2 MENSCHEN UND MEINUNGEN Das Parlament - Nr. 19-20 - 10. Mai 2021 GASTKOMMENTARE SIND REISEN BALD VERANTWORTBAR? Eine andere Lage PRO Die Deutschen zieht es in die Ferne. Für t a v i r P © Timot Szent-Iványi, Redaktionsnetzwerk Deutschland, Berlin e d . s i t n e x A © Martin Ferber, »Badische Neueste Nachrichten«, Karlsruhe Ischgl lässt grüßen CONTRA Ein kurzer Blick ins Grundgesetz genügt: die übergroße Mehrheit ist ein Urlaub ohne Reisen gar nicht vorstellbar. Die dritte Welle der Corona-Pandemie hat den Tourismus jedoch erneut zum Erliegen ge- bracht. Zwar stehen in Umfragen die Einschrän- kungen der sozialen Kontakte nach wie vor ganz oben in der Liste der als besonders gravierend empfundenen Einschnitte durch die Pandemie. Doch knapp dahinter rangieren bereits die fehlen- den Reisemöglichkeiten. Es überrascht daher kaum, dass zuletzt bei Erhe- bungen etwa die Hälfte der Befragten angegeben hat, trotz der Krise für 2021 eine Urlaubsreise zu planen. Sie wollen nach Lockdown, Homeschoo- ling und Homeoffice raus aus den eigenen vier Wänden, wollen ans Meer, in die Berge, in fremde Städte. Und das muss auch möglich sein – ab dem Frühsommer zumindest in Europa und einigen Fernreisezielen mit niedrigen Inzidenzwerten. Denn die Zahl der Geimpften steigt rasant, für alle anderen sind Schnelltests reichlich verfügbar. Ho- tels, Gaststätten oder Fluglinien im In- und Aus- land haben ihre Hygienekonzepte weiter perfek- tioniert. Die Bundesregierung hat durch zahlreiche Schutzregeln das Reisen sicherer gemacht. Coro- na-Tests bei Rückreisen mit dem Flugzeug sind Pflicht, die übrigen Einreise- und Quarantänevor- schriften sind an das jeweilige Infektionsgesche- hen vor Ort angepasst – bis hin zu Einreisestopps aus Gebieten mit gefährlichen Virusmutationen. Damit ist die Lage grundlegend anders als im Sommer 2020, als insbesondere unbekümmertes Reisen die zweite Pandemie-Welle antrieb. Sicher, ein Restrisiko bleibt, doch das besteht auf dem Weg zur Arbeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln, im Büro oder beim täglichen Einkauf auch. Es gibt kein Grundrecht auf Reisen und kein Grundrecht auf Urlaub auf Mallorca, Ibiza oder der Dominikanischen Republik. Zwar gibt es ein Recht auf bezahlten Urlaub, aber nicht auf die Urlaubsreise ins Ausland. Die Pande- mie mit all ihren Einschränkungen und Verboten mag wie eine Spaßbremse wirken, die so gut wie alles in Frage stellt, woran man sich in der Vergan- genheit gewöhnt hat. Aber sie legt auch scho- nungslos offen, dass nichts selbstverständlich ist. Natürlich, Reisen sind schön, erweitern den Hori- zont, bereichern das Leben. Aber muss es in Zeiten einer globalen Pandemie wirklich sein, sich selber und andere zu gefährden, nur weil man für 14 Ta- ge raus aus dem Alltag will? Mit dem Virus ist nicht zu spaßen, es unterscheidet auch nicht, ob man Einheimischer oder Gast, Inländer oder Frem- der ist. Im Gegenteil, je mehr Menschen an einem Ort versammelt sind, je ungezwungener man mit- einander umgeht und je ausgelassener gefeiert wird, desto wohler fühlt sich das Virus. Ischgl lässt grüßen. Und schon gibt es neue Mutanten, die nur darauf warten, nach Deutschland eingeschleppt zu werden. Reisende sind die idealen Überträger. Nach mehr als einem Jahr Pandemie wissen wir: Jeder einzelne hat es in der Hand, seinen Beitrag dazu zu leisten, dass die Ausbreitung des Virus eingedämmt wird. Ist lästig, aber unabdingbar. Der Verzicht auf Reisen mag schwer fallen. Aber eine Fahrt, bei der die Angst mitfährt, ist weder er- holsam noch vergnüglich. Und eine Infektion oder gar Long-Covid wären die denkbar schlechtesten Mitbringsel. So bleibt der Trost: Es gibt ein Leben nach der Pandemie. Und die Vorfreude auf neue Reisen. Mehr zum Thema der Woche auf den Seiten 1 bis 3. Kontakt: gastautor.das-parlament@bundestag.de Herr Liese, in Deutschland wird gera- de heftig über die Rechte von Genesenen und Geimpften diskutiert. Wie erleben Sie