6 WIRTSCHAFT UND FINANZEN Das Parlament - Nr. 42-44 - 12. Oktober 2020 Der Populismusvorwurf im Bundestag ist nicht neu – in aller Regel richtet er sich gegen die AfD-Frakti- on. Jetzt hat es auch die Grünen erwischt. Ausge- rechnet der Fraktionsvize der SPD fand während einer Aktuellen Stunde vergange- ne Woche harsche Worte: „Wer vergessen machen will, dass er in diesem Land in Re- gierungen sitzt und damit Verantwortung trägt, handelt populistisch und unseriös“, hatte Sören Bartol (SPD) in Richtung Grü- nen-Fraktion gesagt. Hintergrund des Gan- zen ist der von den Grünen im Bund gefor- derte Baustopp für Autobahnen auf der ei- nen Seite und die Unterstützung des Auto- bahnbaus durch grüne Ministerpräsidenten und Verkehrsminister auf Landesebene auf der anderen Seite. Bei den Grünen gebe es Politiker, die for- derten, Autobahnprojekte abzubrechen, die sie selber noch vor ein paar Monaten unterstützt haben, wunderte sich auch Christoph Ploß (CDU). Eine solcher An- satz führe dazu, dass Investoren sich fra- gen: „Leben wir hier eigentlich in einer Ba- nanenrepublik?“ Er führe außerdem dazu, dass Deutschland deindustrialisiert werde, tausende Arbeitsplätze gefährdet würden und der Wirtschaftsstandort geschwächt werde. Zudem würden die Klimaschutzzie- le gefährdet. Autobahnen, so Ploß, bündel- ten schließlich den Verkehr. „Deswegen sind Investitionen ins Autobahnnetz genau das, was wir mit Blick auf Klimaschutz, Wirtschaft und Mobilität brauchen.“ »Neue DDR« Dirk Spaniel (AfD) nannte Zahlen, die seiner Ansicht nach Zielstel- lungen der Grünen sind. 86 Prozent des Güterverkehrs laufen über die Schiene – nur zehn Prozent entfallen auf den Stra- ßenverkehr. Das seien die Zahlen zur Ver- teilung des Güterverkehrs in der DDR im Jahr 1989. „Genau dahin wollen Sie zu- rück, in eine neue DDR – mit allen Konse- quenzen für Wohlstand und Freiheit“, warf er Grünen und Linken vor. Die Forderung der Grünen nach einem Autobahnbau- stopp reihe sich ein, in eine lange Liste von Aussagen, „die der Lebenswirklichkeit der Menschen in diesem Land diametral entge- gen stehen“. SPD-Vertreter Bartol stellte die Frage, wie es die grünen Ministerpräsidenten und Ver- kehrsminister wohl fänden, wenn der Bund seine Planungen für den Straßenbau in diesen Ländern auf Eis legt. „Oder darf Ministerpräsident Kretschmann Ihre ideo- logischen Phrasen auf Bundesebene nicht mehr kommentieren, weil sonst deutlich werden würde, wie sehr bei Ihnen An- spruch und Wirklichkeit auseinanderfal- len?“, fragte Bartol. Seiner Auffassung nach geht es den Grünen weder um die Mobili- tät der Menschen noch um den Umbau des Verkehrssystems. „Sie sind gegen das Auto- fahren an sich“, so der SPD-Fraktionsvize. Das sei die DNA der Grünen. Doppelmoral Von grüner Doppelmoral sprach Oliver Luksic (FDP). Knackpunkt sei ja offenbar der Ausbau der A49, bei der es darum gehe, „Nordhessen besser zu er- schließen und Dörfer vom Verkehr zu ent- lasten“. Der erste und der zweite Bauab- schnitt seien fertig – eine ganze Reihe an Brücken und Straßen also schon gebaut. „Sollen diese Straßen jetzt im Nichts en- den?