Das Parlament - Nr. 12 - 22. März 2021 JÜDISCHES LEBEN IN DEUTSCHLAND 7 »Sie sind die Zukunft« IMMIGRANTEN Nach 1945 erlebte Deutschland drei ganz unterschiedliche Wellen der jüdischen Einwanderung Judentums, A ls der Rabbiner Leo Baeck, Führungsfigur des deut- schen im Frühjahr 1945 aus dem Konzentrationslager The- resienstadt befreit worden war, machte er eine düstere Aussage: „Un- ser Glaube war es, dass deutscher und jüdi- scher Geist auf deutschem Boden sich tref- fen und durch ihre Vermählung zum Segen werden können. Dies war eine Illusion – die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für alle Mal vorbei.“ Tatsächlich waren die Perspektiven für jüdi- sches Leben in Deutschland 1945/46 de- primierend. Von den 500.000 Juden beim Machtantritt der Nazis 1933 hatten 1945 nach Mord und Vertreibung gerade einmal 15.000 Menschen in Deutschland über- lebt. In KZs und Lagern, im Untergrund und Versteck. Von Verfolgung und Torturen gezeichnet, waren die meisten Überleben- den alt, gebrechlich, krank und hilfebe- dürftig. Es erschien nur eine Frage der Zeit, wann jüdisches Leben in Deutschland end- gültig verlöschen würde. Zwar gründeten sich wieder Gemeinden in Berlin, Mün- chen, Nürnberg, Frankfurt am Main, Köln, Düsseldorf, Hamburg. Trotzdem kursierte der Begriff „Gemeinden in Abwicklung“, viele ihrer Mitglieder sprachen davon, „auf gepackten Koffern“ zu sitzen. Internationa- le jüdische Organisationen schnitten jahre- lang die kleinen Zirkel, verlangten wieder- holt die Auflösung. Jüdische Exilanten blie- ben aus, von 1945 bis 1952 kamen nur 2.500 zurück. Neues jüdisches Leben? Al- lenfalls eine Übergangsexistenz. Dass die Entwicklung anders verlief, ist allein der beständigen Einwanderung von Juden aus dem Ausland geschuldet, der Hypothek des Holocaust zum Trotz. Eine erste Einwanderungswelle deutete sich bereits Ende 1945 an. Mehr und mehr Ju- den, aus Polen, Ungarn, Rumänien, der Tschechoslowakei, Litauen, strandeten im Nachkriegsdeutschland – Flüchtlinge, mit denen niemand gerechnet hatte. Sie verlie- ßen ihre Heimatländer aufgrund eines neuerlichen aggressiven Antisemitismus in den östlichen Umbruchgesellschaften. Das Pogrom von Kielce wurde zum Signal: Am 4. Juli 1946 erschlug ein aufgebrachter Mob in der polnischen Stadt 42 Juden. Da- nach entwickelte sich die Flucht zum Mas- senexodus. »Displaced Persons« Bis Ende 1947 ge- langten etwa 250.000 osteuropäische Ju- den nach Deutschland. Ihr Ziel waren die Besatzungszonen der westlichen Alliierten, vor allem die der Amerikaner. In speziellen Lagern untergebracht und abgeschirmt ge- genüber den Deutschen, gaben die Besat- zungsmächte diesen Flüchtlingen den Sta- tus von Displaced Persons (DPs). Deren ei- gentliches Ziel war jedoch vorrangig Paläs- tina, eben Eretz Israel; dann die USA, Süd- amerika, Australien – nur weit weg von Europa, dem verfluchten Kontinent. Zunächst wollte niemand diese Flüchtlinge haben, sie saßen ihren Lagern fest, „befreit, aber nicht frei“. Derweil formten sich die DP-Camps zu kleinen Einheiten wie vor- mals die traditionellen Schtetl in Osteuropa, mit Betsälen, Kultureinrichtungen, Schulen, Vereinen und Freizeitangeboten. Erst mit der Gründung des Staates Israel 1948 und mit revidierten Regeln in den USA, kam die Aus- wanderung in Gang. Dennoch dauerte die DP-Ära bis Anfang 1957, als