die Debatte? Das ist ja mittlerweile eine konstruktive Diskussion. Ich bin sehr erstaunt, wie sich der Wind gedreht hat. Ich hatte schon im November gefordert, dass Geimpfte ihre Rechte zurückbekommen und habe damit einen riesigen Shitstorm geerntet – bis hin zu versteckten Morddrohungen. Bundes- justizministerin Lambrecht (SPD) wollte sogar ein Gesetz vorlegen ge- gen jegliche Diskriminierung von Nicht- Geimpften. Jetzt kommt ein Gesetz, das die Grundrechte zurückgibt. Ich würde mir wünschen, dass man nicht von einem Ex- trem ins andere schwankt. Christine Viele hoffen auf das europäische Impfzertifikat, um in diesem Sommer rei- sen zu können. Wann ist es soweit? Ich würde mich freuen, wenn es im Juni klappt. Aber wir haben noch viel Arbeit vor uns, weil das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten im Rat mit ihren Positionen weit auseinander liegen. Bei den Mitgliedstaaten gibt es gleichzeitig die- sen Pawlowschen Reflex, Gesundheit als ei- gene Angelegenheit zu sehen, bei der ande- re nichts zu sagen haben. Das ist weder rechtlich noch politisch richtig – und den Bürgern nicht zu vermitteln. Da müssen sich beide Seiten bewegen. Was ist der größte Streitpunkt? Das Europäische Parlament hat apodik- tisch beschlossen, dass Mitgliedstaaten Rei- sende mit Zertifikaten nicht zu zusätzli- chen Tests oder Quarantäne verpflichten dürfen. Das halte ich für falsch. Wenn eine neue Mutante auftaucht, gegen die Impf- stoffe nicht gut helfen, dann müssen die Mitglieder die Möglichkeit haben, die Re- geln nachzuschärfen. Es darf dabei aber keine Willkür geben. In der zweiten Welle hat der ungarische Ministerpräsident Vik- tor Orban die Einreise aus Deutschland und Finnland beschränkt, nicht aber aus Tschechien, obwohl die Inzidenz dort hö- her lag. Weil Orban sich mit dem tsche- chischen Premier Andrej Babis gut versteht, blieben die Grenzen offen. So darf das nicht laufen. Viele südeuropäische Länder haben bereits signalisiert, dass sie in diesem Sommer ihre Grenzen für Touristen öff- nen wollen. Können wir auf unbeschwer- te Einreise hoffen? Die Frage ist ja, was passiert, wenn wir von unseren Reisen zurückkommen. Wenn in Spanien die Inzidenz wieder steigt, dann wird die Bundesregierung wohl wieder Test- und Quarantänepflichten für Rückrei- sende einführen. Glauben Sie, dass die EU ihr Impfver- sprechen wird einhalten können? Von den Mengen wird das Versprechen lo- cker eingehalten. Wenn die EU den Impf- stoff liefert, muss aber auch gewährleistet sein, dass er vom Bund zu den Ländern kommt und dann in die Impfzentren oder zu den Apotheken. In Nordrhein-Westfalen erfolgen die Lieferungen sehr kurzfristig. Ich habe vergangene Woche in einem Impfzentrum mehrere Leute beraten, die erst eine Stunde vorher per SMS Bescheid bekommen haben. Die Leute, die unbe- dingt geimpft werden wollen, lassen alles stehen und liegen und setzen sich ins Au- to, um geimpft zu werden. Ob das auch der Fall ist bei denen, die sich nicht so si- cher sind, ob sie sich impfen lassen wol- len, weiß ich nicht. Werden die Europäer überhaupt früh genug die zweite Impfung bekommen, um reisen zu können? Ich unterstütze mit Nachdruck den Vor- schlag Bundesgesundheitsminister von »Es ist noch viel Arbeit« GESUNDHEIT Der Europaabge- ordnete Peter Liese (EVP) hofft, dass im Juni das europäische Impfzertifikat steht - trotz der bisher verhärteten Fronten. © picture-alliance/dpa/Bernd Thissen Jens Spahn, die Impfpriorisierung bei AstraZeneca jetzt aufzuheben und jedem, der möchte, diesen Impfstoff zur Verfügung zu stellen. Die Zulassung von AstraZeneca erlaubt es, schon nach vier Wochen die zweite Impfung zu bekommen. Dies wäre ein Angebot für jeden, der die Möglichkeit nutzen will, schon vor den Sommerferien das Impfzertifikat zu bekommen. Ich habe mich selbst am vergangenen Montag als Arzt, der in einem Impfzentrum zeitweilig mithilft, mit AstraZenca impfen lassen und bin davon überzeugt, dass die