“, fragte der FDP-Abgeordnete. Es gebe ein paar Berufsdemonstranten, die vom „Hambi“ (Hamberger Forst) in den „Dan- ni“ (Danneröder Forst) gewandert seien und denen die Grünen nach dem Munde reden wollten. Gleichzeitig habe aber der grüne Verkehrsminister Tarek Al-Wazir im Landtag immer wieder den Ausbau vertei- digt und deutlich gemacht, dass die Grü- Breite Kritik VERKEHR I Die Forderung von Grünen und Linken nach einem Baustopp für Autobahnen stößt bei allen anderen Fraktionen auf Widerstand Blick auf die im Bau befindliche Autobahn A 49 bei Schwalmstadt: Das Vorhaben ist bei Grünen und Linken im Bundestag nicht son- derlich beliebt. © picture-alliance/dpa nen im Land Hessen das Projekt fertigstel- len wollten. Deutschland, so Luksic, brau- che Planungs- und Rechtssicherheit. „Rück- fälle in grüne Sponti-Politik können wir nicht gebrau- chen“, betonte er. Allein schon die Aufset- zung der Aktuellen Stunde sei ein erster Erfolg der „Wald statt Asphalt“ Bewe- gung, sagte Sabine Leidig (Die Linke) und schob „so- lidarische Grüße“ an das Aktionsbündnis A49 und an die Baumbesetzerinnen in ihrer hessischen Heimat hinterher. Es sei völlig rich- tig, dass die Rodung des wertvollen Dannenröder Waldes „sofort ge- stoppt werden muss“. Völlig falsch sei es, dass ein Natur- und Wasserschutzgebiet für noch mehr Autobahn und damit noch mehr Verkehr gefährdet werde. Verkehrsminister Scheuer gehe es nicht wirklich um die lärmgeplagten Menschen in Mittelhessen, die er vom Verkehr entlas- ten wolle, sagte Leidig. Wer wirklich eine bessere An- bindung von Gewerbege- bieten und weniger Stau für die Anwohner wolle, müsse das Geld entspre- chend der vorliegenden Al- einset- ternativvorschläge zen. »Rückfälle in grüne Sponti-Politik können wir nicht gebrauchen.« Oliver Luksic (FDP) Klimakrise Verschärfte Mit dieser Aktuellen Stun- de mache die Union deut- lich, wo sie stehe „und das ihr ganzes Wortgeklingel zum Klimaschutz nichts wert ist, wenn es drauf ankommt“, sagte Grünenfraktions- Chef Anton Hofreiter. Er verwies auf die sich verschärfende Klimakrise. Gleichzeitig sinke aber der CO2-Ausstoß im Verkehrs- bereich nicht. „Es muss also dringend et- was anders werden“, schlussfolgerte Hof- reiter. Dem 2016 verabschiedeten Bundes- verkehrswegeplan, der bis 2030 gilt, be- scheinigte er, völlig aus der Zeit gefallen zu sein. Mit ihm werde Mobilität gefährdet, denn Mobilität bedeute, dass Menschen mobil sein können, auch wenn sie keinen Führerschein und kein Auto besitzen. Der anschließend ans Rednerpult getretene Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) konstatierte, Hofreiter habe zu al- lem geredet, aber nicht zum Baustopp. Ei- ne solche Idee sei „nicht nur völlig ent- rückt von der Realität, sondern auch ver- antwortungslos gegenüber dem Wohlstand in unserem Land“. Scheuer ließ es sich nicht nehmen, noch etwas in der offenen Wunde der Grünen zu bohren. Er freue sich, in ein paar Wochen bei der B38, der Ortsumfahrung Mörlenbach, zusammen mit Tarek Al-Wazir den Spatenstich zu ma- chen, sagte er. Götz Hausding T Beschleunigt planen und umsetzen VERKEHR II Gemischtes Experten-Echo auf Regierungsentwurf »Auf kom- munaler Ebene sind wir bereit, dafür Kla- gerechte ein- zuschränken.