8 DEBATTENDOKUMENTATION Das Parlament - Nr. 45 - 02. November 2020 Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/ Die Grünen: Es braucht jetzt Klarheit, es braucht Planbarkeit n o i t k a r f s g a t s e d n u B - n e n ü r G e D i / 0 9 s i n d n ü B © Katrin Göring-Eckardt (*1966) Landesliste Thüringen Im Sommer schien alles schön; es fühlte sich an, als gäbe es gar kein Corona. Gut für die Bürgerinnen und Bürger, die Ur- laub hatten und machen konnten. Allerdings scheint es mir so, als ob dieses Gefühl von Pause auch bei der Bundesregierung um sich ge- griffen hat und sie im Sommer ir- gendwie vergessen hat, dass es Co- rona gibt. Und dann kamen plötzlich die Urlaubsrückkehrerinnen, und dann kam plötzlich der Schulan- fang, und dann kamen plötzlich die Herbstferien. Und das ist ein Problem. Ich will das gar nicht wohlfeil sagen. Vielleicht ist das ja auch verständlich, nach einem auch für alle politischen Verantwortungs- trägerinnen und Verantwortungs- träger wahnsinnig aufreibenden Frühjahr. Aber es hat verdammt viel ge- kostet: Es hat Vertrauen gekostet. Es hat Existenzängste, Verunsiche- rung und Stille ausgelöst. Es hat Theateraufführungen und Konzer- te gekostet. Es kostet Begegnun- gen. Gewusst haben wir alle, dass der Herbst kommen wird, dass es kälter wird, dass die Infektions- zahlen steigen werden. Aber Sie waren nicht vorbereitet. Stattdes- sen erst mal hektisches Agieren, Wirrwarr, Hin und Her, Bund und Länder, dies und jenes, Flickentep- pich in Deutschland. So ist aus der Infektionskrise auch eine Ver- trauenskrise geworden. Diese gilt es jetzt zu beheben mit großer Kraft, mit Entschlossenheit und mit Gemeinsamkeit, meine Da- men und Herren. Wir stehen an einem wirklich kritischen Punkt. Um den Anstieg der Infektionszahlen zu bremsen, Menschen zu schützen und eine Überforderung des Gesundheits- systems zu verhindern, müssen wir tun, was Sie vorgeschlagen ha- ben – nicht im Einzelnen, aber im Grundsatz -, nämlich die Welle brechen. Daran führt kein Weg vorbei. Ich bedauere, das sagen zu müssen, aber ich sage auch: Im Kern stimmen wir dem zu. Ich fin- de es aber im Hinblick auf das Vertrauen in die Bundesregierung unfassbar wichtig, dass wir jetzt nicht wieder sagen: Nächste Wo- che, am 2. November, wird erst mal alles dichtgemacht, aber wie genau die Hilfe für die Leute aus- sieht, die dichtmachen müssen, das liefern wir dann mal nach. – Das wäre die nächste Vertrauens- krise. Das sollten Sie so bitte nicht machen. Wenn jetzt, wie angekündigt, noch einmal vieles, was uns lieb ist, was Spaß macht, was uns wichtig ist, was die Seele, was die Gemeinschaft, was die Gesell- schaft braucht, unterlassen werden muss, dann muss auch klar sein, dass diese Zeit genutzt werden muss, folgende Fragen zu beant- worten: Wie kommen wir denn dann wieder da raus? Wie werden wir in den nächsten Monaten nach dem Lockdown mit diesem Virus leben? Wie sorgen wir dafür, dass gesellschaftliches Leben statt- findet, dass Kultur stattfindet, dass wir draußen sein können? Ja, na- türlich mit Vorsicht, mit Hygiene- konzept, mit all dem, was in den letzten Monaten von vielen Ein- zelnen so gut und so klar erarbei- tet worden ist. Das ist jetzt die Aufgabe von Politik, damit wir aus diesem Lockdown, aus dieser Kri- se herauskommen als Gesell- schaft, die zusammenhält, und als Gesellschaft, die mit diesem Virus umgehen kann; denn eigentlich können wir das in unserem Land. Dazu gehört, Menschen nicht mehr hinzuhalten. Ich denke hier zum Beispiel an den Unternehme- rinnenlohn für die Selbstständi- gen, für