Vorteile des Impfstoffs eindeutig gegenüber den Nach- teilen überwiegen. Aber bei vielen Menschen wird der zweite Impftermin mitten in den Sommer fallen. Nach unserer Vorstellung wird das Zertifi- kat auch eine einmalige Impfung berück- sichtigen. Es kann auch einen negativen Test zeigen – und jemand, der einmal geimpft ist und einen negativen Test hat, stellt ein sehr geringes Risiko für seine Mit- menschen dar. PARLAMENTARISCHES PROFIL Die Kommission setzt für das kom- mende Jahr bei ihrer Impfstoffbestellung auf die neuartigen mRNA-Impfstoffe. Zu Recht? Der mRNA-Technologie gehört die Zu- kunft. Das deutsche Biotechunternehmen Biontech, mit dem die EU-Kommission ei- nen Anschlussvertrag eingegangen ist, hat sich als zuverlässiges Unternehmen erwie- sen. Die Wirksamkeit des Impfstoffes ist hoch, die Nebenwirkungen sind niedrig. Das Vakzin kann außerdem auch auf Muta- tionen angepasst werden. Was nicht bedeu- tet, dass die Impfstoffe von Johnson&John- son und AstraZeneca keine Rolle spielen von John- werden. Die Einmaldosis son&Johnson ist ein Riesenvorteil für Leu- te, bei denen man nicht weiß, ob sie wie- der kommen. Welche Lehren zieht die EU aus der Pandemie? Wir brauchen ein Instrument auf europäi- scher Ebene, um schneller und unkompli- zierter zu reagieren. Die Amerikaner sind schneller beim Impfen, weil sie schneller und mehr investiert haben. George W. Bush hat schon 2006 die Behörde Bar- da installiert als Teil des militärischen Komplexes. Wir werden in der EU das Mili- tär nie so einbeziehen können. Aber in ei- ner solchen Krise sollte man durchaus qua- si-militärische Strukturen haben. Damit nicht drei Monate verhandelt wird, son- dern eine kleine Gruppe von Experten ent- scheidet, worin wir investieren. Streit gab es auch über die Exportver- bote der USA und Großbritanniens. Ich finde es einen Skandal, dass man dem britischen Premier Boris Johnson sein Ex- portverhalten durchgehen ließ. Im Dezem- ber und Januar hätte die EU-Kommission schon schauen müssen, wo die Dosen sind, die in die EU hätten geliefert werden sollen. Auch haben alle klaglos akzeptiert, dass der damalige US-Präsident Donald Trump ein Exportverbot eingeführt hat. Künftig brauchen wir ein schnelleres Moni- toring über Exporte und Importe. Was folgt aus der Pandemie für den Katastrophenschutz? Wir haben Ende April im Europäischen Parlament eine neue Version des Katastro- phenschutzinstruments beschlossen und die Mittel auf drei Milliarden Euro aufge- stockt. Davor hatte ich ein Schlüsselerleb- nis mit einer deutschen Landesministerin, die mir sagte, die EU dürfte nicht so stark in die Kompetenz der Länder eingreifen, weil der Föderalismus wunderbar funktio- niere. Das stimmt nicht. Der Föderalismus hat sich nicht bewährt. Auch in Zukunft wird die Kommandostruktur vor Ort blei- ben, die Deutschen sollen nicht gegängelt werden. Aber die EU-Kommission wird ei- gene Kapazitäten aufbauen etwa für Lösch- flugzeuge. Das ist leider notwendig – wir haben früher schon erlebt, dass bei Wald- bränden in Portugal die Russen schneller waren als andere Europäer. Das kann nicht sein. Das Gespräch führte Silke Wettach. Sie ist Korrespondentin der „Wirtschaftswoche“ in Brüssel. T Peter Liese ist seit 1994 Europaabgeordneter der CDU für Nordrhein-Westfalen in der Europäischen Volkspartei. Dort ist der studierte Mediziner Sprecher der EVP im Ausschuss für Umweltfragen, Volksgesundheit und Lebensmittelsicherheit. 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Die Insulanerin: Kerstin Kassner A ls sie von den leeren Straßen und Stränden auf ihrer Heimatinsel Rügen erzählt, wird Kerstin Kassners Stim- me leiser. „Die Lage ist recht gespenstisch“, sagt die Bundestagsabgeordnete am Telefon. „Die Rüganerin- nen und Rüganer sind zwar manchmal von den Gästen genervt, aber wirtschaftlich hängt von ihnen viel ab.