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Thema: Zweite Corona-Welle Debatte um Verhältnismäßigkeit SEITE 1-3 ABSCHIED VON THOMAS OPPERMANN Bundestag gedenkt des SEITE 5 verstorbenen Vizepräsidenten ABSTIMMUNG IN DEN USA Wahlbeobachter der OSZE nehmen die Briefwahl in den Blick SEITE 13 Berlin, Montag 02. November 2020 www.das-parlament.de 70. Jahrgang | Nr. 45 | Preis 1 € | A 5544 CORONAKRISE Bund und Länder verständigen sich erneut auf weitreichende Einschränkungen Wellenbrecher gesucht M it einer zweiten Co- rona-Welle von die- sem Ausmaß hatten wohl nur die größ- ten Pessimisten ge- rechnet. Bis vor we- nigen Wochen lebte noch die Hoffnung, Deutschland könnte, anders als praktisch alle Nachbarstaaten, die Infektionskurve flach halten, bis die exponentielle Entwick- lung auch hierzulande offensichtlich wur- de und immer mehr Hotspots die Landkar- te des Robert-Koch-Instituts (RKI) bedroh- lich rot färbten. Die Zahl der Neuinfektio- nen liegt inzwischen höher als zu Beginn der Pandemie (siehe Grafik), wenngleich Virologen zu bedenken geben, dass we- sentlich mehr getestet wird als anfangs und die Trefferquote damit automatisch steigt. Auch die Zahl der Intensivpatienten in Kli- niken steigt, wenngleich die Kapazitäts- grenze noch keineswegs erreicht ist. Der sprunghafte Anstieg der Infektionszahlen, die sogenannte zweite Welle, muss nach Ansicht von Virologen schnell gebrochen werden. © picture-alliance/Zoonar KOPF DER WOCHE Entsetzen nach Terrorserie a s e g a m I i l l P A / e c n a Emmanuel Macron Frankreich hatte sich noch nicht von dem Schock über den brutalen Mord an einem Lehrer erholt, als der Präsident vergangene Woche erneut an den Ort ei- nes Anschlags eilte. Bei einer Messerat- tacke in einer Kirche in Nizza wurden drei Menschen getötet, Macron sprach von „islamisti- einem Terroran- schen schlag“. Der mut- maßliche Täter – ein 1999 in Tunesien geborener Mann – konnte festgenommen werden. Bei einem Besuch am Tatort sagte Macron, Frankreich werde im Streit um seine Werte „nicht klein beigeben“. Erst vor wenigen Wochen war der Lehrer Samuel Paty bei einer Attacke in einem Pariser Vorort ermordet worden. Das Motiv war den Ermittlern zufolge, dass er im Unterricht zum Thema Meinungsfreiheit Karikaturen des Pro- pheten Mohammed gezeigt hatte (siehe auch Seite 7). ahe/dpa T e r u t c i p © ZAHL DER WOCHE 86 Menschen starben bereits 2016 in Nizza bei einem Lkw-Terroranschlag auf der Promena- de des Anglais. Seit 2015, dem Überfall auf die Redaktion der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“, hat Frankreich mehr als 250 Todes- opfer im Zusammenhang mit islamistischer Gewalt zu beklagen. ZITAT DER WOCHE »Eine Form des Faschismus im 21. Jahrhundert.« Gérald Darmanin, französischer Innenminister, positioniert sich nach dem jüngsten Anschlag von Nizza gegen islamistischen Fanatismus. Frankreich sei „im Krieg gegen die islamistische Ideologie“. IN DIESER WOCHE INNENPOLITIK Arbeit und Soziales Kurzarbeit sollen verlängert werden Seite 4 Sonderregeln zur INNENPOLITIK Recht Gewalt gegenüber Kindern Kampf gegen sexualisierte Seite 6 KULTUR Gedenkort für Erinnerung polnische Weltkriegs-Opfer Seite 8 WIRTSCHAFT Finanzen Behindertenpauschbeträge Mehr Kindergeld und höhere Seite 11 MIT DER BEILAGE Das Parlament Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH 60268 Frankfurt am Main 1 4 5 4 5 4 194560 401004 Neue Geschlossenheit Was Kanzlerin An- gela Merkel (CDU) vergangene Woche nach Beratungen