das letzte Lager im bayerischen Föhrenwald bei Wolfratshau- sen geschlossen wurde. Von diesen jüdi- schen Flüchtlingen verblieben 12.000 bis 15.000 in der Bundesrepublik. Nach hefti- gen internen, auch kontroversen Diskussio- nen fanden sie Aufnahme in den jüdischen Gemeinden, in denen sie bald die Mehrheit bildeten. Durch diesen Neuzugang wuchs die Zahl der jüdischen Gemeinschaft auf et- wa 30.000 Menschen. Exodus: Drei ehemalige Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald aus Polen, Ungarn und Lettland am Fenster eines Eisenbahn- abteils im Sommer 1945 mit der Fahne Israels, die auf dem jüdischen Weltkongress 1897 entworfen wurde. © picture-alliance/akg-images Die zweite jüdische Einwanderungswelle begann Anfang der 1990er Jahre nach der Wiedervereinigung; sie erstreckte sich weit über ein Jahrzehnt. Der Runde Tisch der untergehenden DDR, in der zuletzt noch etwa 350 Juden lebten, entschloss sich 1989 zu einer versöhnlichen Geste: Die Bürgerbewegten luden die Juden in der Sowjetunion, dort nicht religiös, sondern ethnisch registriert, nach Ostdeutschland ein. Verwirklicht wurde das Projekt erst nach Vollzug der Einheit 1990. Aufgrund der Regelung für Kontingentflüchtlinge konnten Menschen mit familiärem jüdi- schen Hintergrund nach Deutschland einreisen. Sie brauchten kein Asylverfahren zu durchlaufen, sondern er- hielten im Rahmen einer „humanitären Hilfsaktion“ die Aufenthaltserlaubnis. Bis 2004 kamen auf diese Weise rund 220.000 jüdische Zuwanderer. Von diesen Kontingentflüchtlingen finden etwa 80.000 den Weg in die jüdischen Ge- meinden und bilden dort überall die Mehrheit, manchmal sogar mit 80 Prozent. Vielfach führt diese Konstellation zu inter- nen Konflikten mit den alten Mitgliedern nunmehr wegen Sprachproblemen, sozialen Erfor- dernissen und fehlender religiöser Kultur. „Die Gemeinden sind im gewissen Sinne zu Sozialämtern und Sprachvermittlungs- instituten geworden“, schreibt der Histori- ker Michael Brenner. Doch dadurch steigt die Zahl der jüdischen Gemeinschaft in den Gemeinden auf rund 100.000. Der letzte Schub jüdischer Immigration ist ganz anderer Art. Es sind die zumeist jün- gere Israelis, die sich seit einem Jahrzehnt vermehrt in Deutschland niederlassen, vor allem in Berlin. Die Einwanderung ist zu- nächst einmal ein Medienphänomen. Ju- den gehen freiwillig und aufgeschlossen in das „Land der Täter“? Das Thema sei wegen der deutsch-jüdischen Geschichte emotio- nal hoch besetzt, analysiert die israelische Migrationsforscherin Dani Kranz in einer Studie; doch das Ausmaß werde über- schätzt. Realistisch lässt sich ihre Zahl auf 15.000 bis 20.000 beziffern. Die Liste der Motive dieser „dritten Gene- ration“ ist umfangreich. An erster Stelle ste- hen wirtschaftliche Gründe – für mehr als die Hälfte. Die Lebenshaltungskosten sind in Deutschland weit niedriger als in Israel. Es folgen Studium und Berufsausbildung. Die Gründung von Start-ups, vor allem im IT-Bereich, gelingt leichter. Die offene Ge- sellschaft der Bundesrepublik wirkt eben- falls attraktiv, besonders für Kreative im kulturellen Bereich. Diesen Israelis, zu- meist mit europäischem Familienhinter- grund, ist die Historie stets bewusst; doch im Alltagsleben spielt sie kaum eine Rolle, fand Kranz heraus. Die jungen Leute „ha- ben sich weit von der Vergangenheit ent- fernt“. Nur