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GROSSE SEUCHEN Der »Schwarze Tod« und Cholera führten zum Umdenken GROSSES VERTRAUEN Soziologin Jutta Allmendinger über die Gesellschaft in der Krise SEITE 9 SEITE 3 d er Pa n d e m ie Die Corona-Krise und dieFolgen S o n d erth e m a: In m itte n Berlin, 20. Juli 2020 www.das-parlament.de 70. Jahrgang | Nr. 30-32 | Preis 1 € | A 5544 CORONA-PANDEMIE Der Konsens bröckelt, jetzt ist kluges Konfliktmanagement gefragt Die Macht der Solidarität Die erste Welle der Pande- Unverzichtbares Accessoire und getragene Solidarität: Der einfache Mund-Nasen-Schutz dient vor allem dem Schutz anderer vor dem Virus. © picture-alliance/Wolfram Steinberg KOPF DER WOCHE Zwischen den Fronten a i l l E N O T S Y E K / e c n a Tedros Adhanom Ghebreyesus Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie steht der Generaldirektor der Weltgesundheitsorgani- sation (WHO) nicht nur oft im Rampen- licht, sondern auch in der Kritik. Der Äthiopier, der die WHO seit 2017 lei- tet, ist Biologe und Immunologe. Insbe- sondere die US-Ad- ministration wirft dem früheren Au- ßen- und Gesund- heitsminister Äthiopiens vor, von China be- einflusst zu sein. So habe er Chinas Krisen- management gelobt, obwohl dort wichtige Informationen über das Virus zurückgehal- ten würden. Auch habe die WHO zu spät auf die Coronakrise reagiert und falsche Empfehlungen gegeben. Die WHO hatte am 30. Januar eine „gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite“ ausgerufen. Die USA haben zum 6. Juli 2021 ihren Aus- tritt aus der WHO angekündigt. pk T e r u t c i p © ZAHL DER WOCHE 13,575 Millionen bestätigte Covid-19-Fälle hat die Weltgesundheitsorganisation bislang regis- triert. Die Zahl der Todesfälle gibt die WHO mit 584.940 an. Zuletzt stieg die Zahl der täglichen Neuinfektionen rasant an: Sie lag vergangenen Freitag bei 196,305. ZITAT DER WOCHE »Es ist halt grad nicht die Zeit dafür.« Jens Spahn (CDU), Bundesgesundheitsmi- nister, sieht sich selbst nicht als „Spaßver- derber oder Feierverächter“, warnt aber all- zu hedonistische Partywillige angeischts der anhaltenden Pandemie vor den viralen Ge- fahren. IN DIESER WOCHE THEMA Kettenreaktion über Lieferketten nachgedacht In der Krise wird neu Seite 5 Im Zentrum die Krankenhäuser blieb aus Der befürchtete Ansturm auf Seite 6 Tiefe Einschnitte Zeiten der Pandemie Der Rechtsstaat in Seite 8 Globale Krise Kenia, China und Brasilien Eindrücke aus Schweden, Seite 11 Impfstoff-Behörde Institut in Langen Das Paul-Ehrlich- Seite 12 MIT DER BEILAGE Das Parlament Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH & Co. KG 64546 Mörfelden-Walldorf 1 3 0 3 0 4 194560 401004 mie liegt also hinter uns. Während wir in dieser Zeit viel über Viren und ihre Ausbreitung erfahren haben, hat uns auch ein gesellschaftliches Phänomen erstaunt: Die umfassende Solidarität, die sich in den ers- ten Wochen der Pandemie ausbreitete. Lo- kal bildeten sich Nachbarschaftshilfen, na- tional erklärten Ethikrat und Bundesregie- rung Solidarität zum Schlüssel der Krisen- bewältigung, und international agiert die Europäische Kommission mit der Maxime „European Solidarity in Action“. Im Unter- schied zu Finanz- und „Flüchtlingskrise“ entfalteten die Solidaritätsappelle und -be- kundungen in der Corona-Krise damit eine kohäsive Kraft, die sie in vorangegangen Krisen nie erreicht haben. Ein Grund für diese besondere Qualität