« Hilmar von Lojewski, Deutscher Städtetag Infrastrukturprojekte Straßen, Schienen, Häfen oder Windparks – Experten begrüßen das Bestreben der Bundesregierung, Planung und Umsetzung wichtiger zu be- schleunigen. Ob der dazu eingebrachte Ge- setzentwurf zur Beschleunigung von Inves- titionen (19/22139) jedoch tatsächlich in der Praxis diese gewünschte Wirkung ent- falten wird, sehen Experten teilweise skep- tisch. Das zeigte eine öffentliche Anhörung im Verkehrsausschuss vergangene Woche. Die für vergangenen Donnerstag geplante zweite und dritte Lesung des Entwurfs wur- de abgesetzt. es sei BDI unzufrieden Enttäuscht zeigte sich Bund der Deutschen Industrie (BDI). Der Regierungsentwurf sei zwar ein Schritt in die richtige Richtung, erfülle aber nicht die „hohen Erwartungen“. Um Infrastruktur- vorhaben effektiv zu beschleunigen, bewe- ge der Entwurf „zu wenige der zur Verfü- gung stehenden bundesgesetzgeberischen Hebel“, hieß es in der Stellungnahme des Verbands. Planungs- und Genehmigungs- verfahren hätten sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. „Wir müssen massiv entschlacken und diese Verfahren vereinfa- chen“, forderte Jürgen Has- ler, Abteilungsleiter Mobili- tät und Logistik beim BDI. „überra- Daher schend“, dass Stichtagsrege- lungen oder Schwellenwer- für Umweltverträglich- te keitsprüfungen nur teilwei- se umgesetzt worden seien. Rechtsanwalt Frank Fellen- berg beurteilte hingegen die von der Regierung geplan- ten Maßnahmen insgesamt als „gut geeignet, um den beabsichtigten Beschleuni- gungseffekt zu erzielen“. Die Vorschläge hielten „Maß und sie entwerten weder die Zulassungsverfahren noch den gerichtli- chen Rechtsschutz“, so der Fachanwalt für Verwaltungsrecht in seiner Stellungnahme. Punktuell schlug er jedoch Änderungen vor. So befürchtete er unter anderem, dass die angestrebte Änderung des Raumord- nungsverfahrens (ROV) nur „bedingt geeig- net“ sei, in der Praxis einen „echten Mehr- wert“ zu generieren. Er empfahl, auf das vorgelagerte ROV ganz zu verzichten und die Prüfung der Raumverträglichkeit auf das Zulassungsverfahren zu konzentrieren. Der Verband Deutscher Verkehrsunterneh- men (VDV) meldete ebenfalls Ergänzungs- bedarf an. So monierte Martin Henke, Ge- schäftsführer Eisenbahnverkehr, der Ent- wurf lasse den Bereich der städtischen Schienenbahnen unberücksichtigt. Mit „Blick auf die aktive Partnerschaft des ÖPNV bei Verkehrswende, Klimaschutz und Luftreinhaltung“ plädiere er dafür, die für das Allgemeine Eisenbahngesetz vorge- sehenen Änderungen auch im Personenbe- förderungsgesetz (PBefG) festzuschreiben, so Henke. Durch das neue Gemeindefi- nanzierungsgesetz und entsprechend „auf- gestufte Mittel“ sei mit zahlreichen neuen Projekten im Öffentlichen Personennah- verkehr zu rechnen. „Wenn diese nach dem Regeln des bisherigen Planungsrechts an- gegangen werden, wird es viele Jahre dau- ern, bis die Mittel wirklich abfließen“, warnte Henke. Das gelte es zu ändern. Dieser Forderung schloss sich auch der Deutsche Städtetag an: Es sei nicht nach- gerichtliche vollziehbar, warum die vorgesehenen Er- leichterungen beim Ausbau des schienen- gebundenen Personen- und Güterverkehrs nicht auch beim städtischen Schienenver- kehr gleichermaßen umgesetzt werden sol- len, so Hilmar von Lojewski, Leiter des De- zernats Stadtentwicklung, Bauen, Wohnen und Verkehr bei dem kommunalen Spit- zenverband. Auch im Nahverkehr dauerten Planungs- und Genehmigungsverfahren viel zu lang. Hinzu kämen nicht selten zä- he Auseinandersetzungen. Hier könnten Fristen wie gesetzliche Stich- tagsregelungen helfen, argumentierte von Lojewski und appellierte an die Bundesre- gierung nachzubessern. „Auf kommunaler Ebene sind wir auch bereit, dafür unsere Klagerechte einzuschränken.