wenige finden den Weg zu den Gemeinden. Dafür nutzen sie eigene Netz- werke. Allerdings haben 20 Prozent leidige Erfahrungen mit dem wachsenden Antise- mitismus und Antiisraelismus machen müssen – ein Makel für Deutschland. Das neue deutsche Judentum ist eine hete- rogene Gruppe. Allerdings mahnt Micha Guttmann, vormals Generalsekretär des Zentralrats der Juden, dringend Reformen in den Gemeinden an. Deren Mitglieder seien unzufrieden mit der internen Füh- rungsstruktur. Vor allem die Jüngeren fühl- ten sich nicht vertreten, sagt er. Doch gera- de deren Engagement werde gebraucht, „sie sind die Zukunft.“ Heinz Verführt T Eine bittere Lektion SCHUTZ JÜDISCHER EINRICHTUNGEN Seit dem Anschlag von Halle ist die Angst vor Terrorismus wieder allgegenwärtig Ein Leben mit oder ohne Gott ULTRAORTHODOXE Besht Yeshiva hilft Aussteigern »Es geht darum, eine Verbindung zu unserer Kultur haben zu können.« Rabbi Shlomo Tikochinski Die Welt, aus der Moshe Barnett kommt, kennen die allermeisten Menschen nur aus dem Fernsehen. Zwei Netflix-Produktionen – „Unorthodox“ und „Shtisel“ – haben in den letzten Jahren einen Teil des jüdischen Lebens sichtbar gemacht, der vielen ver- borgen bleibt: den der Ultraorthodoxen. Es ist ein Leben mit vielen Regeln; Vorgaben zu Kleidern, Frisuren, Mahlzeiten. Und zahlreichen Verboten. Gefragt, ob „Shtisel“ eine realistische Darstellung seiner Vergan- genheit ist, muss Moshe Barnett erst lachen und denkt dann länger nach. „Es zeigt das Leben in einer sehr spezifischen Gemeinde in Jerusalem“, sagt er schließlich, „aber ja: Für die vermittelt es einen recht guten Ein- blick.“ Moshe Barnett hat die Welt der Ultraortho- doxen vor zwei Jahren verlassen. Eigentlich war sein Weg vorgezeichnet. Als Ältester von zehn Geschwistern besuchte er eine Religionsschule, spätestens ab dem 13. Le- bensjahr nahm die Religion den zentralen Platz in seinem Leben ein – mit religiösen Studien von sieben Uhr morgens bis zehn Uhr am Abend. Als Teen- ager habe die Idee, alles im Leben müsse sich dem Wil- len Gottes unterordnen, den Mittelpunkt seines Denkens eingenommen, er- innert er sich. „Aber dann habe ich mir mehr und mehr Fragen gestellt. Und irgendwann wusste ich: Ich glaube nicht mehr an den ultraorthodoxen Gott. Da habe ich die Verbindung zu diesem Leben verloren.“ Ohne das Wissen seiner El- tern verließ er die Religionsschule und ging zu einer weltlichen Schule, beschloss schließlich, Israel ganz zu verlassen und nach Deutschland zu gehen. Kulturschock So wie Moshe Barnett geht es vielen. Rund 1,3 Millionen Juden leben Schätzungen zufolge in ultraorthodoxen Gemeinden, die meisten von ihnen in Isra- el oder New York. Sie führen ein Leben, das mit dem normalen Alltag etwa in West- europa nur sehr wenig zu tun hat – das gilt in vielfacher Hinsicht als sündig. Etwa zehn Prozent der Ultraorthodoxen würden ihre Gemeinschaft verlassen, schätzt Rabbi Shlomo Tikochinski, „weil sie mit diesem sehr reglementierten Leben nicht klarkom- men“. Der 54-Jährige ist Rabbiner in Dres- den – und Mitbegründer der Besht Yeshiva Dresden zusammen mit Rabbi Akiva Wein- garten. Die Yeshiva hilft Aussteigern wie Moshe Barnett. Denn Hilfe sei dringend nötig, wenn jemand die ultraorthodoxe Welt verlasse. Dieser Schritt sei für viele ein Kulturschock: „Sie müssen alles lernen. Sie haben nie gelernt, ein Konto zu eröffnen oder einen Ausweis zu beantragen. Die jungen Männer werden dazu erzogen, ein Familienoberhaupt zu sein – aber sie sind nie in ihrem Leben in der Küche gewesen, haben sich niemals um ihre Kleidung ge- kümmert. Die Mädchen wurden vorberei- tet, den Haushalt zu führen und Kinder zu erziehen.