Das Parlament - Nr. 5-6 - 01. Februar 2021 IM BLICKPUNKT 9 GASTREDEN Immer wieder berichteten Zeitzeugen in der Gedenkstunde im Bundestag über ihr eigenes Er- und Überleben des Holocausts und das ih- rer Angehörigen (Auszüge): 1998: Yehuda Bauer, Leiter der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem „Der Nationalsozialismus war wohl die radikalste Revolution, die je stattgefun- den hatte – ein Auflehnen gegen das, was man bis dahin als Menschlichkeit betrachtet hatte. Der Kern der Vernich- tungsstrategie gegenüber sogenannten Andersartigen war der Holocaust, der Plan der totalen Vernichtung des jüdi- schen Volkes (...) Und das Fürchterliche an der Shoa ist eben nicht, dass die Na- zis unmenschlich waren; das Fürchterli- che ist, dass sie menschlich waren – wie Sie und ich.“ 2004: Simone Veil, französische Politikerin, ehemalige Prä- sidentin des EU-Parlaments „Als Voraussetzung für eine freie Zu- kunft braucht dieses versöhnte Europa ein dauerhaftes Fundament, das auf zwei Pfeilern beruht: Weitergabe der Er- innerung und Demokratie. Europa war es sich schuldig, ein Vorbild für Demokratie und die Achtung der Menschenrechte zu sein. Es musste die Lehren aus den tota- litären Erfahrungen seiner bleischweren Vergangenheit ziehen und allen seinen Bürgern größtmögliche Freiheit im Rah- men eines solidarischen und friedlichen Miteinanders bieten.“ 2008: Lenka Reinerová, tschechische Schriftstellerin „Ich überlebte, weil ich am Tage der Be- setzung nicht im Lande weilte. Und so begann für mich das Exil. Unter anderem saß ich in Paris ein halbes Jahr in Einzel- haft, im berüchtigten Frauengefängnis La Petite Roqette, das es zum Glück nicht mehr gibt, danach ungefähr zwei Jahre im Internierungslager für lästige Ausländerinnen RIEUCROS. Dank der Be- mühungen guter Freunde (...) bekam ich ein Visum und eine Schiffskarte nach Mexiko.“ 2010: Shimon Peres, israe- lischer Staatspräsident „Die Shoa muss dem menschlichen Ge- wissen stets als ewiges Warnzeichen vor Augen stehen; als Verpflichtung (...) zur Gleichberechtigung aller Menschen, zu Freiheit und Frieden. Die Ermordung der Juden Europas durch Nazi-Deutschland darf nicht als ein ‚schwarzes Loch‘ be- trachtet werden, als ein Todesstern, der das Licht schluckt und die Vergangenheit gemeinsam mit ver- schlingt.“ Zukunft der 2011: Zoni Weisz, Vertreter der Sinti und Roma aus den Niederlanden „Es ist menschenunwürdig, wie Sinti und Roma, insbesondere in vielen osteu- ropäischen Ländern wie zum Beispiel Rumänien und Bulgarien, behandelt werden. Der weitaus größte Teil ist chan- cenlos, hat keine Arbeit, keine Ausbil- dung und steht ohne ordentliche medizi- nische Versorgung da. (...) Wir sind doch Europäer und müssen dieselben Rechte wie jeder andere Einwohner haben.“ 2013: Inge Deutschkron, Journalistin und Autorin „Nichts konnte darüber hinwegtäu- schen, dass die Lage der Juden von Ber- lin immer kritischer wurde. (...) Um unse- re Ausgrenzung perfekt zu machen, wur- den die Telefonkabel durchschnitten, nahm man uns die Radioapparate weg. Der Gang zum Friseur wurde verboten, sowie das Waschen unserer Wäsche in einem Salon. Seife durfte uns nicht ver- kauft werden. Auch Eier und Kuchen nicht.“ 2018: Anita Lasker-Wallfisch, Cellistin, Überlebende des Mädchenorchesters Auschwitz „Muss man wirklich fragen: Warum? Es gibt weder Entschuldigungen noch Er- klärungen für das, was damals gesche- hen ist. Alles, was bleibt, ist Hoffnung, die Hoffnung, dass womöglich letzten Endes der Verstand siegt. (...) Ich hatte geschworen, nie wieder meine Füße auf deutschen Boden zu setzen. Mein Hass auf alles, was deutsch war, war grenzen- los. Wie Sie sehen, bin ich eidbrüchig ge- worden – schon vor vielen Jahren, und ich bereue es nicht. Hass ist ganz ein- fach ein Gift, und letzten Endes vergiftet man sich selbst.