liegt darin, dass die Solidarität in der Coro- na-Krise auf eine äußere Gefahr reagierte, während es in den vorangegangenen Kri- sen um innergesellschaftliche Verteilungs- und Wertekonflikte ging. Kommt aber die Bedrohung von außen und betrifft zu- nächst einmal alle, entfalten Solidaritäts- appelle eine größere Wirkung, so wie man es auch in Kriegen und Naturkatastrophen beobachten kann. Schon der klassische Re- publikanismus kam daher zu dem Schluss, dass derlei Ereignisse trotz ihrer immensen Kosten gelegentlich einen positiven Effekt für die Republik haben können, weil sie die Gemeinschaft der Bürger neu beleben. Diese Idee ist uns auch bekannt, denn die ersten Wochen der Krise ließen eine neue, solidarischere Gesellschaft greifbar werden. Könnte ausgerechnet Corona ihr den Weg ebnen? Am Ende der ersten Welle darf man aus mehreren Gründen skeptisch sein. hatte Soziale Kontrolle Zunächst hat sich die Solidarität in Deutschland aber als ein ef- fektiver Krisenbewältigungsmodus erwie- sen: Verbunden durch die gemeinsame vi- rale Bedrohung hat das Mitgefühl mit an- deren Menschen zu Abstand und Hilfsan- geboten motiviert. Da- durch Solidarität nicht nur einen Anteil da- ran, dass die Infektionszah- len so früh sanken; sie stärkte auch die emotiona- le Unterstützung für die Maßnahmen, weil sie phy- sische Distanz und soziale Nähe miteinander verbin- den konnte. Diese Quadratur des Krei- ses gelingt, weil Solidarität stets zwei Elemente zusam- menführt. Sie beruft sich auf ein gemeinsames Gefühl der Zusam- mengehörigkeit, das sich aus einer Situati- on kollektiver Bedrohung oder geteilten Leids speisen kann. Nicht ohne Grund ver- wies man in Frankreich und Großbritan- nien auf historische Momente wie den Kampf gegen Nazi-Deutschland, um die Solidarität anzuregen. Im ‚Kampf‘ gegen das Virus entstand so erneut der Eindruck einer Schicksals- und Leidensgemeinschaft. Aus diesem Zusammengehörigkeitsgefühl leitet Solidarität dann eine moralische Pflicht gegenüber dieser Gemeinschaft ab, die dem Einzelnen auch Opfer abverlan- gen kann. Aus Mit-Leid wird ein morali- scher Imperativ, an dem sich individuelles Handeln orientiert: #stayathome. Auf diese Weise etabliert Solidarität eine Art zivilgesellschaftlicher Selbstkontrolle. Sie motiviert zunächst einmal Eigeninitia- tive. So erinnern wir uns daran, dass zahl- lose Menschen selbstgenähte Masken zur Verfügung stellten, als der Markt der Medi- zinprodukte versagte. Darüber hinaus sorgt Solidarität aber auch für eine wechselseiti- ge Kontrolle in der Gemeinschaft, die das Verhalten der anderen auf den solidari- schen Imperativ prüft. So wurden diejenigen, die sich in Intensiv- pflege oder Kita-Betreuung um die solida- rische Gemeinschaft verdient machten, zu neuen Heldinnen und Helden erklärt. Gleichzeitig musste unsolidarisches Verhal- ten mit sozialer Ächtung und Denunziati- on rechnen. Wer den Mindestabstand ver- letzte, wurde angefeindet, die Zahl der An- zeigen schnellte in die Höhe, und Urlau- bern aus Risikogebieten wird zu verstehen gegeben, dass sie nicht willkommen sind. Wie der Journalist Felix Lill berichtete, gibt es in Japan dafür ein eigenes Wort: Selbst- beherrschungspolizei. In der solidarischen Gemeinschaft wird al- so konformes Verhalten prämiert, während abweichendes Verhalten sanktioniert wird. Und auch hier fördert das gute Gefühl, im Namen der Gemeinschaft für die mora- lisch richtige Sache