Dokument wird geladen
BRUTALE HERRSCHAFT Hundertausende fielen in den Kolonien den Deutschen zum Opfer SEITE 4 UMSTRITTENE SCHÄTZE Eine Übersicht über problematische Objekte in hiesigen Sammlungen SEITE 10 Kulturraub Erb e S o n d erth e m a: Völkerm ord,Rassism usund D as k olo niale Berlin, 06. Januar 2020 www.das-parlament.de 70. Jahrgang | Nr. 2-3 | Preis 1 € | A 5544 AUFARBEITUNG Langsam stellt sich Deutschland dem Schrecken seines kolonialen Erbes Bröckelnde Amnesie Die drei Jahrzehnte deut- Die Kolonialzeit diente heute nur noch als Staffage. Wie hier in Hamburg wurden in vielen deutschen Städten bis in die Zeit der Bundesrepublik hinein Produkte aus den von euro- päischen Mächten besetzten und ausgebeuteten Gebieten verkauft. © picture-alliance/imageBROKER Der Export von Agrargütern begründete eine neue Dimension des Mangels: den Hunger. Aber die weißen Herrenmenschen konn- ten nicht alle „Eingeborenen“ verhungern lassen, denn sie brauchten sie als Lohn- sklaven. Die wichtigsten Instrumente zur Umerziehung waren der Arbeitszwang und das Steuerdiktat. Die Afrikaner und Afrikanerinnen wurden genötigt, in die Frondienste der Fremdherrscher zu treten, ihre Waren zu kaufen, über die Hütten- oder Kopfsteuer ihre Militär- und Verwal- tungsapparate zu finanzieren. Die Subsis- tenzgemeinschaft wurde in eine Arbeitsgesellschaft verwandelt, die Geldwirt- schaft verdrängte den her- Tauschhan- kömmlichen del. Die gewaltsame Mo- dernisierung hatte verhee- renden Folgen: Landflucht, Entwurze- Wanderarbeit, lung, die Zerstörung des traditionellen Lebens. Zugleich dienten die Kolo- nien als Laboratorien der Moderne, in denen repres- sive Verwaltungsapparate, polizeistaatliche Methoden und militäri- sche Strategien erprobt wurden; die Inva- soren bauten Konzentrationslager, trenn- ten Wohngebiete nach Rassen, entwickel- ten Maßnahmen zur Bevölkerungskon- Sozialhygiene und Seuchenbe- trolle, kämpfung. Sie zwangen den annektierten Gebieten das europäische Staatskonzept ihrer Sicht auf, und am Ende war die Welt verwest- licht. Die Rassenlehre der Kolonialherren sollte „wissenschaftlich“ untermauern, was die Unterworfenen aus immer schon waren: Sklaven, Knechte, Diener, Subjekte auf der tiefsten Stufe der Minder- wertigkeit. Das erklärte Ziel war, die Be- wohner der Kolonien auf eine höhere Kul- turstufe zu heben, und die christlichen Missionare übernahmen dabei eine wichti- ge Rolle. Sie trichterten den „Heidenkin- dern“ westliche Werte ein: Gehorsamkeit, Fleiß, Arbeitsdisziplin und natürlich sittli- che Gebote wie die Einehe. Man gab vor, die „Eingebo- renen“ aus der Finsternis des Unwissens zu erlösen. Für die Mehrheit der Afri- kaner aber war die Koloni- sierung eine Art Gehirnwä- sche, die ihnen die Africa- ness ausgetrieben hat, ihre Identität als Afrikaner. So schwand des Selbstwertgefühls, das nach dem Trauma der Sklaverei noch übriggeblieben war: Das Denken, der Glaube, die Sinne und Wünsche der Menschen wurden kolonisiert. Unterdessen schwindet zwar die politische und ökonomische Macht des Westens, doch seine kulturelle Hegemonie wirkt fort. Wir maßen uns eine universelle Deu- tungshoheit an und sehen die Welt nach wie vor mit dem „imperialen Auge“. Aber der Rest Der Kolo- nialismus kam für einen be- trächtlichen Teil der Menschheit einem Höllen- sturz