“ Eleonore Lohrum, Leiterin der Rechtsabtei- lung Infrastrukturrecht der Deutschen Bahn AG, lobte den Plan, Vorhaben im Rahmen der „Digitale Schiene Deutsch- land“, zur Lärmsanierung sowie kleinere bis mittlere Elektrifizierungsvorhaben von der Planfeststellungs- und Plangenehmi- gungspflicht sofern keine Pflicht zur Durchführung einer Umweltver- träglichkeitsprüfung (UVP) bestehe. Das werde eine Reihe „bedeut- samer und unumstrittener Vorhaben“ beschleunigen. Noch mehr Wirksamkeit könne das geplante Gesetz jedoch entfalten, wenn künftig nur noch dann ein Antrag auf Planfeststellung zu stellen sei, wenn eine UVP-Plicht bestehe. Rechtsanwalt Dirk Teßmer sah eine grundsätzliche Freistellung von der UVP- Pflicht bei Bau, Ausbau oder Elektrifizierung von Schienenwegen kritisch. Auch die Errich- tung von Lärmschutzwänden etwa könne relevante Auswirkungen auf die Umwelt haben, die es im Einzelfall zu ermitteln und bewerten gelte, betonte Teßmer: Es müsse daher mindestens eine UVP-Vorprü- fungspflicht statuiert werden. freizustellen, Gesetzentwurf Der Entwurf der Bundes- regierung sieht eine Reihe von beschleuni- genden Maßnahmen vor, wozu unter an- derem Vereinfachungen im Raumord- nungsrecht und bei der Genehmigung der Elektrifizierung von Schienenstrecken so- wie Maßnahmen zur Beschleunigung der Gerichtsverfahren gehören. Durch eine Ver- kürzung des Instanzenzuges ist geplant, die Gesamtdauer der verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu reduzieren. Des Weiteren soll die Elektrifizierung von Schienenstrecken und andere kleinere Vorhaben, zum Bei- spiel die Erhöhung oder Verlängerung von Bahnsteigen, von der Planfeststellungs- und Plangenehmigungspflicht freigestellt werden, Der Bundesrat hat in seiner Stellungnah- me zu dem Gesetzentwurf der Bundesre- gierung umfassende Änderungen vorge- schlagen. Die Feststellung der Länder- kammer, wonach der vorgelegte Gesetz- entwurf zu kurz greife, „da der wichtige Sektor des öffentlichen Personennahver- kehrs, namentlich das Personenbeförde- rungsgesetz und die Straßenbahn-Bau- und Betriebsordnung, nicht erfasst wer- den“ will die Regierung der Vorlage zufol- ge prüfen. Sandra Schmid T Theaterdonner im »House of Scheuer« Warum wurde sofort gekündigt? PKW-MAUT I Die Aussage des Verkehrsministers hatte ein Nachspiel im Plenum PKW-MAUT II Untersuchungsausschuss beleuchtet Rolle der Rechtsberater Im Maut-Untersuchungsausschuss herrscht in der Regel eine sachliche Arbeitsatmo- sphäre. Ganz anders in der Aktuellen Stun- de, die am Donnerstag auf der Tagesord- nung des Bundestagsplenums stand: Da griffen sich Vertreter von Koalition und Opposition frontal an und bezichtigten sich gegensei- tig, nicht an der Aufklä- rung der Vorkommnisse um die im Juni 2019 vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) gestoppte Pkw- Maut interessiert zu sein. Dabei ließ die Opposition am Bundesverkehrsminis- terium und speziell an Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer kein gu- tes Haar. An „House of Scheuer“ fühlte sich (in Anlehnung an die erfolgreiche US-Politse- rie „House of Cards“) Oliver Krischer (Bündnis 90/Die Grünen) erinnert, wäh- rend Jörg Cezanne (Die Linke) sich in ei- nem „schlechten Mafia-Film“ wähnte. »Frau Merkel, Herr Söder, entlassen Sie endlich diesen Minister!