einzutreten, die Eigen- initiative. Der Soziologe Ri- chard Sennett nennt dies die „perverse Macht der So- lidarität“. Denn in seinen Augen führt Solidarität in erster Linie dazu, dass das Fremde und Andersartige, dass alternative Lebensent- würfe ausgeschlossen und sogar bekämpft werden. Andere Kommentare haben zurecht darauf hingewie- sen, dass Corona vor allem för- nationale Solidarität derte, anderes Leid aber schlicht ignoriert wurde. Das große Versprechen der Solidarität, so- ziale Einheit mit moralischer Integrität zu verbinden, hat stets Schattenseiten. Staatliche Herausforderungen Zu unse- rer Erfahrung gehört aber auch, dass diese Form zivilgesellschaftlicher Selbstkontrolle einen großen Vorteil für das Pandemiema- nagement des demokratischen Rechtsstaats hat. Denn wenn man im Pandemiefall der Gesundheit den höchsten Stellenwert ein- Sie räumt, dann muss man die zahllosen Handlungsmöglichkeiten moderner Ge- sellschaften radikal beschränken. Eine sol- che Verhaltensanpassung kann der demo- kratische Rechtsstaat nicht mit Gewalt er- zwingen, ohne ins Autoritäre zu kippen und damit die Loyalität seiner Bürgerinnen und Bürger zu verspielen. Es ist daher richtig, wenn der Virologe Christian Drosten daran erinnert, dass die Gesundheitsbehörden in der Pandemiebe- kämpfung auf die Unterstützung und den Konsens der Bürgerinnen und Bürger ange- wiesen sind. Genau das stellte Solidarität während der ersten Coro- na-Welle bereit: er- schloss eine andere Quelle der Verhaltenssteuerung, nämlich kollektive Morali- tät – und entlastete damit den Rechtsstaat. beruht Drostens Appell aber natürlich auf dem Wissen, dass dieser Kon- sens längst bröckelt. Die „gesamtgesellschaftliche“ Solidarität zerfiel nach kur- zer Zeit. Erst sank die Be- reitschaft, Freunde und Fa- milie nicht mehr zu treffen, dann auch der Anteil derjenigen, die Masken in Bussen und Bahnen trugen. Der Staat muss dann andere Steuerungsmittel einsetzen, um sich die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger zu sichern, etwa zwangsbewehrtes Recht (also Bußgelder) oder Geld (also Fi- nanzhilfen). Die Erosion der Solidarität war letztlich absehbar. Erstens braucht praktische Soli- darität ein hohes Maß an Emotionalität bei den Menschen, das auf Dauer schwierig Das große Ver- sprechen der Solidarität hat stets Schatten- seiten. In der solidarischen Gemeinschaft wird konformes Verhalten prämiert. zu halten ist. Statt sich um Ansteckungsri- siken Sorgen zu machen, stellt sich eine neue Indifferenz ein. Komplementär dazu haben wir uns die Vielfalt an Aufgaben und Möglichkeiten in modernen Gesellschaften derart einver- leibt, dass wir zwar bereit sein mögen, sie ruhen zu lassen, nicht aber sie aufzugeben. Schließlich sind Demokratien institutio- nell auf die Produktion von Alternativen angelegt, sodass sich jemand finden muss- te, der eine Öffnungsperspektive anbietet – und sei es, um damit Stimmen zu gewin- nen. Mit der Erosion der Solida- rität treten gesellschaftliche Konflikte wieder stärker hervor, etwa um die Kita- Öffnung oder eine erneute „Abwrackprämie“. Es zeigt sich auch, dass die Einstu- fung „systemrelevanter“ Be- rufe auch nur systemrelativ war: Jetzt wo andere soziale Systeme wieder Fahrt auf- nehmen, geraten die Leis- tungen der Krankenpfleger und Erzieherinnen in Ver- gessenheit. Und es wird deutlich, dass keineswegs alle gleich von der Pandemie betroffen sind. Solidarität