“ Auswahl: che T Zwei Generationen: Marina Weisband (links) und Charlotte Knobloch forderten, die Demokratie und ihre Errungenschaften entschieden gegen Hass und Ausgrenzung zu verteidigen. © picture-alliance/dpa/Michael Kappeler GEDENKSTUNDE Erinnerung an die Opfer der NS-Herrschaft und Appelle gegen die Spaltung »Passen Sie auf!« Die Zeit hat keine Macht über diese Erinnerungen. Sie hat aus meinem Ge- dächtnis all die Gräuel, die ich gesehen und auf- genommen habe, nicht verdrängt.“ Das sagte der russische Kamera- mann Alexander Woronzow noch Jahr- zehnte später über jene Tage Ende Januar 1945. Die Rote Armee hatte am 27. Januar das größte Konzentrationslager der Natio- nalsozialisten, Auschwitz-Birkenau, auf ih- rem Weg nach Westen befreit. Die Filmauf- nahmen Woronzows, im Auftrag der Roten Armee entstanden, führten der Welt ein bis dahin nicht gekanntes Menschheitsverbre- chen vor Augen: Tausende ausgemergelte Gestalten, mehr Skelette als lebendige We- sen, hatten die Nazis nach ihrem fluchtar- tigen Abzug aus dem Lager dort zurückge- lassen. Als die Soldaten die Auschwitz-La- ger erreichten, waren viele der etwa 7.500 dort verbliebenen Häftlinge in einem le- bensbedrohlichen Zustand. Aber das wah- re Ausmaß der Katastrophe war in jenen Tagen noch gar nicht absehbar: Mehr als eine Million Menschen, vor allem Juden, hatten die Nationalsozialisten allein im Vernichtungslager Auschwitz ermordet. Die Macht der Erinnerung: Dass sie stärker ist als die Zeit, wie von Woronzow be- schrieben, konnte man im Bundestag in den vergangenen Jahren oft erleben. Seit 1996 ist der 27. Januar gesetzlich veranker- ter Gedenktag, den Opfern der nationalso- Gemeinden zialistischen Gewaltherrschaft gewidmet. Jedes Jahr findet deshalb eine Gedenkstun- de statt, in der Gastredner, meist Überle- bende des Holocaust, über ihre Geschichte berichten. Und jedes Mal konnte man se- hen und hören, wie die Macht der Erinne- rungen Stimmen zum Stocken bringen. Das war auch in diesem Jahr nicht anders. Am Pult stand die 88-jährige Charlotte Knobloch. Sie hat als eine der bekanntes- ten Vertreterinnen der jüdi- schen in Deutschland (siehe Kasten) schon viele Reden gehalten. Und nun ging es um das dunkelste Kapitel ihrer ei- genen Familiengeschichte, in der sie den Tag des Ab- schieds von ihrer Großmut- ter, die ihr die Mutter er- setzte, als den „schwersten Moment meines Lebens“ bezeichnete. „Weinend klammerte ich mich an sie - an Liebe, Zärtlichkeit, Ge- borgenheit. Sie werden für lange Zeit aus meinem Leben verbannt sein.“ Sie war da- mals neun Jahre alt. Dennoch kann Knobloch, 80 Jahre nach diesem Ereignis vor dem Bundestag sagen: „Ich stehe vor Ihnen als stolze Deutsche.“ 1945 hätte sie sich das nie träumen lassen. Sie hatte den Zweiten Weltkrieg überlebt, versteckt unter falscher Identität auf einem Bauernhof in Franken. Aber sie wollte nicht zurück nach München, „ nicht zurück zu den Leuten, die uns in jeder Form ge- zeigt haben, wie sehr sie uns plötzlich hassten“, beschreibt sie die Empfindungen von einst. Letztlich entscheidet sich die Fa- milie doch gegen die zunächst so ersehnte Auswanderung - bleibt und engagiert sich. Der Weg zu diesem Stolz, er war lang und steinig. Knobloch beschreibt, wie sich die Bundesrepublik aus dem Schweigen der Nachkriegsjahre befreite. „Es wuchs die Erkenntnis, dass Auseinandersetzung und Aufarbeitung unerläss- lich sind für das Bauen der Zukunft. So konnte auf jü- discher Seite das Vertrauen wachsen - in die neue Bun- desrepublik, in der es ge- lang, auf den Trümmern der Geschichte eine tragfä- hige freiheitliche Demo- kratie zu errichten.“ All diese Errungenschaften, auf die sie so stolz ist: Sie sind in Knoblochs Augen jedoch in Gefahr. Auch in Deutschland erlebe man wieder Spaltung, Polarisierung und aggressive Er- regung. Dabei gehe es nicht nur um jüdi- sche Menschen. Wo Antisemitismus Platz habe, könne jede Form von Hass um sich greifen, „Worte sind die Vorstufen von Ta- ten“, warnte sie und appellierte eindring- lich an die Anwesenden: „Ich hatte meine Ich habe für sie ge- Heimat verloren. »Ich habe meine Heimat wiederge- wonnen. Und ich werde sie verteidigen!