die Soloselbstständigen. Ich sage das besonders an die SPD gewandt. Nein, die sind nicht ar- beitslos, und nein, die sind nicht richtig beim Grundsicherungsamt. Deswegen meine herzliche Bitte: Diese Leute haben wirklich durch- gehalten. Viele haben mit großer Angst und mit großen Schmerzen durchgehalten, haben ihre Ren- tenvorsorge aufgebraucht oder auf Pump von der Familie gelebt. Ge- ben Sie denen jetzt die Sicherheit, und zwar auch rückwirkend. Es ist notwendig für deren Existenz, aber auch dafür, dass wir im nächsten Jahr noch Kunst, Kultur und Veranstaltungen in diesem Land haben. Das geht, das ist möglich, das ist finanzierbar. Ja, wir sind nicht mehr in der gleichen Situation wie im Früh- jahr. Wir wissen jetzt mehr. Wir wissen noch nicht alles, aber wir wissen mehr. Deswegen braucht es jetzt wirklich eine Strategie für die nächsten Monate. Dazu gehört als Erstes der Schutz von Risikogrup- pen. Wir müssen sie natürlich vor einer Ansteckung mit dem Virus schützen, aber eben auch gleich- zeitig vor Einsamkeit und vor Ver- zweiflung. Die dunkle Jahreszeit kommt ja erst noch. Menschen brauchen Kontakt, sie brauchen Begegnung. Deswegen sind Dinge wie beispielsweise Schnelltests – sie sind zur Verfügung zu stellen – wich- tig und zentral. Ich erwarte, dass das jetzt auch wirklich mit großer Kraft angegangen wird und dass es nicht wieder an irgend- fehlt, weil etwas Pandemiewirtschaft die doch nicht funktioniert. Dazu gehört, dass wir bundesweit klare, einheit- liche und rechtssichere Vereinba- rungen haben, welche Dinge bei welcher Stufe des Infektionsge- schehens notwendig sind. Da geht es nicht darum, dass man eine Ausnahme macht, wenn es nur – nur! – einen Schlachthof be- trifft. Ich hätte es übrigens gut ge- funden, wenn wir die Arbeitsbe- dingungen in den Schlachthöfen sofort geändert hätten. Aber das nur am Rande; es ge- hört eigentlich nicht in diese De- batte. Es muss gemeinsam geschehen. Es muss nachvollziehbar sein. Wir müssen wissen, was wann passiert. Es sollte nicht auf den Schultern der Landrätinnen, der Bürgermeis- terinnen ausgetragen werden, die dann immer vor Ort für alles ver- antwortlich gemacht werden, was woanders entschieden worden ist. Das geht nicht mehr, meine Da- men und Herren. Dazu gehören bessere Informa- tionen auf allen Kanälen und in allen Sprachen. Wenn wir nicht wissen, wie 75 Prozent der Infek- tionen zustande gekommen sind, wenn wir das wirklich nicht wis- sen, dann ist doch spätestens jetzt der Moment, das zu erforschen. Meine Kollegin Katharina Dröge Der Bundestag beschließt, und der Bundes- rat beschließt, beide zusam- men. hat schon im Sommer danach ge- fragt. Sie haben sich nicht genug damit beschäftigt. Deswegen: Schauen Sie es sich jetzt an, und finden Sie heraus, woher die In- fektionen kommen. Wir können nicht mehr damit arbeiten, dass man sagt: Wir wissen es eben nicht. – Nein, wir müssen es jetzt wissen. Wir müssen es herausfin- den, damit wir nach diesem No- vember gezielt und vernünftig ar- beiten können. Schließlich. Das öffentliche Leben wieder öffnen, und zwar verantwortungsbewusst mit Hygienekonzepten, das geht, das ist möglich, und das muss dann auch möglich sein. Es gibt Vorschläge. Es gibt das Know-how. Wenn nicht irgendjemand das so gut zeigen kann wie die Veranstal- tungsbranche, wer denn sonst? Wer gestern auf der Demonstrati- on vor dem Brandenburger Tor war, der hat gesehen: So gut wie dort die Hygienekonzepte einge- halten wurden, klappt das kaum irgendwo, übrigens auch nicht hier im Bundestag; das hat vor allen den