gleich. Rassistische Weltbilder waren immer da. Jetzt brechen sie hemmungslos wieder auf. oft nur die Bilder, die wir etwa über Afrika anferti- gen, erzählen mehr von uns selbst als von unserem Nachbarkontinent: Sie spiegeln unsere rassistischen Vorurteile und unseren eurozentrischen Überlegenheitsdünkel. Es ist die Welt des „ewigen Negers“, der nun angeblich millionenfach nach Europa auf- bricht. Während historische Darstellungen ge- schundener Sklaven oder Bilder von ver- hungernden Kindern mit Empathie be- trachtet werden, lösen die aktuellen Fotos von Afrikanern, die zu Tode verängstigt auf überfüllten Schiffen im Mittelmeer dahin- treiben, noch Furcht und Abscheu aus. Man nimmt sie nicht als Menschen wahr, sondern als bedrohliche schwarze Masse. Sie werden wie in der Epoche des Kolonialis- mus dehumanisiert. „Absaufen! Absaufen!“, skandierte der Mob, als bei einer fremdenfeindlichen Demonstration in Dresden Fernsehbilder von in See- not geratenen Migranten gezeigt wurden. Ausländer, uner- „Asylanten“, Flüchtlinge wünscht, schreit die rechtspopulistische „Alternative für Deutschland“, und in der aufgewiegelten Bevölkerung dröhnt ein vieltausendstimmiges Echo. seien Alte Begrifflichkeiten Alte und neue Na- zis verwenden wieder ganz selbstverständ- lich Begriffe wie Volk, völkisch, Lebens- raum, Rasse, Rassenkampf. Sie glauben, dass das Leben schwarzer Menschen weni- ger wert sei – angeblich zähle es ja auch in deren Heimatländern nicht viel. Neuerdings wird sogar darüber diskutiert, ob man afrikanische Migranten unbedingt vor dem Ertrinken retten müsse. In derart obszönen Gedankenspielen sind jene ras- sistischen Weltbilder zu erkennen, die in der Kolonialära geprägt wurden. Sie waren immer da. Jetzt brechen sie wieder hem- mungslos auf. Bartholomäus Grill T Der Autor war langjähriger Afrika- Korrespondent des SPIEGEL. 2019 erschien sein Buch „Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe: Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte“ bei Siedler. ED I TO R IA L Eine Frage der Moral VON JÖRG BIALLAS Das koloniale Erbe ist kein rühmliches. Nir- gendwo auf der Welt. Denn das Muster ist überall gleich: Unter dem Vorwand, fernen Ländern die Zivilisation zu bescheren, wurden die Nationen wirtschaftlich und kulturell hem- mungslos ausgebeutet. Ohne Rücksicht auf Leib und Leben der Bevölkerung, ohne Be- wusstsein für das Recht auf eine selbstbe- stimmte Zukunft einer jeden Ethnie, zumal im eigenen Land. Die deutsche Kolonialgeschichte macht da kei- ne Ausnahme. Deutsche Besatzer haben ge- mordet und geplündert, versklavt und gede- mütigt. Heute ist zu vernehmen, das sei doch wegen der im Vergleich zu anderen Nationen relativ kurzen Kolonialzeit Deutschlands, die zudem territorial überschaubar angelegt war, nicht so schlimm gewesen. Wer so argumentiert, dem fehlt es entweder an grundlegenden Geschichtskenntnissen. Oder aber, und das ist weit problematischer: Hier soll auf Kosten schon einmal missbrauch- ter afrikanischer Länder Nationalismus ge- schürt werden. Hierzulande hat es lange, viel zu lange gedau- ert, bis das begangene Unrecht endlich offi- ziell und deutlich benannt worden ist. Das war gewiss kein Ruhmesblatt für die deutsche Poli- tik. Inzwischen sind wir einen Schritt weiter. Dass Verbrechen im Namen der Kolonisation