“ Für sie sei es noch schwieriger zu gehen, weil sie kaum Kontakt außerhalb der Familie hätten. Aussteiger müssten überhaupt erst einmal lernen, eigene Ent- scheidungen zu treffen – und irgendwie in einer Welt klarzukommen, in der es nie- manden mehr gebe, der einem den Weg vorgebe. Viele von ihnen würden die Ent- scheidung, die Gemeinde zu verlassen, aus großer Not treffen: „Sie sagen, sie hätten lieber Selbstmord begangen, als weiter so zu leben.“ Einige – so wie Moshe Barnett – könnten den Kontakt in das alte Leben halten, andere würden komplett mit der Familie und den alten Freunden brechen. Das sei besonders hart. bezeichnet Neue Perspektiven Aktuell hat die Yeshi- va 15 Schüler, die sich hier mit dem jüdi- schen Glauben auseinandersetzen, neue Perspektiven für ihre Zukunft gewinnen und ihre eigene Entwicklung reflektieren können. Sie können ihren Schulabschluss nachholen und ein Studium starten. Und eine neue Haltung zu ihrer Herkunft und ihrem Glauben finden – und selbst ent- scheiden, ob und wie sie ihre Religion künftig leben wollen. In diesem Prozess steckt auch Moshe Bar- nett. Sei sieben Monaten lebt er in Dres- den. Auf das Aussteigerprogramm sei er von seinem Mathematiklehrer aufmerksam gemacht worden. „Ich habe dann kurz überlegt – und mir war klar: Das ist eine gute Sache, das probiere ich aus.“ In Dresden lernt er Deutsch, will am liebs- ten ein Mathematik-Studi- um beginnen. Beim An- kommen hilft ihm Shlomo Tikochinski. Auch der Rab- bi hat früher ultraorthodox gelebt, sich aber als liberaler als früher. Während viele Aussteiger sehr radikal über ihre frü- here Gemeinschaft urtei- len, sie als Sekte bezeich- nen und mit der nordko- reanischen Diktatur vergleichen, äußern sich Tikochinksi und Barnett viel vorsichti- ger über ihre alte Heimat. Ja, die Welt der Ultraorthodoxen sei sehr strikt und habe mit dem modernen Leben nur wenig zu tun, sagen sie, aber es ist zu spüren, dass sie ihr noch immer verbunden sind; sie ihr altes Leben nicht verdammen wollen. Am wichtigsten sei, so sagen beide, dass es möglich sei, ein anderes jüdisches Leben zu führen, bei dem die Religion nicht im Mittelpunkt stehe. „Es ist egal, wie oft je- mand betet oder ob er es überhaupt tut“, sagt Tikochinsko, „es geht darum, eine Ver- bindung zu unserer Kultur haben zu kön- nen“. Dazu könne Gott gehören oder eben nicht. Aber auch säkulare Juden könnten die jüdischen Feiertage feiern und ihre Tra- ditionen bewahren. Ihm sei wichtig, den Studierenden der Yeshiva ein anderes Bild des Judentums zu vermitteln als sie es in ihrer Vergangenheit kennengelernt hätten. „Es ist wichtig, die Welt zu kennen und zu wissen, wie andere Menschen leben. Wer das nicht tut, lebt eindimensional“, sagt der Rabbi. „Mit neuen Perspektiven weitet sich die Wahrnehmung – und dann ist ei- ne Entscheidung darüber möglich, wie wir leben wollen.