ist in diesen Fragen ein zweischneidiges Schwert: Einerseits sie sozialen Wandel an, andererseits kann sie aber auch die Polarisierung von Konflikten beför- dern, wenn sich die gegenüberstehenden Gruppierungen jeweils moralisch im Recht fühlen. schiebt Zentrale Aufgabe Ein kluges Konfliktma- nagement wird daher eine zentrale Aufga- be der kommenden Monate sein. Es wird entscheiden, ob sich zumindest an man- chen Ungerechtigkeiten etwas ändert. Und ob sich die Spaltungen in den westlichen Gesellschaften noch weiter vertiefen. Dabei kann es nicht darauf hoffen, dass sich die Pluralität der Meinungen in einem einheit- lichen Gefühl der Solidarität auflöst. Neuer sozialer Zusammenhalt wird nur möglich sein, wenn alle Seiten Konflikte einkalku- lieren. Vincent August T Der Autor forscht an der Humboldt- Universität zu Berlin und ist Mit-Herausgeber von theorieblog.de. ED I TO R IA L Corona ist überall VON JÖRG BIALLAS Auch wenn die Ansteckungsgefahr in den ver- gangenen Wochen deutlich gesunken ist: Die Corona-Pandemie ist längst nicht vorüber. Wie schnell vermeintlich beherrschbare Infektions- raten in erschütterndes Massensterben um- schlagen können, ist weltweit vielfach zu be- sichtigen. Beleg dafür, dass es fahrlässig wäre, die hierzulande kaum noch einschränkenden Schutzbestimmungen weiter zu lockern. Ohnehin wiegen die Corona-Folgen in Privat- oder Berufsleben schwerer als Maskenpflicht und Abstandsgebot. Die Auftragsbücher vieler Firmen sind leer, Handwerker und Kleinbetrie- be bangen um die Existenz, Industrieunterneh- men warten auf ein Anspringen der Konjunk- tur, Arbeitnehmer fürchten weiter um ihre Jobs. Hinzu kommt, dass Corona auch zu Hause das Dasein bestimmt. Plötzlich verordnete Nähe in den eigenen vier Wänden hat manche Familie vor ungeahnte Herausforderungen gestellt; Konflikte zwischen Eltern und Kindern haben zugenommen; der häusliche Alkoholkonsum ist gestiegen, ebenso die Scheidungsrate. Kurzum: Corona ist überall. Aber diese Pandemie hat auch gezeigt, dass es um das Vertrauen in den Staat besser bestellt ist, als zu vermuten war. Von einzelnen unge- schickten Alleingängen abgesehen, haben Re- gierungen und Parlamente in Bund wie Län- dern von Anfang an den Eindruck vermittelt, Corona und den absehbaren Folgen mit aller Kraft entgegenzutreten. Dieser Wille wird in der Bevölkerung durchaus anerkannt. Daran ändert auch eine überschaubare Gruppe von Verschwörungstheoretikern nichts, die mit ein- fältigen Parolen nach Kräften die eigene Lä- cherlichkeit beweist. Corona hat gezeigt, wie wichtig klare politi- sche Vorgaben sind, um das Virus einzudäm- men. Umgekehrt gibt es mannigfach Beispiele dafür, dass wankelmütiges Handeln oder gar ein Verleugnen der Infektionsgefahr unmittel- bar in den Tod führen. Wie in den USA, wie in Brasilien und anderswo. Gelänge es, eine zweite Infektionswelle zu ver- hindern oder zumindest überschaubar zu ge- stalten, wäre das ein großer Erfolg. Zumal in der Urlaubszeit, wenn mit den Sommerfrisch- lern auch das Virus auf Reisen geht. Ein Grund mehr also, vorsichtig zu sein und die Vorsorge ernst zu nehmen. Sonniger Feier-Egoismus? Eine partyartige Wasserdemo in Berlin zur Rettung der Rave- Kultur stieß vor einigen Wochen auf breites Unverständnis. © picture alliance/Eventpress Weiterführende Links zu den Themen dieser Seite finden Sie in unserem E-Paper

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