nicht wiedergutzumachen sind, steht außer Frage. Deshalb soll nun mit der Rückgabe seinerzeit geraubten Kulturgutes wenigstens symbolisch deutsche Schuld gesühnt werden. Gewiss eine richtige Entscheidung, die aller- dings nicht ganz leicht umzusetzen sein wird. In deutschen Museen lagern Unmengen Expo- nate afrikanischer Kunst. Was ist davon ge- stohlen, was rechtmäßig erworben worden? Ist es mit der Rückgabe getan? Oder sollte den Herkunftsländern zusätzlich Hilfe bei der Prä- sentation der Exponate unter sicherheitstech- nisch und klimatisch oft schwierigen Bedin- gungen angeboten werden? Fragen, die vermutlich in jedem Einzelfall im- mer wieder neu zu beantworten sind. Dazu bedarf es eines Miteinanders von Deutschen und Afrikanern. Eine Zusammenarbeit, die un- ter dem Motto stehen könnte: Moral verjährt nicht. KOPF DER WOCHE Im Dialog mit Namibia e c n a i l l a / Z S für o t o h P Ruprecht Polenz In den Verhandlungen zum Völkermord an den Herero und Nama durch deutsche Kolonialtruppen und die Wiedergut- machung die Nachfahren ist lan- ge keine Einigung in Sicht gewesen. En- de November konn- Sonderge- te der sandte der Bundes- regierung für die deutsch-namibi- schen Beziehungen jedoch Neues ver- künden: „Wir haben in vielen Punkten Übereinstimmung erzielt“, sagte Polenz. Verhandelt worden sei ein „Pakt für besonders betroffene Gemeinden, also den Siedlungsgebieten der Herero und Nama, um Wunden aus der damaligen Zeit zu hei- len“. Es gehe um Bildung, Wohnraum, Ge- sundheitsversorgung, Elektrizitätsversorgung und eine Mitwirkung an der Landreform. Indi- viduelle Entschädigungen lehne die Bundes- regierung hingegen ab. Der Ball, so Polenz, liege nun bei den beiden Regierungen. ahe T e r u t c i p / a p d © ZAHL DER WOCHE 11,8 Millionen Einwohner lebten – mindestens – im Jahre 1913 nach einer Schätzung des Deutschen Historischen Museums in den deutschen Kolonien, außerdem siedelten dort als 18.000 Deutsche. diesem Zeitpunkt mehr zu ZITAT DER WOCHE »Meine Karte von Afrika liegt in Europa.« Otto von Bismarck, deutscher Reichskanz- ler, äußert sich im Jahr 1888 skeptisch zum verbreiteten zeitgenössischen Wunsch nach deutschen Kolonien. IN DIESER WOCHE THEMA Interview von Holtz im Gespräch Grünen-Abgeordneter Ottmar Seite 2 Historisch »Platz an der Sonne« Kaiser Wilhelm II. wollte einen Seite 3 Herkunft großen Herausforderungen Provenienzforscher stehen vor Seite 8 Perspektive Kameruns Kolonialvergangenheit Seite 11 Hilaire Mbakop blickt auf Bundestag „Südliches Afrika“ im Portrait Die Parlamentariergruppe Seite 14 MIT DER BEILAGE scher Kolonialherrschaft erscheinen als kurzes und vergleichsweise harmlo- ses Kapitel unserer Ge- schichte, und dass es so früh endete, wird als Glücksfall gesehen: Das Deutsche Reich hatte einfach zu wenig Zeit, um größeren Schaden anzurichten. Nach 1945 war die Mehrheit der bundes- deutschen Bevölkerung ohnehin damit be- schäftigt, die Verbrechen des Nationalso- zialismus zu verdrängen oder zu leugnen, und selbst die wenigen kritischen Geister nahmen die Kolonialära nur oberflächlich wahr, die Ungeheuerlichkeit des Holocaust und der Nazi-Barbarei verstellte auch ihren Blick auf die dahinterliegende Zeit. Landraub? Unterjochung und Ausbeu- tung? Mord und Terror? Institutionalisier- ter Rassismus? War da was? Es sei doch