Das Parlament - Nr. 7-8 - 15. Februar 2021 DEBATTENDOKUMENTATION 5 thoden und eine Infrastruktur, mit der wir die Pandemie besser aus- balancieren mit dem Gesundheits- schutz, der notwendig ist, aber auch mit der Freiheit, die die Menschen auch leben müssen. Über Monate haben wir uns bei den Inzidenzen an der Zahl 50 orientiert, obwohl sie eine politi- sche Setzung ist, obwohl Oberbür- germeister, auch CDU Oberbür- germeister, sagen, selbstverständ- lich können sie auch mehr als 50 Infektionen pro 100 000 Einwoh- ner in der Woche inzwischen nachverfolgen. Wir haben uns auf diese Zahl von 50 in Deutschland fixiert. Und nun wird sie in der zentralen Bedeutung ersetzt durch die 35, und wir wissen, dass im Kanzleramt auch schon über die 10 als Zahl gesprochen worden ist. Dadurch, dass die wesentliche Entscheidungsgrundlage ausge- tauscht wird, ohne Vorbereitung, ohne klare Argumentation, gefähr- den Sie die Akzeptanz der Maß- nahmen in der Bevölkerung insge- samt. Wo ist die Berechenbarkeit? Im Infektionsschutzgesetz übrigens wird ausdrücklich auch ein regio- naler Zugang angemahnt; im von der Großen Koalition beschlosse- nen Infektionsschutzgesetz wird angemahnt, regional zu differen- Ralph Brinkhaus, CDU: Wir hangeln uns seit November von einem Gipfel zum nächsten, ohne eine klare Perspektive. zieren. Tatsächlich haben wir heu- te bereits eine Vielzahl von Land- kreisen mit Inzidenzen von unter 50, gar unter 35. Und trotzdem gelten dort die gleichen Beschrän- kungen wie in den Hotspots mit Inzidenzen von über 200. Da ist bereits der Zweifel an der Verhält- nismäßigkeit an- gelegt, Frau Bun- deskanzlerin. Es ist richtig, Ki- tas und Schulen zu öffnen. Aber auch in Ihrer Re- gierungserklärung hier haben Sie ge- rade deutlich ge- macht, mit welch hinhaltendem Wi- derstand aus dem Kanzleramt dies erfolgt. Herr Kretschmann hat das in der Runde dem Vernehmen nach gestern auch angesprochen. Warum stellt Frau Karliczek, fi- nanziert mit öffentlichen Förder- geldern, in dieser Woche eine wis- senschaftliche Studie zu der Frage vor, unter welchen Bedingungen, mit welchem Paket an Maßnah- men in der Pandemie die Förde- rung von Kindern und Jugendli- chen in Kitas und Schulen mög- lich ist, wenn die eigenen Empfeh- lungen des Bundesbildungsminis- teriums im Bundeskanzleramt nicht ernst genommen werden? Sie öffnen die Friseure, obwohl das eine sogenannte körpernahe Dienstleistung ist und man sich nun wirklich sehr nahe kommt beim Haarschnitt. Das ermögli- chen Sie, weil Sie sagen: Nun gut, da gibt es Hygienekonzepte, da wird die Maske ge- tragen, und deshalb ist es verantwortbar, den Friseur zu öff- nen. Das ist richtig. Aber gibt es solche Hygienekonzepte nur bei den Friseu- ren, nicht in gleicher in Weise im Sport, Fitnessstudios, die auch gesundheitsprä- ventive Wirkung haben? Gibt es diese Gesundheitskonzepte nicht auch im Bereich der Kosmetik? Sind sie ausgeschlossen beim Handel? Gar in der Gastronomie sind solche Hygienekonzepte denkbar. Deshalb trägt die Ent- scheidung für die Friseure bereits den Makel einer nichtsystemati- schen Ausnahme. Was wir brau- chen, ist eine Systematik klarer Wenn dann Regeln, weil nur das die Berechenbarkeit für die Men- schen und übrigens auch für die Behörden bringt. Diese Systematik in der Form ei- Diese Pandemie wird nicht die letzte Katastrophe sein die Maßnahmen haben gewirkt. Und wir liegen übrigens auch im europäischen Vergleich mit un- seren Neuinfektionen