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RATIO UND EMOTIONEN Bundestagspräsident Schäuble über den Umgang mit dem Thema Nation SEITE 2 EINIGKEIT UND TEILUNG Der Kontrast der deutschen Einheiten von 1871 und 1990 SEITE 3 N ation Einigkeitund Rechtund Freiheit S o n d erth e m a: undihre D eutschen Die Berlin, 04. Januar 2021 www.das-parlament.de 71. Jahrgang | Nr. 1-2 | Preis 1 € | A 5544 NATION Das Modell einer radikalen Vereinfachung entwickelte große Sprengkraft Eintracht in Grenzen A m Abend der Bundestags- KOPF DER WOCHE Umstrittener Gründer / e c n a i l l a s e g a m I - e g a t i r e H Otto von Bismarck Er gilt als Gründungsge- stalt des Deutschen Reiches und damit auch der modernen deutschen Nationalstaatlichkeit seit 1871. Vor 150 Jahren wurde der vormalige preußi- sche Ministerpräsi- dent erster Reichs- kanzler und blieb es bis 1890. Außenpoli- tisch setzte er auf Ausgleich in Europa, innenpolitisch auf Repressionen, etwa bei der Bekämpfung der Sozialdemokratie und im Kulturkampf ge- gen die Katholische Kirche. Nach seinem Tod 1898 häufig nationalistisch idealisiert, wich dieses Bild nach dem Zweiten Weltkrieg einer kritischeren Bewertung: Seither gilt Bismarck nicht mehr nur als geschickter Architekt deut- scher Einheit, sondern auch als Wegbereiter eines kaiserlichen Obrigkeitsstaates, der viel von Militär und Adel hielt und wenig von de- mokratischer Entscheidungsfindung mit einem starken Parlament im Zentrum. ahe T e r u t c i p © ZAHL DER WOCHE 41 Millionen lebten 1871 im Deutschen Einwohner Reich und rund 63,2 Millionen 1925 in der Weimarer Republik. 2020 lebten nach An- gaben Statistischen Bundesamtes 83,1 Millionen Menschen in Deutschland. des ZITAT DER WOCHE »Ich gehöre nicht zu Bismarcks Bewunderern.« Konrad Adenauer, erster Kanzler der Bun- desrepublik, sah in Bismarck den Hauptverant- wortlichen dafür, „dass die Demokratie sich im deutschen Kaiserreich nicht entfalten konnte“. IN DIESER WOCHE THEMA Nationalstaat mit Tücken Ein Erfolgsmodell Seite 4 Bunte Republik 120.000 Einbürgerungen pro Jahr Seite 6 In Deutschland gibt es Über die Wiederkehr eines Heimat umstrittenen Begriffs Seite 8 Gedenken mit deutscher Geschichte Der schwierige Umgang Seite 9 Europäische Union dort die Gemeinschaft Hier die Nationen - Seite 11 MIT DER BEILAGE wahl 2013 spielte sich im Konrad-Adenauer-Haus ei- ne bemerkenswerte Szene ab: Bundeskanzlerin Ange- la Merkel (CDU) nimmt bei den Feiern einem reichlich verdutzten Parteifreund Hermann Gröhe ein Deutsch- landfähnchen aus der Hand und legt es zur Seite. Ihre Mimik verrät: Ich will das nicht. Dies ist umso erstaunlicher, da das Be- kenntnis zur Nation traditionell zum Mar- kenkern der Union gehört. Peter Tauber er- klärte in seiner Zeit als CDU-Generalsekre- tär das Verhalten der Kanzlerin mit ihrer DDR-Erfahrung, sie wolle das nationale Symbol nicht von einer Partei okkupiert wissen. In gewisser Weise erinnert die Sze- ne an ein Zitat von Bundespräsident Gus- tav Heinemann (SPD): „Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau; fer- tig!