« Oliver Krischer (Bündnis 90/Die Grünen) und Wolfgang Wiehle (AfD) kritisierte „auffälli- ge Erinnerungslücken“ Scheuers und „ha- nebüchene Methoden“ des Verkehrsminis- teriums. Christian Jung (FDP) forderte Scheuer zum Rücktritt auf, da er bei der Vergabe der Pkw-Maut Vergabe-, Haus- halts- Europarecht missachtet habe. Grünenpo- litiker Krischer zog ein an- deres Vorgehen vor: „Frau Merkel, Herr Söder, entlas- sen Sie endlich diesen Mi- nister!“ Auch Jörg Cezanne von der Linksfraktion er- klärte, jemand wie Scheuer habe in einer Führungsposi- tion nichts zu suchen. Anlass der Aktuellen Stunde war die Vernehmung von Bundesverkehrsminister An- dreas Scheuer im Untersu- chungsausschuss in der Nacht vom 1. auf den 2. Oktober. Der Minister hatte damals erklärt, sich an kein Angebot des Bieter- konsortiums erinnern zu können, mit dem Abschluss des Betreibervertrags bis nach dem EuGH-Urteil zu warten. Von einem solchen Angebot hatten zuvor Vertreter der Bietergemeinschaft aus CTS Eventim und Kapsch TrafficCom berichtet. Die Vernehmung der Zeugen habe ledig- lich ergeben, dass Aussage gegen Aussage stehe, erklärte Michael Frieser (CSU). Er Weiterführende Links zu den Themen dieser Seite finden Sie in unserem E-Paper warf die Frage auf, warum die Betreiberfir- men überhaupt eine Verschiebung der Ein- führung der Pkw-Maut hätten vorschlagen sollen, wo sie doch ein finanzielles Interes- se an einem möglichst frühen Start gehabt hätten. Scharfe Kritik übte Frieser an der Oppositi- on. Schon der Titel der Aktuellen Stunde („Politische Konsequenzen aus dem Auf- tritt des Bundesministers Scheuer im Parla- mentarischen Untersuchungsausschuss zu der gescheiterten Pkw-Maut“) zeige, dass es sich um eine „Inszenierung“ handle. Die Opposition, schimpfte Frieser, behindere die Arbeit des Untersuchungsausschusses – und zwar deshalb, weil sie „Zirkus“ wolle und nicht die Suche nach der Wahrheit. Auch der Ausschussvorsitzende Udo Schief- ner (SPD) knöpfte sich die Opposition vor. im Aus- Die bisher konstruktive Arbeit schuss werde zunehmend von „Theater- donner“ übertönt, beklagte er. Aufgabe des Ausschusses sei es nicht, eine Strafe zu ver- hängen, sondern den Sachverhalt aufzuklä- ren. „Wir sind weder Ankläger noch Vertei- diger“, betonte Schiefner. Kritische Anmerkungen hatte Schiefner aber auch in Richtung des Verkehrsministe- riums: Die Vernehmung Scheuers habe noch kein ausreichendes Licht ins Dunkel gebracht, und noch immer stehe der Vor- wurf im Raum, Vergaberecht und Haus- haltsrecht seien gebrochen worden. chb T des In zunehmendem Maße werden die Sit- zungen des 2. Untersuchungsausschusses („Pkw-Maut“) zur Konditionsprobe für Ab- geordnete und Zeugen. Gegen 13 Uhr am vergangenen Donnerstag begann die Befra- gung des Rechtsanwalts Dieter Neumann, erst gegen 22.30 Uhr war sie in der öffent- lichen Sitzung zu Ende – und da stand dem Zeugen noch eine nichtöffentliche Vernehmung bevor. Die Befragung von Neumann, Partner in der Kanzlei Green- berg Traurig Germany, hatte ihren Grund: Der Topjurist war der wichtigste Rechtsbe- rater Bundesverkehrsministeriums beim Projekt Pkw-Maut. Seit Oktober 2015 