sehr, sehr gut, besser als viele, viele andere Länder, besser als viele Nachbar- länder. Wir liegen auch insgesamt noch sehr gut bei der Anzahl der Infizierten auf 100 000 Einwohner und auch, ja, bei der Anzahl der Toten auf 100 000 Einwohner. Was schlecht ist das gehört zur Wahrheit leider auch dazu, ist die Anzahl der Toten bei den Hochbe- tagten. Das ist eine Sache, wo wir uns als Gesellschaft fragen müs- sen, ob wir dort alles richtig ge- macht haben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Meine Damen und Herren, das war jetzt sehr interessant. Jetzt sagt Herr Lindner: Da muss die CDU sich fragen. Also, ich finde es schon sehr, sehr interessant, wie Sie mit dieser Krise umgehen, wie Sie versuchen, parteipolitisch Kapital zu schla- gen, wie Sie versuchen, Wahl- kampf in der schwersten Krise zu machen, die diese Republik hat. Es ist erbärmlich, Herr Lindner. Und die Wählerinnen und Wähler i c o K s a b o T / T B D © Ralph Brinkhaus (*1968) Wahlkreis Gütersloh I Herr Lindner, die Zahl 50 und auch die Zahl 35 ste- hen im § 28a Infektions- schutzgesetz, hier im Deutschen Bundestag beschlossen, und sind insofern nicht willkürlich. Das zu Ihrer Behauptung, der Deutsche Bundestag wäre hier nicht betei- ligt, meine Damen und Herren. Wenn wir uns die Entwicklung der letzten Wochen und Monate angucken, dann muss man sagen: Der Lockdown wirkt. Wir kom- men von Inzidenzen, von Neuin- fektionszahlen von knapp 200, wir sind jetzt unter 65; das heißt, zeigen es Ihnen auch bei den Um- fragen, dass das nicht verfängt, was Sie hier veranstalten, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir sind beim Impfen zu lang- sam, aber mittlerweile ins Rollen gekommen, und wir sind beim Thema Wirtschaftshilfen das muss man an dieser Stel- le auch sagen viel, viel umfangreicher unterwegs als die anderen meisten Länder. Und ja, Herr Mützenich, dazu gehört auch das Kurzarbeiter- geld. Dazu gehört ein vereinfachter Zugang bei Hartz IV. Es ist ein Gesamtpaket, was wir im Bereich Wirtschaft auf den Weg gebracht haben, und es ist gut, dass die Überbrückungshilfe III jetzt auch ausgezahlt wird, liebe Kolleginnen und Kollegen. Und für all diejenigen, die jetzt sagen: Ja, aber in anderen Ländern ist es besser. Ja, andere Länder ha- ben andere Umstände. Australien ist eine Insel, und wir können uns gerne mal die Repressionsmaß- Ich glaube, wir haben im Bereich Schule sehr, sehr viel zu tun. kriegen. Und das ist genau die Politik, die auch nach den Beschlüs- sen gestern in der Ministerpräsiden- tenkonferenz ent- sprechend weiterge- führt wird. Diese richtig, Politik ist liebe Kolleginnen und Kollegen. Deswegen ist es auch voll zu un- terstützen, dass die Lockdown- Maßnahmen weitergeführt wer- den. Sorgen bereitet mir allerdings, auch wenn es in unserem Grund- gesetz so vorgesehen ist, dass die Länder individuell darüber ent- scheiden, die Schulen und die Ki- tas wieder zu öffnen. Ich habe da meine Zweifel, ob das in dieser Phase richtig ist. nes Stufenplans war von Ihnen vor drei Wochen ja bereits auch angekündigt worden. Diese Ar- beitsgruppe, falls sie tagte, hatte kein Ergebnis. Wir haben deshalb in dieser Woche einen Sieben-Stu- fen-Plan vorgelegt, mit dessen Sys- tematik es möglich ist, regional zu öffnen. Und dieser von uns vorgelegte Stufenplan ist natürlich getragen von unse- ren Grundüberzeugungen. Viel- leicht stärker als andere Fraktio- nen hier im Haus setzen wir Ver- trauen in die Eigenverantwortung