von Bund und Ländern bitterernst präsentierte, nennen manche ei- nen Lockdown light, andere einen Wellen- brecher, wobei niemand vorhersagen kann, ob die Welle bricht. Der Schock über die Infektionszahlen sitzt jedenfalls so tief, dass die Ministerpräsidenten seltene Ge- schlossenheit erkennen ließen, was umso bemerkenswerter ist, als namhafte Medizi- ner einen radikalen Strategieschwenk pro- klamieren: weg von der Zahlenhörigkeit und hin zu einem gezielten Schutz soge- nannter vulnerabler Gruppen, also vor al- lem älterer Leute. Gleichwohl, mit Kon- taktbeschränkungen, der Schließung von Hotels, Gaststätten, Freizeit- und Kultur- einrichtungen, die ab diesen Montag den gesamten Monat bundes- weit gelten, soll ein natio- naler Gesundheitsnotstand noch verhindert werden. Schulen und Kitas bleiben offen, auch der Handel soll unter Auflagen geöffnet bleiben. Die Pandemie hat unter- dessen auch verfassungs- rechtliche Fragen aufgewor- fen, etwa zur konkreten Rolle des Parlaments in der Krisenbewältigung. Sollte jede neue Regelung vom Bundestag verabschiedet werden oder ist es sinnvoll, wenn das Bundesgesundheitsmi- nisterium wie derzeit mit Sonderbefugnis- sen bestimmte Entscheidungen selbststän- dig treffen darf? Die Meinungen gehen auseinander, zuletzt mehrten sich Forde- rungen, die Parlamente müssten wieder stärker „Flagge zeigen“ (siehe Seite 3). Bewährungsprobe Merkel trat vergangene Woche nach der Bund-Länder-Sitzung zum Rapport im Bundestag an und erläuterte in einer Regierungserklärung den Ernst der Lage, immer wieder unterbrochen von lau- ten Zwischenrufen der AfD. Die Kanzlerin sagte, die Infektionszahlen stiegen expo- nentiell und brächten die Gesundheitsäm- ter an ihre Belastungsgrenze. 75 Prozent der Infektionen könnten nicht mehr zuge- ordnet werden. In den Krankenhäusern ha- be sich die Zahl der Intensivpatienten ver- doppelt. Sie betonte: „Wir befinden uns in einer dramatischen Lage, sie betrifft uns al- le.“ Der Bund werde den vom Lockdown betroffenen Einrichtungen finanziell hel- fen, über diese schwierige Zeit hinwegzu- kommen, versprach sie und fügte hinzu, sie könne die Frustration und Verzweiflung der Betroffenen verstehen, aber die Hygie- nekonzepte könnten derzeit ihre Wirkung nicht entfalten. Merkel hob mehrfach her- vor: „Die Maßnahmen sind geeignet, erfor- derlich und verhältnismäßig.“ Merkel sprach von einer medizinisch, öko- nomisch, sozial, politisch und psycholo- gisch harten Bewährungsprobe, die nur mit Zusammenhalt und Transparenz zu bewäl- tigen sei. Sie fügte hinzu, es sei unverzicht- bar, in dieser Situation alle Maßnahmen, die erheblich in die Freiheitsrechte eingrif- fen, öffentlich zu diskutieren und kritisch »Die getroffenen Beschlüsse sind ehrlich, klar und furchtlos.« Ralph Brinkhaus (CDU), Unionsfraktionschef »Wir müssen abwägen, auch um den Preis, dass Menschen sterben.« Alexander Gauland, AfD-Fraktionschef zu hinterfragen. Die kritische Debatte stär- ke die Demokratie, nur so entstehe Akzep- tanz. Desinformation, Verschwörung und Hass beschädigten die Debatte. Freiheit be- deute gerade jetzt aber auch Verantwortung gegenüber den Mitmenschen. Unionsfraktionschef Gewaltenteilung Ralph Brinkhaus (CDU) sicherte der Regie- rung Unterstützung zu. Er versuchte in seiner Rede, Mut zu machen. Die Bürger kämpften in beeindrucken- der Weise gegen die Pande- mie, das mache ihn stolz. Die jüngst getroffenen Be- schlüsse nannte Brinkhaus „ehrlich, klar und furcht- los“. Es gehe jetzt