2 MENSCHEN UND MEINUNGEN Das Parlament - Nr. 1-2 - 04. Januar 2021 GASTKOMMENTARE DROHT EINE RENATIONALISIERUNG DER POLTIK? Akzentverschiebung Jahrzehntelang schien es eine ausgemachte PRO nationalistischer Gedanken war l i e d e M m h c A / T B D © Eckart Lohse, »Frankfurter Allgemeine Zeitung» Sache zu sein: Eine Renaissance nationaler, gar in Deutschland nicht zu befürchten. Ein paar ver- irrte Seelen mochten in dieser Kategorie noch den- ken, aber die würden niemals auch nur in die Nä- he des Bundestages gelangen, geschweige denn dort die größte Oppositionsfraktion bilden. Das ist seit drei Jahren Vergangenheit. Zwar be- steht die AfD nicht durchweg aus Nationalisten, aber gegründet wurde sie aus einer sehr kritischen Haltung zum wichtigsten Projekt der europäischen Integration: der gemeinsamen Währung. In anderen EU-Staaten gibt es schon lange Kräfte, die aus der Überhöhung der Nation politisches Ka- pital schlagen. Am deutlichsten wurde das beim Brexit Großbritanniens, aber auch in Ungarn und Polen dominieren national ausgerichtete Parteien. Selbst in Frankreich ist nicht ausgemacht, ob sich Präsident Macrons proeuropäischer Kurs dauer- haft gegen die nationalistische Rechte behauptet. Bei aller proeuropäischen Gesinnung der klaren Mehrheit der Parteien in Deutschland verschieben sich doch die Akzente. Der dominante Kurs Berlins in der Eurokrise und der Flüchtlingskrise, ebenso die vorübergehende Abschottung in der Pandemie, wurden von anderen EU-Staaten durchaus als sehr selbstbewusstes Vorgehen der größten Nation in der EU wahrgenommen. Das Eintreten für eine europäische Politik wird von der Bundesregierung schon lange nicht mehr in erster Linie mit dem Erfordernis der Integration Europas nach innen begründet. Vielmehr damit, dass man sich gegen andere nach Dominanz stre- bende Nationen, vor allem China und Amerika, nur gemeinsam wehren könne. Europa als Nation im Wettbewerb mit anderen Nationen. finden: Großbritannien verabschiedet sich aus der EU; diese scheitert seit Jahren an einer ihrer zentralen Herausforderungen, der Flüchtlingspolitik. China umarmt die Welt, um sie zu erobern. Frankreichs Präsident Macron er- klärt zwischendurch mal eben die Nato für hirntot. Die Uno wirkt in ihrer Schwerfälligkeit schon län- ger dysfunktional. Die „America first“-Schreie von der anderen Seite des Atlantiks sind noch gut im Ohr und Russland macht ohnehin seins. Der kurzfristige eigene Vorteil lässt sich nun mal leichter vermarkten. Er drängt sich ungeduldig vor das Bemühen um Kompromisse und um mittel- und langfristige Ziele, die allen nützen und nicht nur einem. Aber der Versuch, sich über den Egotrip Grenzziehung von der Welt abzukapseln, ist eine theatralische Scheinlösung, die mehr Probleme verursacht als löst. Einzelne Gruppen mögen profi- tieren, wenn Staaten ihre Ellbogen ausfahren und jeder alleine vor sich hin wurstelt. In der Summe aber ist dieser Weg der ineffizientere und auch der kostspieligere. Die zentralen Herausforderungen der Zeit lassen sich nur gemeinsam lösen. Das gilt fürs Klima, das sich nicht um Grenzen schert, ge- nauso wie für die Lösung von Konflikten und Krie- gen, für die es häufig auch globale Ursachen gibt. Gerade zeigt die Corona-Krise, wie viel besser man als Team vorankommt. Die EU hält, trotz Bre- xit und einigem anderen Ärger, bemerkenswert zu- sammen. Die USA will dem Klimaschutzabkom- men wieder beitreten. Die Nato diskutiert über Re- formen. Es gibt also Gründe für