Dingen mit Herrschaften auf dieser Seite zu tun. Da kann man jeden- falls sehen, was geht, wenn man es gut or- ganisiert, meine Da- men und Herren. Die tief in unseren Alltag eingreifenden Beschränkungen jetzt aber auch endlich auf solide ge- setzgeberische Füße gestellt. gehören Ich sage das – Herr Mützenich, vielen Dank für das Angebot – mit allem Nachdruck: Es macht kei- nen Sinn, dass dieses Parlament nach den Entscheidungen gestern hier debattiert. Es ist gut, dass wir Argumente austauschen. Aber die Beschlüsse gehören hierher. Es ist gut, dass wir mit den Ländern dis- kutieren, und es ist gut, dass wir Bund und Länder haben, ja, na- türlich. - Wir haben auch Gewaltentei- lung; auch das ist vollkommen richtig. Aber Gewaltenteilung heißt eben auch: Der Bundestag beschließt, und der Bundesrat be- schließt, beide zusammen. Das ist der Weg, und den müs- sen wir jetzt gehen, meine Damen und Herren. Es gehört zum Selbstbewusst- sein für uns als Parlamentarierin- nen und Parlamentarier. Es gehört zur Rechtssicherheit. Es gehört zur Nachvollziehbarkeit der Beschlüs- se, die dann gefasst werden. Ich hoffe sehr und ich wünsche, dass wir nicht warten, dass die Pande- mie eine Pause macht, Herr Brink- haus, sondern dass wir hier – wir können es; es gibt dazu Vorschläge – zeigen, dass wir gerade in dieser schwierigen Situation als Parla- ment in der Lage sind, die not- wendigen Beschlüsse zu fassen. Ich bin sicher, dass wir alle hier, die demokratischen Fraktionen in diesem Parlament, das sehr gut können mit hohem Verantwor- tungsbewusstsein. Natürlich braucht es für Be- eine wissenschaftliche schlüsse Grundlage. Ich sage noch mal: Ein Pandemierat wäre dafür ein gutes Gremium, weil er alles einbezie- hen würde, nämlich sowohl die virologischen, die gesundheitli- chen Fragen wie auch die sozialen und die ökonomischen. Damit könnten wir eine gute Grundlage für das schaffen, was in den nächs- ten Monaten vor uns liegt. Meine Damen und Herren, im März haben wir gesehen, wie es bei klarem, nachvollziehbarem, gemeinsamem Vorgehen eine gro- ße Akzeptanz in der Bevölkerung gibt. Diese Akzeptanz gilt es jetzt zurückzuholen. Es gilt sie zurück- zuholen mit klaren Angaben darü- ber, wie unsere Zukunft mit dem Virus aussehen kann. Ich will es ganz klar sagen: Das Virus wird uns nicht besiegen. Aber wir sagen auch: Wir lassen uns nicht vom Virus besiegen. Das ist das, was wir gelernt haben, was wir im Frühjahr gelernt haben. Viele Menschen waren solidarisch miteinander. Ich erwarte jetzt, dass wir diese Solidarität zurückgeben an all diejenigen, die große Pro- bleme haben. Ich erwarte jetzt, dass wir nicht noch mal mit einer Art von: „Wir wissen es jetzt noch nicht genau“ auf eine nächste gro- ße Schwierigkeit zusteuern. Es braucht jetzt Klarheit, es braucht Planbarkeit. Wir wissen so viel über das Virus, dass wir das kön- nen. Deswegen, meine Damen und Herren: Zusammenhalt der Ge- sellschaft, das heißt Debatte, das heißt klare Entscheidung, das heißt Perspektive für die Zukunft. Halten wir uns in diesem Land ge- meinsam an die Regeln. Halten wir Abstand, und halten wir zu- sammen. Dann kann das gelin- gen. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP): Super Rede! Wir haben uns alle lieb!) Dies ist eine gekürzte Version der De- batte. In der Debatte sprachen zudem Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz (SPD) sowie die Ab- geordneten Sebastian Münzenmaier (AfD). Alexander Dobrindt (CSU), Bär- bel Bas (SPD), Thorsten Frei (CDU), Dr. Frauke Petry (fraktionslos) und Ka- rin Maag (CDU).