al- les gar nicht so schlimm gewesen, heißt es oft. Es habe zwar ein paar schwarze Schafe gegeben, den Schlächter General von Trot- ha zum Beispiel, der in Deutsch-Südwest- afrika, dem heutigen Namibia, das Volk der Herero ausrotten wollte. Aber im Gro- ßen und Ganzen seien unsere Urgroßväter und Großväter doch recht anständige Kerle gewesen, jedenfalls im Vergleich zu den brutalen Franzosen, Briten oder Belgiern. Hundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als das Deutsche Reich seine „Schutzgebiete“ in Afrika, China und der Südsee an die Siegermächte abtreten muss- te, geistert immer noch die Mär vom deut- schen Kolonialidyll und den Zivilisations- leistungen unserer Vorfahren durch Ge- schichtsbücher, Zeitungsberichte und TV- Dokumentationen. Erst in jüngster Zeit beginnen wir, die kol- lektive Amnesie zu überwinden und einen neuen Blick auf das wilhelminische Kolo- nialabenteuer und seine Spätfolgen zu werfen. So ist zum Beispiel ein Streit um das Berliner Humboldt-Forum entbrannt, wo demnächst Sammlungsgut aus kolo- nialen Kontexten ausgestellt werden soll, wie es so schön heißt. Die Kritiker dieses Prestigeprojekts sprechen von Raubgut, das zurückge- geben werden müsse. Dass die Geschichtsverges- senheit allmählich über- wunden wird, zeigen auch die Entfernung heroischer Denkmäler und die Umbe- nennung von Straßenna- men, die Kolonialverbre- cher ehren. Auch die Ent- schädigungsforderungen ehemaliger Kolonien wer- den allmählich ernst ge- nommen. Die Debatten zeigen allerdings auch, dass hierzulande noch immer nicht richtig ver- standen wird, welche fundamentalen Er- schütterungen der deutsche Kolonialismus im Zuge der europäischen Welteroberung ausgelöst hat. Man kann oder will nicht wahrhaben, dass diese als weltgeschichtli- che Heilsmission gerechtfertigte Expansion für einen beträchtlichen Teil der Mensch- heit einem Höllensturz gleichkam. „Man erzählt mir vom Fortschritt und ge- heilten Krankheiten“, schreibt der große afro-karibische Dichter Aimé Césaire, „ich aber spreche von zertretenen Kulturen… von Tausenden hingeopferten Menschen… Ich spreche von Millionen Menschen, de- nen man geschickt das Zittern, den Knie- fall, die Verzweiflung eingeprägt hat.“ Raubwirtschaft Kolonialismus und Impe- rialismus, also das Streben nach Weltherr- schaft, waren nach dem Sklavenhandel die zweite und entscheidende Phase, in der sich die kapitalistische Raubwirtschaft glo- balisierte und jene ungleiche Weltwirt- schaftsordnung schuf, die den globalen Süden bis heute benachteiligt. Der Inbe- griff dieser Plünderung ist die Plantage, der Philosoph Achille Mbembe nennt sie „das Taufbecken der Moderne“: Vor allem in Afrika wurden Millionen von Kleinbauern enteignet, um auf riesigen Flächen cash crops für die Märkte der „Mutterländer“ anzubauen. kamerunische Das Parlament Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH 60268 Frankfurt am Main 1 0 3 0 2 4 194560 401004 »Ich aber spreche von zertretenen Kulturen« – der afro-karibische Dichter Aimé Césaire (1913-2008) widersprach der Fortschritts-Lüge der Kolonisatoren. © Dondero/Leemage Weiterführende Links zu den Themen dieser Seite finden Sie in unserem E-Paper

Rezensionsnotizen zu „Wir Herrenmenschen“ beim Perlentauscher:

Link öffnen

Zur aktuellen Ausgabe der APuZ

Link öffnen
Lädt ...