Zuversicht. Die braucht Multilateralismus genauso wie Geduld und die Entschlossenheit, nicht aufzugeben, wenn es Hindernisse oder Rückschritte gibt. Mehr zum Thema der Woche auf den Seiten 1 bis 11. Kontakt: gastautor.das-parlament@bundestag.de Grund zu Zuversicht CONTRA Für Pessimismus lassen sich viele Gründe t a v i r P © Daniela Vates, Redaktionsnetzwerk Deutschland Herausgeber Deutscher Bundestag Platz der Republik 1, 11011 Berlin Fotos Stephan Roters Mit der ständigen Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte ISSN 0479-611 x (verantwortlich: Bundeszentrale für politische Bildung) Anschrift der Redaktion (außer Beilage) Platz der Republik 1, 11011 Berlin Telefon (0 30) 2 27-3 05 15 Telefax (0 30) 2 27-3 65 24 Internet: http://www.das-parlament.de E-Mail: redaktion.das-parlament@ bundestag.de Chefredakteur Jörg Biallas (jbi) V.i.S.d.P. 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(IVW) Für die Herstellung der Wochenzeitung „Das Parlament“ wird ausschließlich Recycling-Papier verwendet. »Nicht die Wurzeln kappen« WOLFGANG SCHÄUBLE Der Bundestagspräsident über Werte, Identität und einen vernünftigen Umgang mit nationalen Gefühlen schwerer Herr Präsident, den Deutschen wird gern attestiert, sich beim Thema Nation schwer zu tun, als Folge der nationalso- zialistischen Verbrechen. Zu Recht? Dass das Thema Nation in der nationalso- zialistischen Zeit grauenvoll missbraucht wurde, ist jedermann bekannt. Insofern ist nachvollziehbar, dass die Deutschen sich damit tun, auch wenn man manchmal das Gefühl hat, dass nicht mehr alle so gern daran erinnert werden wollen, in welchen Abgrund Deutsche sich selbst und die Menschheit geführt haben. Aber das bleibt immer ein Teil unserer Ge- schichte und der Umgang damit Teil unse- rer nationalen Identität. Davon unbenom- men ist für jede freiheitliche Organisation des Zusammenlebens – zumal unter den Bedingungen der Moderne – wichtig, dass es etwas gibt, das den Menschen eine ge- wisse Zugehörigkeit vermittelt. Zum Beispiel Nation? Was immer die Nation im Einzelnen ist: In der Regel, und das weit über Europa hi- naus, bildet sich in ihr staatliche Organisa- tion – insbesondere dann, wenn diese auf einer freiheitlichen Grundlage erfolgt. Zur freiheitlichen Staatsorganisation gehört zwingend, dass die Bürger Mehrheitsent- scheidungen akzeptieren. Das macht das Zugehörigkeitsbewusstsein der Menschen so wichtig für die Demokratie. Deshalb müssen wir mit dem Begriff Nation und al- lem, was sich damit verbindet, verantwor- tungsvoll umgehen. Nationale Gefühle zu übertreiben, das wissen wir aus unserer Ge- schichte auch schon vor 1933, hat verhee- rende Folgen, sie einfach wegzuschieben, wäre aber auch ganz falsch – dann überlas- sen wir sie den Gegnern der freiheitlichen Demokratie. Während der deutschen Teilung wur- de im Westen zwar staatlicherseits die Einheit der Nation betont, das Gros der Bevölkerung – zumal die Jüngeren – aber orientierte sich stark nach Westen. Das stimmt. Wenn man nicht persönliche Beziehungen hatte oder im Zonenrandge- biet lebte, waren Paris, Italien oder die USA viel interessanter. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Ich habe damals zu denen gehört, die an der Einheit der Nation fest- hielten – da galt man schon fast als kalter Krieger. Und es gab in Deutschland – an- ders als im geteilten Korea – immer viele gesellschaftliche Kontakte: durch die vielen persönlichen Beziehungen, durch die evan- gelische Kirche, und auch dadurch, dass die Menschen in der DDR Westfernsehen geschaut haben. Ein Drittel der Bevölke- rung war in den letzten Jahren vor dem Mauerfall jährlich für eine Woche im Wes- ten; wir hatten dazu den Besucherverkehr zwischen der Bundesrepublik und der DDR stark ausgeweitet. Bei der Friedlichen Revolution dauerte es dann nur ein paar Wochen, bis aus dem Ruf „Wir sind das Volk“ der Ruf „Wir sind ein Volk“ wurde. Dieser Ruf war nicht nur der Anzie- hungskraft der D-Mark und der Verlo- ckungen des Westfernsehens geschuldet? Die Debatte, ob damals nur der Konsum lockte, ödet mich manchmal etwas an: Es war nicht nur der Konsum! Die Reisefrei- heit war mindestens so entscheidend, überhaupt der Wunsch, frei zu leben. Dass der Beitritt der DDR zum Grundgesetz so schnell ging, hat ausschließlich die Mehr- heit der Menschen in der DDR bestimmt. Die wollten so leben, wie sie es mit der Bundesrepublik verbanden. Sie hatten ja eine eigene Vorstellung davon, wie es in Westdeutschland sei, und die Mehrheit fühlte sich davon ausgesprochen angezo- gen. Und sie waren dann eben Deutsche in Deutschland. Denn es war doch mehr an Einheit geblieben. Das zeigt: Nation ist viel mehr als das, was der Be- Verfassungspatriotis- griff mus meint.... der ...also Identifikation mit Werten, Verfahren, In- Verfas- stitutionen sung... ... alles wahr, aber man er- reicht die Menschen eben nicht allein mit der Ratio – die Emotionen gehören dazu. Ein vernünftiger Um- gang damit, was Nation ist, kann die stärksten Kräfte im Menschen ansprechen, zum Beispiel Solidarität. Das ist doch gut. Für mich stammt die schönste Definition von Ri- chard Schröder, dem SPD-Fraktionsvorsit- zenden in der frei gewählten DDR-Volks- kammer. Der sagte: „Deutschland ist nichts Besonderes, aber etwas Bestimmtes“ – und jeder braucht etwas Bestimmtes. Haben Friedliche Revolution und Ein- heit auch zu einer Renaissance des deut- schen Nationalgefühls insgesamt geführt, das sich etwa beim „Sommermärchen“ während der Fußball-WM in Deutsch- land 2006 zeigte? Das gab es schon vorher. Eine Zeit lang war es verpönt, Flagge zu zeigen. Aber ich kann mich erinnern, wie Boris Becker in den 1980er Jahren, deutlich vor der Wiederver- einigung, nach einem dramatischen Davis- Cup-Spiel gegen John McEnroe mit der schwarz-rot-goldenen Fahne herumlief. In- sofern hatte das einen Vorlauf; es war schon länger nicht mehr völlig verpönt. Beim sogenannten Sommermärchen hat »Ein Patriot darf die Menschen- würde nicht mit Füßen treten.« das dann einen Höhepunkt gefunden. Wa- rum auch sollen nicht alle an ihre Autos ei- ne schwarz-rot-goldene Fahne hängen, wenn es ihnen Spaß macht? Das war kein überzogener Nationalismus, eher eine Mo- de. Aber noch viel schöner an dem Som- mermärchen war ja die Tatsache, dass man in diesem Deutschland fröhlich sein kann. Selbst als die deutsche Mannschaft ausge- schieden war, hat dies der Stimmung kei- nen Abbruch getan. Das ist eigentlich fast ein Symbol für einen ver- nünftigen Umgang mit der Nation: Die Menschen ha- ben sich einfach weiter ge- freut und mit Gästen aus der ganzen Welt gefeiert. Und wenn die Mannschaft das Spiel um den dritten Platz verloren hätte, wäre sie am Brandenburger Tor genauso gefeiert worden. Das war eine Phase, in der wir entspannten, aber vernünftigen Umgang mit der Nation hatten: ge- mäßigt und unverkrampft. Das war nicht schlecht, und das würde ich mir auch für die Zukunft wünschen. einen Gibt das „Wir-Gefühl“ den Menschen Halt? Ein