“, hatte Heinemann auf die Frage nach der Liebe zu seinem Land geantwortet. Zugleich werden nicht nur auf der äußeren politischen Rechten in Deutschland, aber auch in vielen anderen europäischen Län- dern, offen nationalistische Positionen ver- treten. Auch auf der politischen Linken tritt bisweilen die Suche nach einem zeit- gemäßen, aufgeklärten Patriotismus an die Stelle einer grundsätzlichen Ablehnung des Nationalen. Die Geschichte deutscher Nationsvorstellun- gen ist offensichtlich kompliziert. Das ist ei- nigermaßen paradox. Denn die Idee, die Welt nach Nationen zu ordnen, ist ein Ange- bot, sie radikal zu vereinfachen. Aus der Fül- le von dem, was zu individuellen Identitäten beiträgt, greift der Nationalismus wenige As- pekte heraus, die er zu den wichtigsten er- klärt: gemeinsame (imaginierte) Abstam- mung, Sprache und „Kultur“. Und aus der Fülle von Gründen, die es für den Verlauf politischer Grenzen geben kann, erklärt er nur den Zustand für legitim, in dem sich die Grenzen der Siedlungsgebiete von Nationen mit denen von Staaten decken. Diese Annahme war in Mitteleuropa, wo imaginierte Abstammung, dominante Spra- chen, durch protestantische und katholi- sche Traditionen geprägte Kulturen und die Grenzen von Herrschaftsgebieten nicht zu- sammenfielen, von großer Sprengkraft. Und sie löste sehr unterschiedliche Reaktionen aus. Als Mitteleuropa nach den langen Krie- gen zwischen 1793 und 1815 neu geordnet wurde, schien es aus der Perspektive der größeren Reiche selbstverständlich, dass Herrschaftsgebiete mehrere Nationen um- fassten und dass die deutsche Nation auf mehrere Territorien verteilt sein würde. Die Regierungen kleinerer deutscher Staa- ten sahen in der Nationszugehörigkeit ein wichtiges Element der Herrschaftsstabili- sierung und bemühten sich, das Bewusst- sein der Zugehörigkeit etwa zu einer baye- rischen, badischen oder württembergi- schen Nation innerhalb der deutschen Na- tion zu verstärken. Aus der Sicht von Teilen der politischen Opposition belegten die Erfahrungen der amerikanischen und französischen Revolu- tionen dagegen, dass die Nation als Ge- meinschaft gleichberechtigter Bürger nicht nur das einzig legitime, sondern das in der Konkurrenz der Herrschaftssysteme erfolg- reichste Modell war. Die Geschichte deutscher Nationsvorstellungen ist kompliziert. Die Idee, was die Nation ausmacht, hat sich mehrfach verändert. © Stephan Roters gezogenen sprachlichen oder historischen Argumente. Und mit Blick auf die Grenze zu Österreich verband sich die Reichsgrün- dung eher mit einer Absage an Sprache und Geschichte als entscheidende Kriterien für die Bestimmung von Grenzen: Zumindest im juristischen Sinne waren ab 1913 nur noch Reichsangehörige „Deutsche“. Nach innen mobilisierte auch das Kaiser- reich das ganze Repertoire der Nationsbil- dung. Zugleich verschob sich allerdings die Vorstellung davon, was die Zugehörigkeit zur Nation ausmachte: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfolgten Sprach- und Literaturwissenschaftler, Historiker, Ju- risten und Volkskundler die Genealogie europäischer Nationen und verloren dabei nie völlig aus dem Blick, dass deren Ge- schichte durch historische Kontingenz ge- prägt war. In der zweiten Hälfte des Jahr- hunderts wuchs das Gewicht der Stimmen, die behaupteten, Nationalität habe im Kern eine biologische Grundlage, die man etwa auf der Grundlage von Schädelfor- men oder gar direkt im Blut diagnostizie- ren könne. Diese so bestimmbaren „Völ- ker“ seien nicht Ergebnis historischer Ent- wicklungen, sondern deren Ursache. Dass Teile der politischen Eliten sich