leitete er ein Team, dem 15 bis 20 Rechts- anwälte angehörten. Zum Vergleich: Auf Seiten des Verkehrsministeriums arbeiteten laut Neumann etwa sechs bis acht Perso- nen an der Pkw-Maut. Eine zentrale Herausforderung für die Be- rater war die Frage, wie die Mautbetreiber entschädigt werden sollten, falls der Ver- trag aus ordnungspolitischen Gründen ge- kündigt wurde. Als ordnungspolitischer Grund erwies sich im Juni 2019 das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), das die deutsche Pkw-Maut für nicht ver- einbar mit EU-Recht erklärte. In einem sol- chen nicht vom Betreiber zu verantworten- den Fall sollte laut Neumann der Brut- tounternehmenswert als Maßstab der Ent- schädigung dienen. Dieser Begriff der Wirt- schaftsprüfer bezeichnet Neumann zufolge das eingesetzte Kapital plus fremde Ver- bindlichkeiten, ist aber nicht mit dem ent- gangenen Gewinn gleichzusetzen. Weniger günstig für die Betreiber waren die vertraglichen Regelungen für den Fall, dass die Kündigung nicht nur aus ordnungspo- litischen Gründen erfolgte. Dieser Punkt wurde am 18. Juni 2019, dem Tag des EuGH-Urteils, relevant. In diesen dramati- schen Stunden trat im Verkehrsministeri- um eine hochkarätige Taskforce zusam- men, der auch Neumann angehörte. Das Gremium entschied, den Betreibervertrag sofort zu kündigen, wobei es dies nicht nur mit dem EuGH-Urteil, sondern auch mit einer Schlechtleistung der Betreiber be- gründete. Es habe einen „defizitären Pro- jektstand“ gegeben, formulierte es der Zeu- ge. Konkret sei es darum gegangen, dass die Betreibergesellschaft die Pflicht zur fristgemäßen Vorlage der Feinplanungsdo- kumentation verletzt habe. Keine andere Möglichkeit Warum aber wurden die Verträge sofort gekündigt und nicht erst nach einer Bedenkzeit? Er habe keine Möglichkeit gesehen, das Projekt fortzusetzen, antwortete Neumann. Denn eine an ökologischen Kriterien orientierte Umstellung der Maut von einem zeit- auf ein streckenbasiertes Modell sei mit den geschlossenen Verträgen nicht möglich ge- wesen. Deshalb sei es besser gewesen, so- fort zu kündigen. Auch zur Phase vor Abschluss des Vertrags „Erhebung“ am 30. Dezember 2018 wurde der Zeuge detailliert befragt. Bis zur Frist am 17. Oktober 2018 war ein einziges An- gebot eingegangen, das zudem weit über dem vorgesehenen Finanzrahmen lag. „Wir waren schwer überrascht, dass ein Angebot in dieser Höhe einging“, sagte der Zeuge. Die Verantwortlichen hätten das Angebot dann auf seine Plausibilität geprüft und Gespräche mit dem Bieterkonsortium auf- genommen. Doch entsprachen diese Verhandlungen dem Vergaberecht? Ja, sagte Neumann. Denn es sei bei diesem Verfahren festgelegt worden, dass das finale Angebot nicht das endgültige Angebot sei. Verhandlungen sei- en deshalb rechtlich zulässig gewesen, so- lange die Mindestanforderungen nicht ver- ändert worden seien, erklärte der Rechtsan- walt. Die vorgenommenen Änderungen – etwa die Übernahme der Portokosten durch den Bund und der Einbezug der Zahlstellen von Toll Collect – hätten diese Grenze nicht überschritten. Auch sei es nicht nötig gewesen, die zuvor ausgeschie- denen Bieter über die Änderungen zu in- formieren. Denn diese hätten kein Ange- bot abgegeben und seien zu diesem Zeit- punkt deshalb nicht mehr am Verfahren beteiligt gewesen. Christian Hunziker T