“ Doch nicht nur den Aussteigern soll die Besht Yeshiva, die ausschließlich aus Spen- den finanziert wird, eine neue Perspektive geben. Sie seien sehr eng mit der lokalen jüdischen Gemeinde verbunden, sagt Tiko- chinski – und würden sie so unterstützen. Die Corona-Pandemie mit ihren Kontakt- beschränkungen habe das sehr erschwert. Aber schon im April sollen neue Schüler kommen, die Yeshiva wird dann eine wei- tere Klasse eröffnen. „Dann werden wir hoffentlich auch sichtbarer in der Gemein- de.“ Susanne Kailitz T Ob alt, ob jung – sie kommen zügig, sie gehen zügig. Für die Gläubigen auf dem Weg zu den Synagogen lautet die Maßgabe: keine Ansammlungen vor dem Gebäude. „Die Empfehlung stammt von den Sicher- heitsbehörden. Ich kann sie nachvollzie- Josef Schuster, Präsident des hen“, sagt Zentralrats der Juden in Deutschland (ZdJ). Die Sicherheit jüdischer Einrichtungen ist ein heikles Thema. Die Zuständigen halten sich bedeckt. Doch ein paar Fakten dürfen an die Öffentlichkeit. Das Hauptanliegen ist, Terror frühzeitig zu erkennen und ab- zuwehren. Dafür spannt sich ein Sicher- heitsnetz über die rund 100.000 Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Deutschland und deren Synagogen, Schulen, Kranken- häuser, Kitas, Zeitungen, Museen und Ver- bände. Es setzt sich zusammen aus der Po- lizei vor Ort, den Landeskriminalämtern, dem Bundeskriminalamt (BKA), den Lan- desregierungen, dem Bundesinnenministe- rium. Aus allen Informationen, inklusive nationaler und internationaler Nachrich- tendienste, ergibt sich gegebenenfalls eine Gefährdungseinschätzung, aus der notwen- dige Schutzmaßnahmen vor Ort abgeleitet werden. Ansprechpartner sind die Sicher- heitsbeauftragten der jeweiligen jüdischen Einrichtungen und des ZdJ. Neben Austausch und Auswertung von Da- ten werden handfeste Vorkehrungen an jü- dischen Einrichtungen zur Gefahrenab- wehr getroffen. Zum Beispiel die Synagoge in Berlin-Charlottenburg. Von der Straßen- seite ist sie gar nicht erkennbar, weil ihr ein Haus vorgelagert ist. Aber ein Namens- schild und das Verkehrsschild „Absolutes Halteverbot“ weisen darauf hin. Wer dort parkt, dessen Auto wird nach kurzer Zeit abgeschleppt. Laminierte Zettel warnen, keine Gegenstände zu deponieren. Bleibt dennoch ein Koffer stehen, reagiert die Po- lizei schnell. Dicke Betonklötze trennen den Bürgersteig von der Straße. Fest instal- lierte Kameras überwachen das Areal. Mehrmals am Tag fährt die Polizei vor. Ein aufmerksamer Nachbar erzählt: „Vor ein paar Jahren musste ein pakistanischer Im- biss schräg gegenüber schließen, weil die Polizei nach einem Hinweis dutzende Gas- flaschen entdeckte, weit mehr, als für den Imbiss nötig.“ Als plötzlich „Hamas“, der Name der palästinensischen Terrororgani- sation, auf der Fassade des Vorderhauses stand, wurde der Schriftzug noch am Fol- getag entfernt. Polizeipräsenz Nach wie vor setzt man auf Sicherheitstechnik und Polizei. Aller- dings wurde die Präsenz mit dem Einzug sich die Konflikte im Nahen Osten gerade wieder zuspitzten. Seit dem spiegeln sich an ihm eher rechtsradikale Auswüchse im In- land wider. Ein Gipfelpunkt war der Terror- anschlag in Halle am 9. Oktober 2019. Die Polizisten standen danach wieder rund um die Uhr vor der Hausnummer 14, „weil wir mit Nachahmungstaten rechnen mussten“, erklärt Georg von Strünck vom Landeskri- minalamt Berlin. Nach wenigen Wochen war die ständige Polizeipräsenz dort wieder beendet. Dazu Schuster: „Es gab nach Halle ein erhebliches Gefühl der Unsicherheit bei vielen Juden in Deutschland. Der Gottes- dienstbesuch ließ schlagartig nach. Doch insgesamt wurde durch das schnelle, ent- schlossene Handeln der Innenminister überall ein sichtbarer Polizeischutz vor jüdi- schen Einrichtungen gewährleistet, so dass sich rasch wieder ein Sicherheitsgefühl ein- stellte.