diese Per- spektive zu eigen machten, erwies sich vor allem für jüdische Deutsche als fatal. Sie sahen sich nun nicht mehr nur von tradi- tionellen antijüdischen Vorurteilen, son- dern auch von neuen antisemitischen Be- wegungen ausgegrenzt. Der Erste Weltkrieg bedeutete eine massive Beschleunigung der nationalen Integration wie der national begründeten Ausgrenzung, etwa in der „Judenzählung“ im Militär. Während die Kriegspropaganda die Loyali- tät gegenüber Volk und Nation betonte, griff der Staat immer stärker in Leben und Tod Aller ein. Und auch nach dem Krieg war die Neuordnung Europas vom Ziel der Anpas- sung von Staatsgrenzen an die Existenz von Nationen geprägt, wobei nun tschechische, dänische, polnische oder belgische Ansprü- che mehr Gehör fanden. Dem „Dritten Reich“ diente die Existenz deutscher Minderheiten in den Nachbar- staaten als Begründung der ersten Phase seiner Expansionspolitik. Zugleich radika- lisierte sich die biologistische Begründung kollektiver Identitäten in der NS-Diktatur. Nationalität wurde als Kriterium der Ein- und Ausgrenzung durch „Rasse“ abgelöst, die als fast völlig unabhängig von Sprache und Kultur gedacht war. Der Versuch, die Bevölkerung Europas durch Krieg und Mord den Rassevorstellungen des Regimes anzupassen, war eine der zentralen Ursa- chen der Menschheitsverbrechen des Na- tionalsozialismus. Diese waren wiederum der unmittelbare Grund dafür, dass die Neuordnung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur auf der Verschiebung von Grenzen, sondern auch auf der zwangsweisen Umsiedlung von Bevölke- rungen in die Grenzen ‚ihrer‘ Nationen gründete. Abkehr vom Biologismus Nach dem En- de des Zweiten Weltkriegs 1945 stellte sich mit Blick auf diese Erfahrungen die Frage, welche Bedeutung Nationalismus und spe- ziell der deutsche Nationalismus künftig haben sollten. Dabei setzte sich die An- sicht, dass Nationen eben nicht auf biolo- gischen Gemeinsamkeiten gründeten, rasch durch. Manche älteren Themen be- standen fort, etwa in der Frage, ob die Identität der beiden deutschen Staaten pri- mär in der Nation oder primär in Verfas- sungen und Gesellschaftssystemen gründe- te. Oder in der Diskussionen darüber, ob die Einwanderung nach Westdeutschland zu einer temporären Duldung von „Gastar- beitern“, einer Integration von Zuwande- rern in eine Mehrheitsgesellschaft oder in ein Bekenntnis zu einer multikulturellen, postnationalen Gesellschaft münden solle. Nach 1989 stellt sich zudem die Frage, in- wiefern die Nationen Europas nur als Teile einer europäischen Identität zu denken sind – während die europäische Integrati- on wiederum die Debatte darüber beför- dert, wie zwischen staatlichen Autonomie- ansprüchen und europäischen Strukturen zu vermitteln ist. In Zeiten, in denen Staatsgrenzen plötz- lich, dafür aber umso massiver an Bedeu- tung gewonnen haben, sind solche Fragen wieder zentral geworden. Die lange Ge- schichte des Nationalismus liefert dazu viele Einsichten. Es bleibt zu hoffen, dass sie dazu beitragen können, dass die Ant- worten auf sie klüger, differenzierter und toleranter werden. Andreas Fahrmeir T Der Autor ist Professor für Neuere Geschichte an der Goethe Universität in Frankfurt am Main. 2017 erschien sein Buch „Die Deutschen und ihre Nation: Geschichte einer Idee“. Die berühmte Fähnchen-Szene nach der Wahl 