« Charlotte Knobloch kämpft. Ich habe sie wiedergewonnen. Und ich werde sie verteidigen!“ sagte Knobloch und fügte hinzu: „Ich bitte Sie, passen Sie auf auf unser Land!“ Vielfältiges Judentum Der Stab der Erin- nerung, den die wenigen noch lebenden Zeitzeugen nun an die nächste Generation weitergeben, er wurde am vergangenen Mittwoch symbolisch an die 33-jährige Publizistin Marina Weisband überreicht, die als zweite Gastrednerin sprach. Sie war 1994 mit ihren Eltern aus der Ukraine nach Deutschland ausgewandert - wie tau- sende sogenannte jüdische Kontingent- flüchtlinge auch. „Ich darf hier stehen als Repräsentantin der Nachgeborenen, einer > S T I C HW O RT > Charlotte Knobloch geboren 1932 in München; Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbay- ern und ehemalige Präsidentin des Zen- tralrats der Juden in Deutschland. > Marina Weisband geboren 1987 in Kiew, kam 1994 mit ihrer Familie als Kontingentflüchtling nach Deutschland. Die Publizistin war Geschäftsführerin der Piratenpartei Deutschland. ist. Generation von jungen Jüdinnen und Ju- den, die alle ganz verschieden sind“, be- tonte die ehemalige Geschäftsführerin der Piratenpartei. Sie habe mit diesem Land sehr positive Erfahrungen gemacht. „Ich hatte das Gefühl, diese Gesellschaft geht mich etwas an. Ich bin Teil von ihr.“ Aber: „Auch hier ist es für uns noch immer zu gefährlich, sichtbar zu sein.“ Sie höre oft, sagte Weisband, dass „wir einfach nur Mensch sein sollen“. Dies bedeute aber, dass Strukturen von Unterdrückung un- sichtbar gemacht werden. Jede Unterdrü- ckung wie Sexismus, Rassismus oder Anti- semitismus lebe davon, dass sie für die Nichtbetroffenen unsichtbar „Die Überzeugung, dass es Menschen gibt, die in dieser Gesellschaft mehr Platz verdie- nen als andere, ist nicht ausgestorben“, stellte sie fest. Als „Geschichte der Widersprüche“ hatte auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäu- ble die 1.700 jährige deutsch-jüdische Ge- schichte bezeichnet. Sie kenne Zeiten der Toleranz und der Ausgrenzung, Wellen der Verfolgung genauso wie Erfolge in Kunst und Kultur. „Und ein Menschheitsverbre- chen.“ Dass Juden nach Jahrzehnten der Zuwanderung wieder über Auswanderung nachdächten, „beschämt uns“. Er resümier- te: „Unsere Erinnerungskultur schützt nicht vor neuen Formen des Rassismus und Anti- semitismus, wie sie sich auf Schulhöfen, in Internetforen oder Verschwörungstheorien verbreiten.“ Claudia Heine T Die Lektion des Holocaust GEDENKTAG Vor 25 Jahren erklärte Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus Es ist vor allem die so genannte „Ruck-Re- de“, mit der der Name Roman Herzogs bis heute eng verknüpft ist. Doch von weitrei- chenderer historischer Bedeutung ist die Entscheidung des ehemaligen Bundespräsi- denten, den 27. Januar als Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus einzu- führen: Vor 25 Jahren, Anfang Januar 1996, erklärte er den Tag der Befreiung des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch Soldaten der Roten Armee zum Tag des Gedenkens an die Millionen von Menschen, die unter der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten entrechtet, verfolgt und ermordet wurden. 2005 wurde der Tag auch international zum Holocaust-Gedenktag. Symbolhaft für den Terror der Nationalso- zialisten stehe Auschwitz, die Erinnerung daran dürfe nicht enden, erklärte Herzog in seiner Proklamation. „Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedenken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken.“ Die Idee für die Einführung eines nationa- len Gedenktages am 27. Januar stammt aber nicht von Herzog selbst, der von 1994 bis 1999 deutsches Staatsoberhaupt war, sondern vom damaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis. Dieser hatte sich seit 1994 mehrfach dafür ausgesprochen, einen Ge- denktag für die Opfer des Holocaust einzu- führen. Bubis‘ Vorschlag, den 27. Januar als nationalen Gedenktag zu begehen, fand unter dem Eindruck der internationalen Gedenkfeiern anlässlich des 50. Jahrestages des Kriegsendes in Europa rasch überpar- teiliche Unterstützung. Auf Bitten des Bundestages erklärte Bun- despräsident Roman Herzog schließlich am 3. Januar 1996 den 27. Januar zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Na- tionalsozialismus“. Seither werden als Zei- chen der Erinnerung an diesen Tag die Flaggen an öffentlichen Gebäuden auf Halbmast gesetzt. In den Bundesländern erinnern die Landtage in Sondersitzungen mit Gedenkstunden an dieses dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte. In vielen Städten hat sich darüber hinaus eine eige- ne Erinnerungskultur entwickelt, die unter anderem von Kirchen, Parteien, jüdischen Gemeinden und Schulen getragen wird. Zeitzeugen berichten Im Zentrum der Feierlichkeiten steht jedoch die Gedenk- stunde im Deutschen Bundestag, die zwar nicht in jedem Jahr genau am 27. Januar, aber doch in direkter zeitlicher Nähe zu diesem Datum stattfindet. Nach einer Rede des Bundestagspräsidenten ergreifen ein oder zwei Gastredner im Plenarsaal das Wort. In der Vergangenheit gehörten zu diesen Rednern sowohl die Bundespräsi- denten Roman Herzog (1996 und 1999), Johannes Rau (2001), Horst Köhler (2009) und Joachim Gauck (2015) als auch die is- raelischen Staatspräsidenten Shimon Peres (2010) und Reuven Rivlin (2020). a p d / e c n a i l l a - e r u t c i p © Initiator des Gedenktages: Roman Herzog Anita Besonders berührend waren stets jene Re- den, in denen Zeitzeugen über ihr eigenes Er- und Überleben des Holocausts berich- teten: So erinnerte etwa Friedensnobel- preisträger Elie Wiesel im Jahr 2000 an das Schicksal der Juden, das der ermorde- ten Kinder und ihrer Mütter. Zoni Weisz rückte 2011 das Leid der Sinti und Roma, den „vergessenen Holocaust“, in den Blickpunkt. Der damals 95-jährige Daniil Granin erinnerte 2014 in einer bewegen- den Rede an sein Überleben der Blockade von Leningrad, durch die mindestens 800.000 Menschen an Hunger gestorben sind. die Auschwitz als Cellistin im Mädchen-Or- chester des Lagers überlebte, berichtete 2018 von ihrer Kindheit, den Demütigun- gen durch die Nazis und der Deportation der Eltern. Die Geschichte als Mahnung zu begreifen – bewusst hatte Roman Herzog in seiner ersten Gedenkrede am 19. Januar 1996 er- klärt, es gehe darum, „aus der Erinnerung immer wieder lebendige Zukunft“ werden zu lassen. „Wir wollen nicht unser Entset- zen konservieren. Wir wollen Lehren zie- hen, die auch künftigen Generationen Ori- entierung sind“, so der Bundespräsident. Viele hätten sich damals schuldig gemacht, aber die entscheidende Aufgabe sei es heu- Lasker-Wallfisch, te, eine Wiederholung zu verhindern. Be- sonders wichtig sei es, die jungen Men- schen zu erreichen und ihren Blick dafür zu schärfen, woran man Rassismus und To- talitarismus erkenne. Im Kampf gegen „das Grundübel des 20. Jahrhunderts“ komme es auf eine rechtzeitige „Gegenwehr“ an, sagte Herzog und forderte: „Nicht erst aktiv zu werden, wenn sich die Schlinge schon um den eigenen Hals legt. Nicht abwarten, ob die Katastrophe vielleicht ausbleibt, sondern verhindern, dass sie überhaupt ei- ne Chance bekommt, einzutreten.“ Knapp zehn Jahre nach Herzogs Proklama- tion bestimmte die Vollversammlung der Vereinten Nationen am 31. Oktober 2005 den Tag auch zum „International Day of Commemoration in Memory of the Victims of the Holocaust“. Denn dieser Tag sei „eine wichtige Mahnung“, so formulier- te es der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan, „an die universelle Lektion des Ho- locaust“. Sandra Schmid T Weiterführende Links zu den Themen dieser Seite finden Sie in unserem E-Paper