“ Genauer: Über 30 Prozent des Bruttoinselprodukts speisten sich aus dem Touris- mus – Einnahmequellen, die nun seit Monaten fehlen, seit mit den Einschränkungsmaßnahmen versucht wird, der Ausbreitung des Coronavirus Herr zu werden. Kassner, 63, vertritt als Abgeordnete der Linken den Wahlkreis. Und sie geht davon aus, dass mit dem Impffortschritt ab Juni wieder Gäste auf die Insel kommen können. „Das ist nicht zu langsam“, sagt sie. „Gesundheit geht vor, wir brauchen Augen- maß.“ Tourismus kennt sie, von der Pike auf: Nach dem Abi er- lernte sie den Beruf der Kellnerin, leitete dann ein Restaurant und absolvierte zeitgleich ein Fernstudium in Leipzig zur Diplom- Ökonomin des Hotel- und Gaststättenwesens; im Bundestag ist sie Obfrau ihrer Fraktion im Ausschuss für Tourismus und im Peti- tionsausschuss. Dabei steht sie nicht hinter jeder Regelung im Pandemiemanagement: Die bundesweiten Ausgangssperren hält sie für „total überzogen, ich bin dafür, nur das zu machen, das notwendig ist“. Mit 14 Jahren trat die Insulanerin der Freien Deutschen Jugend (FDJ) bei, mit 18 der SED. „Meine Eltern und Großeltern waren politisch sehr interessiert“, sagt sie. „Mein Opa erzählte mir oft, wie schlimm für ihn der Zweite Weltkrieg gewesen war.“ In vielen Köpfen sei damals der Gedanke verankert gewesen, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe. „Mein Vater, ein Offizier, war der vollsten Überzeugung, dass die DDR-Streit- kräfte nie eine Angriffsarmee sein würden.“ Und was ist mit der Zerschlagung des Prager Frühlings 1968? „Daran beteiligten sich keine Truppen der DDR.“ Aber die SED hatte doch das Eindringen sowjetischer Soldaten begrüßt? „Da hat man sich sehr zurückge- ..................................................................................................................................................... n e s n e t s r a C / e c n a i l l a - e r u t c i p © »Wir haben schon in der Volkskammer 1990 angemerkt, dass es bei Renten und Löhnen zu Problemen kommen wird.« halten. Das glaube ich nicht.“ Damals wurde an der Grenze zur Tschechoslowakei allerdings eine Schützendivision stationiert, und die SED betrieb Radio Vltava von Dresden aus, welches die Nachbarn jenseits der Grenze auf Mittelwelle mit Propaganda beschallte. Für Kassner war 1989 mit dem Fall der Mauer vieles neu. Für die PDS zog sie 1990 in die letzte gewählte Volkskammer der DDR ein. „Das war eine völlig andere Welt für mich“ erinnert sie sich. Da- mals war Kassner 32. „Wenn ich geahnt hätte, welch ein Vollzeit- job das ist, hätte ich das gar nicht erst gemacht, ich wollte doch ursprünglich meinen Beruf in der Hotelleitung weitermachen.“ Doch in dieser Zeit der gewaltigen Umbrüche brauchte es für die Leute Ansprechpartner für die vielen Fragen. Kassner wurde Be- rufspolitikerin, saß zwischen 1990 und 2001 im Landtag von Meck- lenburg-Vorpommern. Dann wurde sie von den Insulanern direkt zur Landrätin gewählt, im Jahr 2008 mit gar 68,3 Prozent im Amt bestätigt. Sie galt als Kümmerin. „Meine Tür war immer auf, ich war regelmäßig vor Ort und stets ansprechbar“, erklärt sie ihr Er- folgsrezept. „Es waren meine glücklichsten Tage als Politikerin.“ Und im Bundestag, in den sie 2013 einzog? „Dort kann ich nicht immer vorweisen, was ich gemacht habe.“ Die Arbeit sei abstrak- ter, „ein Stück weit entfernter“. Doch ein bisschen schließt sich für Kassner auch ein Kreis. Damals, in der Volkskammer, seien vie- le Beschlüsse gefasst worden, die sich heute negativ auswirken würden, sagt sie. „Wir haben schon damals angemerkt, dass es bei den Frauenrechten, bei der Rente und den Lohnunterschieden zu Problemen kommen wird.“ Motiv genug, um in Berlin dafür zu streiten. Und um diesen Herbst noch einmal anzutreten – jetzt, wo Angela Merkel nicht mehr antritt und sie die Chance hat, den Wahlkreis direkt zu gewinnen – gegen junge Wettbewerber von CDU und SPD. „Ich setze aufs Ganze“, sagt sie, denn über die Landesliste geht sie nicht. Ein Gong ertönt im Reichstag. Die nächste namentliche Abstimmung steht an. Jan Rübel T