2013. © picture-alliance/Breuel-Bild Weiterführende Links zu den Themen dieser Seite finden Sie in unserem E-Paper ED I TO R IA L Dialektik des Denkmals VON ALEXANDER HEINRICH In Berlin gibt es auf Bezirksebene eine Initiati- ve, die sich für eine öffentliche Diskussion über den sogenannten Generalszug einsetzt: Stein das Anstoßes sind eine Reihe von Straßen und Plätzen, die nach preußischen Generälen und Schlachtfeldern der Befreiungskriege gegen Napoleon benannt sind, darunter zum Beispiel die Yorck- und die Gneisenaustraße und der Blücherplatz. Sollte man dieser Akteure nach mehr als 200 Jahren noch gedenken – zumal angesichts der europäischen Einigung und der Aussöhnung der ehemaligen „Erbfeinde“ Deutschland und Frankreich? Und ist solcher- art Gedenken an Kriege überhaupt noch zeit- gemäß? Seither gibt es eine kontroverse Diskussion, die wie unter einem Brennglas zeigt, wie schwierig der Umgang mit dem Thema Nati- on sein kann. Die Entstehung des deutschen Nationalstaats ist ambivalent, steckt voller Widersprüche: Für die einen führt das Geden- ken an die Befreiungskriege ins Herz der Na- tionenbildung. In ihnen kumulierte ein Natio- nen-Bewusstsein über die damaligen Gren- zen deutscher Kleinstaaterei hinweg. Erst die Niederlage Napoleons beflügelte die deut- schen Reformer, die an Bürger appellieren wollten und nicht mehr an Untertanen. Mit dem Namen Gneisenau verbindet sich zum Beispiel eine Heeresreform als Teil jener preu- ßischen Reformen, die den Grundstein für ein aufgeklärtes, Industrieland legten. Es gibt auch eine andere Lesart, die in der da- maligen Zeit Ausgangspunkte für teils fürch- terliche Fehlentwicklungen deutscher Ge- schichte sucht und findet: Eine Überbetonung des Militärischen, das anti-französische Res- sentiment, der später entstandene und preu- ßisch geprägte kaiserliche Obrigkeitsstaat, von dessen Untertanengeist – Stichwort „Kadaver- gehorsam“ – man einen Bogen bis zur natio- nalsozialistischen im 20. Jahrhundert ziehen könne. Wie die Diskussion im Berlin der Gegenwart ausgeht, bleibt vorerst offen. Nicht vorbei kommt man in ihr aber an einer Kniffligkeit, die sich als Dialektik des Denkmalsturzes be- zeichnen lässt: Man sollte von jedem Denkmal so viel übrig lassen, dass die Nachwelt erken- nen kann, warum es eines Sturzes wert gewe- sen ist. Schreckensherrschaft fortschrittliches Nachbarn Die Forderung nach deutscher nationaler Einheit warf allerdings die Frage auf, wie die Beziehung zu anderen Natio- nen in mehrheitlich deutschen Staaten sein würde. Optimisten wie die Redner auf dem Hambacher Fest von 1832 erwarteten, dass Nationen ihre Grenzen einträchtig neu be- stimmen und fortan harmonisch kooperie- ren würden. In der Revolution von 1848 wie im Rahmen der Reichsgründung ‚von oben‘ 1871 setzte sich aber die Orientierung an existierenden Staaten durch. Im Fall des Deutschen Reichs wurde sie erweitert um die 1864 von Dänemark und 1871 von Frankreich annektierten Gebiete. Allerdings waren mit Blick auf Elsass-Lothringen wirt- schaftliche und militärisch-strategische Er- wägungen letztlich wichtiger als die zur Be- gründung der deutschen Ansprüche heran- Das Parlament Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH & Co. KG 64546 Mörfelden-Walldorf 1 0 2 0 1 4 194560 401004

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