Stück weit ja. Nicht im Überschwang, da steckt immer eine Gefahr drin. Aber ein Zugehörigkeitsgefühl kann helfen, vor al- lem eine gemeinsame Aufgabe. Denken Sie an die Anfangsphase der Flüchtlingskrise, an die Bilder vom Münchner Hauptbahn- hof, dieses „Wir helfen denen, so gut wir können; das kriegen wir gemeinsam hin“. Wir dürfen dieses emotionale Bindemittel nicht den Gegnern der Demokratie über- lassen. Sie haben in diesem Zusammenhang von einer identitätsstiftenden Funktion der Nation gesprochen... Ja. Sobald Sie anfangen, dieses „Wir“ ge- nauer zu definieren, kommen Sie ins Un- terholz: Warum feuern wir beim Länder- spiel gegen Frankreich die eigene Mann- © Deutscher Bundestag/Achim Melde schaft an? Nicht wegen der Verfassung; die Grundwerte hat Frankreich auch, und trotzdem ist man für die eigene Mann- schaft – einfach nur, weil es „unsere“ ist. Ist dieses „Wir“ die historisch ge- gleicher wachsene Gemeinschaft mit Sprache, Kultur, Geschichte? Dieses „Wir“ will ich gar nicht so genau de- finieren, das hätte immer etwas Abschlie- ßendes an sich. Wir sind aber eine offene Gesellschaft. Es gehören nicht nur diejenigen dazu, deren Urgroßeltern schon hier geboren sind. Die Mi- gration, die Mobilität hat sich unheimlich beschleu- nigt. Am Ende des Zweiten Weltkriegs sind mindestens 15 Millionen Menschen von Ost nach West verscho- ben worden. Das hat da- mals auch „gerumpelt“; so angesehen waren die deut- schen Flüchtlinge in den ersten Jahren in ihrer neu- en Heimat nicht. Aber wir haben es ver- kraftet. Und jetzt müssen wir die viel stär- keren globalen Wanderungsbewegungen auch verkraften. Das ist eine der großen Herausforderungen der freiheitlichen Ge- sellschaft. Wenn wir allerdings zurückfal- len in den Anspruch „Me first“, wird die Welt nicht besser, sondern schwieriger. Wir leben in einer offenen, pluralen Gesellschaft, in der jeder Vierte einen Migrationshintergrund hat. Neben der „Kulturnation“ gibt es auch das Modell der „Staatsnation“, deren Bürger auf der Grundlage bestimmter Werte, Rechte und Pflichten zusammenfinden. Ist das ein Gegensatz? Nein, das ergänzt sich. Denken Sie an die Aufnahme der Hugenotten in Preußen im 17. Jahrhundert: Das waren nicht Bürger zweiter Klasse. Über das Abstammungs- und das Territorialprinzip beim Staatsbür- gerschaftsrecht kann man trefflich streiten; diese Debatte habe ich auch eine Zeit lang aushalten müssen, aber heute sind wir da- rüber hinweg. Man kann seine Staatsbür- gerschaft wechseln, und die Staatsbürger- schaft muss man in ihrer Bedeutung nicht überziehen. Aber ohne eine gewisse Zuord- nung, welcher Staat für wen mit welchen Rechten und Pflichten zuständig ist, geht es nicht. Teilhabe braucht Teilnahme, also Zugehörigkeit. Um dabei auf das Stichwort Verfas- sungspatriotismus zurückzukommen: Stiftet nicht auch das Zusammenfinden zu bestimmten Werten Identität? Das ist kein Entweder-oder, das überlagert sich gegenseitig. Werte stiften natürlich Identität und Zugehörigkeit. Die Werte des Grundgesetzes, insbesondere die Unantast- barkeit der Menschenwürde, sind doch et- was Tolles. Und für Franzosen sind natür- lich die Werte der Revolution, also Liberté, Égalité, Fraternité, von ganz entscheiden- der Bedeutung. Ich habe nichts gegen Ver- fassungspatriotismus, im Gegenteil: Ein vernünftiger Deutscher, dem sein Land nicht völlig egal ist, ein Patriot, der darf die Menschenwürde nicht mit Füßen treten. Sonst ist er kein guter Deutscher. Sie sind ein ausgewiesener