus der Ferne zu Attentaten zu ermutigen, sie „emotional und ideologisch“ zu begleiten sowie nach vollbrachter Tat die IS-Spitze zu informie- ren, damit diese sich zeitnah der Urheber- schaft rühmen konnte. Nachrichten gelöscht Mouadh Tounsi ali- as „Momo1“ war offensichtlich Amris IS- Mentor. Die Bundesanwaltschaft hat wegen Beihilfe einen Haftbefehl gegen ihn er- wirkt. Es ist unbekannt, wie und wann ihm in Kontakt gelangte, ge- Amri mit schweige denn, was die beiden zwischen Deutschland und Libyen über die Wochen miteinander auszutauschen hatten, denn Amri hat unmittelbar vor der Tat den ge- samten vorherigen Chatverlauf gelöscht. Er war, wie ein weiterer Zeuge aus dem BKA, der Erste Kriminalhauptkommissar A.M., ihn schilderte, ohnehin ein extrem vorsich- tiger und misstrauischer, „fast paranoider“ Zeitgenosse, der seit dem 26. Oktober 2016 nicht weniger als 14 Mal sämtliche Nach- richten in seinem Telegram-Speicher ver- nichtete. Kurz bevor Amri am Abend des 19. De- zember zur Tat schritt, öffnete er um 19.15 Uhr den Kanal zu „Momo1“ ein wei- teres Mal: „Bleib in Kontakt mit mir.“ We- nig später meldete er: „Ich sitze jetzt in der Karre.“ Danach schickte er ein Bild des Ar- maturenbretts. Als er gegen 20 Uhr den Weihnachtsmarkt erreichte, bat er den Chatpartner: „Bete für mich, mein Bruder.“ Vorbild Nizza Dabei mag es Amri als gött- liche Fügung empfunden haben, endlich losschlagen zu können. Spätestens seit dem Frühherbst 2016, meinte der Zeuge M., sei er davon „beseelt“ gewesen, einen Anschlag zu verüben. Damals fand ihn sein französischer Kumpel Clément Baur „fasziniert“ von dem Attentat in Nizza, wo im Juli ein Schwerlaster über die Uferpro- menade gebrettert war. Seit dem 28. No- vember habe Amri täglich nach einem ge- eigneten Gefährt gesucht. Dass er an jenem Dezemberabend fündig werden würde, ha- be er noch am Nachmittag nicht ahnen können. Winfried Dolderer T