darum, Gesundheit, Wirtschaft und Bildung zu erhalten. Kritik an der vermeintlich Einbin- unzureichenden dung der Parlamente in die Krisenbewältigung wies er zurück. Mit etli- chen Parlamentsdebatten sei der Rahmen gesetzt worden für das, was die Regierung machen dürfe, in einigen Fällen würden Vorlagen der Regierung auch korrigiert. Das deutsche Recht basiere auf Gewalten- teilung und Föderalismus. Gleichwohl würden die Entscheidungen immer wieder geprüft, abgewogen und hinterfragt. Brink- haus betonte: „Der Parlamentarismus funktioniert.“ Das Parlament habe jeder- zeit die Möglichkeit, Gesetze zu ändern und Verordnungsermächtigungen zu be- grenzen. Die SPD kündigte konkrete Initiativen an, um die Rolle des Parlaments zu stärken. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sagte, es gebe Überlegungen für „rechtliche Leit- planken“ hinsichtlich der Exekutive und nannte die Präzisierung der Generalklausel im Infektionsschutzgesetz (IfSG). Zusätz- lich seien Zustimmungsvorbehalte für das regelmäßige Berichts- Parlament nötig, pflichten des Bundesgesundheitsministers und eine Begründungs- und Befristungs- pflicht für Rechtsverordnungen. „Im Kern wollen wir eine breitere Legitimität und Flexibilität schaffen“, sagte Mützenich und fügte hinzu: „Selbst in unsi- cheren Zeiten ist der Reflex zum Durchregieren keine Alternative zum mühsamen Konsensprozess.“ bisherigen Propaganda Von der Op- position kam teils verhalte- ne, teils harsche Kritik. Alexander Gauland (AfD) forderte eine Abkehr von der Strategie und mehr Nutzenabwä- gung. So gebe es auch viele Verkehrstote, aber niemand käme auf die Idee, deswegen den Verkehr abzuschaffen. „Wir müssen abwägen, auch um den Preis, dass Menschen sterben.“ Die Infektionen seien nicht mehr kontrollier- bar, aber das Virus fordere vergleichsweise wenige Tote. Es komme darauf an, Risiko- gruppen zu definieren und zu schützen, et- wa mit gesonderten Einkaufszeiten für chronisch Kranke und Ältere. In Anspielung auf die veröffentlichten In- fektionszahlen sagte Gauland, Angst sei ein schlechter Ratgeber. Er sprach von „Kriegspropaganda“, regiert werde das Land „von einer Art Kriegskabinett“. Bund und Länder beschlössen am Parlament vor- bei die größten Freiheitsbeschränkungen in der Geschichte des Landes. Solche Ent- scheidungen dürfe aber nur der Bundestag treffen. Auch FDP-Fraktionschef Christian Lindner rügte, der Bundestag könne die Beschlüsse nur nachträglich zur Kenntnis nehmen. Dies sei mit rechtlichen Risiken verbunden und drohe die parlamentarische Demokratie zu deformieren. Er forderte zudem, die Verhält- nismäßigkeit zu wahren und die Beschlüsse mit guten Argumenten zu untermauern. So würden im November Bereiche geschlossen, die nicht als Infektionstrei- ber aufgefallen seien. Auch das berge rechtliche Risiken, sagte Lindner und erinnerte an das Debakel mit den Be- „Wi- herbergungsverboten: dersinnige Regelungen ha- ben den Familienurlaub von Rügen nach Rhodos umge- lenkt.“ Akzeptanz Auch Linksfrak- tionschefin Amira Moha- med Ali bezweifelte den Nutzen einzelner Regelun- gen. Es sei zwar angesichts der Infektions- zahlen dringend geboten, etwas zu tun, lei- der würden aber nicht alle Entscheidungen nachvollziehbar erklärt. Alle Maßnahmen müssten transparent begründet werden, um die Akzeptanz in der Bevölkerung zu stärken. Die Debatte darüber hätte vorher in das Parlament gehört. Zudem müssten Einschränkungen sozial abgefedert werden, sagte die Linken-Politi- kerin. Millionen Arbeitnehmer seien in Kurzarbeit, viele Menschen sorgten sich um ihren Arbeitsplatz, die Unsicherheit nehme zu. Soziale Sicherheit sei daher wichtig: „Niemand darf durch diese Krise in Not geraten.“ Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring- Eckardt sagte, die Entwicklung sei eigent- lich vorhersehbar gewesen. Alle hätten ge- wusst, dass mit dem Herbst die Infektions- zahlen steigen würden. Das Land sei auf die Verschärfung der Krise dennoch nicht vorbereitet gewesen. Und so sei aus einer Infektionskrise eine Vertrauenskrise gewor- den. Sie betonte: „Wir stehen an einem wirklich kritischen Punkt.“ Um eine Über- forderung des Gesundheitssystems zu ver- hindern, müsse die Welle gebrochen wer- den. Im Kern stimme ihre Fraktion daher den Entscheidungen von Bund und Län- dern zu. Göring-Eckardt wollte aber nicht nur warnen, sondern auch Mut machen und versicherte: „Das Virus wird uns nicht besiegen.“ Claus Peter Kosfeld T Weiterführende Links zu den Themen dieser Seite finden Sie in unserem E-Paper ED I TO R IA L Recht auf Vernunft VON JÖRG BIALLAS Es hat Monate gedauert, bis die Legislative sich beschwerte. Die Corona-Politik werde im Kanzleramt und nicht im Bundestag gemacht, lautete der plötzlich vehement vorgetragene Vorwurf. Statt im Parlament würden die Ent- scheidungen allein von der Regierung getrof- fen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stelle die Weichen mit den Vertretern der Län- der und nicht mit denen des Volkes. Kurzum: Der Bundestag müsse in die konkreten Be- schlüsse stärker eingebunden werden. Diese Initiative erwuchs nicht zuvorderst aus den Reihen der Opposition. Vorreiter war vielmehr Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU). Nicht die Regierung, sondern das Parlament ist das oberste Organ zur Leitung unseres Staa- tes. Dass in der Verfassung eine zu Beschlüs- sen berechtigte Runde bestehend aus Bundes- kanzler und Ministerpräsidenten verankert wä- re, ist hingegen nicht bekannt. Bei der Frage aber, wie die Pandemie vor Ort zu bekämpfen ist, spielt der Föderalismus eine wesentliche Rolle. Dass die Länder sich ungern auf Pauschalregelungen festlegen lassen, ist nachvollziehbar. Obwohl der Einfluss auf re- gionale Entscheidungen also überschaubar ist, bleibt es richtig, wenn die Exekutive das direk- te Gespräch mit den Ministerpräsidenten sucht. Auch im Bundestag stand das Thema Pande- mie über Monate dutzendfach auf den Tages- ordnungen der Plenar- und Ausschuss-Sitzun- gen. Trotzdem ist der Eindruck entstanden, das Parlament sei gänzlich ohne Einfluss geblie- ben. Das ist gewiss nicht richtig. Dennoch wä- re hier und da ein klarer Beschluss, eine deutli- cher formulierte Haltung zum Handeln der Re- gierung oder auch Kritik an einzelnen Bundes- ländern hilfreich gewesen. Darüber hinaus sollte das Parlament seine Ge- staltungsmöglichkeiten besser nutzen, um Co- rona-Politik trotz föderal verbriefter Autono- mie möglichst bundeseinheitlich zu gestalten. Debakel wie das Beherbergungsverbot hätten so vermieden werden können. Wer Millionen Familien die Herbstferien verweigert, darf sich über Frust nicht wundern. Der entsteht übrigens auch, wenn es so aus- sieht, als spiele der Wahlkampf von Minister- präsidenten eine Rolle bei der Pandemie-Stra- tegie. Machtgeplänkel gehören zur Politik. Wenn Politik aber über Leben und Tod ent- scheidet, hat das Volk ein Recht auf Vernunft.

Die Beschlüsse von Bund und Ländern im Detail

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