“ Der Anschlag von Halle war eine bittere Lektion. Nur die massive Sicherheitstür der mit 50 Gläubigen gefüllten Synagoge am jüdischen Feiertag Jom Kippur konnte ver- hindern, dass dem schwerbewaffneten Ste- phan B. ein Massaker gelang. Er tötete aber zwei Passanten. Schuster kritisierte damals, dass keine Polizei vor der Synagoge war, weil sie mit der Bedeutung des Feiertags gar nichts anfangen konnte. „In Bayern wä- re das nicht passiert“, bewertete der Präsi- dent die Unzulänglichkeit der Polizei in Sachsen-Anhalt. Heute sagt er: „Man erlebt nach solchen Vorfällen ein selbstkritisches Hinterfragen. Dann muss man überlegen, wie künftig solche Vorfälle vermieden wer- den können.“ Zehn-Punkte-Plan Genau das wollte Bun- desinnenminister Horst Seehofer (CSU) zusammen mit den Innenminister der Län- der bei einer Konferenz im Oktober 2019 herausfinden. Das Ergebnis ist in einem Zehn-Punkte-Plan zusammengefasst. Ein paar Stichproben: Punkt 1 „Netzwerke und potentielle Täter erkennen“, es sei notwen- dig nachzuvollziehen, wer hinter antisemi- tischen Internet-Postings steht. Dazu das Bundesinnenministerium: „Es gibt gegen- wärtig keine Pflicht für Anbieter von Inter- netforen, Nutzer zu identifizieren.“ Punkt 7 und 8 „Ressourcen sicherstellen“ und „Verfahren beschleunigen“: Laut BKA wur- den seit 2020 insgesamt 440 Planstellen geschaffen. Punkt 3 „Synagogen schützen“: 2020 wurde der Staatsvertrag mit dem ZdJ aus dem Jahr 2003 mit einem Annex verse- hen. Er räumt 22 Millionen Euro für bauli- che Sicherheitsmaßnahmen ein. Schuster hofft, dass das Geld bis Ende 2022 einge- setzt sein wird. Auch in den Ländern wurde auf den wachsenden Antisemitismus reagiert. Ei- nige Staatsverträge wurden schon vor Halle verändert. Baden-Württemberg hat zur Erhöhung der Sicherheit mit den jüdi- schen Religionsgemeinschaften am 28. Ja- nuar 2021 einen Vertrag über zusätzliche Gelder unterzeichnet. Das Berliner Abge- ordnetenhaus hat 2019 beschlossen, fünf Millionen Euro in den Unterstützungs- fond der Landeskommission „Berlin ge- gen Gewalt“ zu investieren. Dazu gehört auch der Schutz vor antisemitischer Ge- walt. In welchem Bundesland funktioniert die Sicherheit am besten? Schuster bilanziert vorsichtig: „Die klappt heute, so habe ich das Gefühl, fast überall sehr gut.“ Könnte Halle auch in Berlin passieren? Der LKA- Mann Georg von Strünck hält sich bedeckt: „Das ist nicht auszuschließen. Aber die Si- cherheitstür hat ja gehalten.“ Die sei in den meisten Berliner Einrichtungen Standard, aber eben nicht in jeder. Almut Lüder T Weiterführende Links zu den Themen dieser Seite finden Sie in unserem E-Paper l e d y e S f e l t e D © „Ein Schutzmann für Kafka“ lautet der Ti- tel des Siegerfotos von Detelf Seydel im Fotowettbewerb „Zusammenhalt in Viel- falt – Jüdischer Alltag in Deutschland“. der Technik verringert. Nur zu den Gottes- dienstzeiten stehen Polizisten vor der Char- lottenburger Synagoge. Das war einmal an- ders. Bis vor 20 Jahren gab es ein Dauerauf- gebot. Am Umfang ließ sich ablesen, ob