Europäer. Ihre Generation und die vorherige hat im Aufbau eines gemeinsamen Europa ei- ne identitätsstiftende Aufgabe gefunden. Geht dieses Identitätsstiftende, geht die europäische Begeisterung verloren? Ich hoffe nicht, aber die Frage ist nicht ent- schieden. Natürlich ist die europäische Identität noch eine zarte Pflanze. Sie war wie der Verfassungspatriotismus am An- fang eher eine Kopfgeburt, weil man nicht noch einmal Krieg wollte; dann besann man sich: Europa war doch immer schon mehr. Statt „Wir-Gefühl“ kann man auch pathetischer von „Schicksalsgemeinschaft“ sprechen. Die Nation ist eine Schicksalsge- meinschaft, und Europa ist das im 21. Jahr- hundert auch. Aber eben noch bei vielen eher im Kopf. Deshalb brauchen wir mehr Identitätsstiftung. Was könnte dazu beitragen? Früher hat man Identität gewonnen über Mythen und große Erzählungen, über ge- meinsame Erfolge oder Niederlagen. Für Europa wird das schwierig; wir wollen ja keine europäischen Kriege führen. Was also stiftet Identität? Da Personalentscheidun- gen bei vielen Menschen oft sehr viel mehr Interesse wecken als Wahlen von irgend- welchen Listen, habe ich vorgeschlagen, dass wir den Präsidenten der Europäischen Kommission direkt durch das Volk wählen sollten. Das würde beim ersten Mal sicher auch „rumpeln“, nicht zuletzt wegen der Sprachenfrage – aber wäre erst einmal ein Präsident gewählt, wäre das ein identitäts- stiftendes Element, über das man streiten kann. So etwas braucht Europa noch mehr. Europa ist aber kein Nationalstaat oder könnte ihn ersetzen? Ich bin gegen den Begriff „Vereinigte Staa- ten von Europa“, weil er bei den Menschen Assoziationen von den Vereinigten Staaten von Amerika weckt, also von einem größe- ren Nationalstaat. Ich glaube, dass der Na- tionalstaat als Organisationsprinzip – im Sinne des vor 150 Jahren von Bismarck ge- gründeten deutschen Nationalstaates – in der Endphase seiner geschichtlichen Be- deutung ist. Er bleibt wichtig, aber wir wer- den Souveränität als die Allzuständigkeit für die Regelung politischer Sachverhalte im 21. Jahrhundert vermutlich nicht weiter allein auf nationaler Ebene leisten können. Nicht in der globalisierten Welt. Die Zu- ständigkeiten werden sich auf verschiedene Ebenen verteilen. Aber Zugehörigkeit und emotionale Bindung wird man auch in der Zukunft brauchen. Ich würde einiges, was wir heute noch national regeln, an Europa abgeben, aber dabei darf dann nicht die Nationalzu- gehörigkeit verloren gehen. Der richtige Umgang damit – das ist die Aufgabe. Gera- de in Zeiten der Globalisie- rung dürfen wir nicht unse- re Wurzeln kappen. Sonst werden wir anfälliger für Populisten. Wenn wir glo- bale Herausforderungen annehmen wollen, müssen die Menschen auch das Ge- fühl haben: Ja, da gehören sie dazu, da sind sie dabei. Das Gespräch führten Alexander Heinrich und Helmut Stoltenberg. T Wolfgang Schäuble (78) ist der dienst- älteste Abgeordnete der deutschen Parlamentsgeschichte: Seit 1972 gehört er dem Bundestag an, dessen Präsident er seit 2017 ist. Von 1984 bis 1991 erst Kanzleramts- und dann Bundesinnenminister, war er danach bis zum Jahr 2000 Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion sowie von 1998 bis 2000 CDU-Parteichef. 2005 bis 2009 erneut Bundesinnenminister, leitete er von 2009 bis 2017 das Finanzressort. Weiterführende Links zu den Themen dieser Seite finden Sie in unserem E-Paper »Emotionale Bindung und Zugehörigkeit wird man auch in der Zukunft brauchen.«