der Menschen, und setzen wir da- rauf, dass es für große Probleme auch innovative technische Lösun- gen gibt. Das muss nicht jeder tei- len. Aber es gibt auch andere Stu- fenpläne: Innerhalb der Landesre- gierung von Rheinland-Pfalz mit Sozialdemokratie, den Grünen und FDP wird darüber nachge- dacht. Die Landesregierung von Schleswig-Holstein mit Union, Grünen und FDP war die erste, die einen solchen Stufenplan vorge- legt hat. Wem also unser hier vor- gelegter Stufenplan, der liberalen Charakter hat, zu weitgehend ist, der findet mit Unterstützung der eigenen Kolleginnen und Kollegen in den Ländern auch politische Al- ternativen. Dass Sie als Bundesre- nahmen in China daraufhin angu- cken, ob wir die hier haben wol- len. Und im Übrigen ist es so, dass andere Länder auch nicht so viele Hochbetagte haben wie wir. Aber eins ist auch richtig: Alle Länder, die besser durch die Pandemie ge- kommen sind als wir, hatten zu- erst einen radikalen Lockdown und haben zuerst die Zahlen nach unten geknüppelt, nach unten ge- prügelt. Deswegen ist es auch richtig, was wir hier machen, dass wir sa- gen: Bevor wir in differenzierte Maßnahmen einsteigen, müssen wir erst die Zahlen nach unten gierung dennoch untätig gewesen sind und den einmal nicht erfüll- ten Arbeitsauftrag einfach in die Zukunft fortschreiben, das zeigt, dass Sie in Wahrheit gar kein Inte- resse an einem solchen Perspektiv- plan haben, so notwendig er auch ist. Und deshalb, verehrte Anwesen- de, meine Damen und Herren, ist diese Regierungserklärung eine Enttäuschung. Sie ist bedauerli- cherweise nur ein Weiter so. Mein letzter Gedanke. Wenn Sie schon den Lockdown jetzt weiter verschärfen wer weiß, wie lange, dann passen Sie Ihre wirtschaftli- chen Hilfen auch an. Es ist ein schweres Versäumnis, dass die So- zialdemokratie und Herr Scholz immer noch nicht ihren Wider- stand gegen das unbürokratischs- te, schnellste und wirksamste In- strument aufgegeben haben, Be- triebe und Selbstständige zu un- terstützen, nämlich den vollen steuerlichen Verlustrücktrag, und zwar auf die gesamten letzten Jah- re seit 2017. (Anhaltender Beifall bei der FDP – Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Es wird immer mehr! Gegenruf des Abg. Dr. Marco Buschmann (FDP): Sie machen auch immer längeren Lockdown, Herr Brinkhaus!) Denn betrachten wir mal, von welchen Zahlen wir kommen. Die Bundeskanzlerin hat es gesagt: Wir kommen von Inzidenzen unter 10, unter 5, und da müssen wir auch wieder hin, um entspre- chend die Öffnungen hinzukrie- gen. Natürlich ist es sehr, sehr hart für die Schülerinnen und Schüler, für die Eltern, für die Familien, und wir erkennen auch an, dass es hart ist. Es ist eine Zumutung. Aber es ist auch eine Zumutung, dass mehr als 60 000 Menschen in diesem Land gestorben sind, liebe Kolleginnen und Kollegen, und auch das muss man immer wieder im Hinterkopf behalten, wenn man über Freiheitsrechte redet. Und ich bleibe dabei, Herr Lind- ner, was ich hier vor einigen Wo- chen gesagt habe: Freiheit ist auch immer die Freiheit der Schwachen und nicht nur die Freiheit der Starken. Aber wenn wir mal nach vorne schauen, dann reicht es ja jetzt nicht, dass Ministerpräsidenten, dass das Bundeskabinett, dass wir hier uns klar darüber sind, wie es weitergeht, sondern es gibt eine Menge Dinge, die noch zu tun sind. Ich möchte Ihnen fünf Din- ge nennen, an die wir jetzt ran müssen. Das erste ist das Thema Schulen. Ja, es ist die Länderkompetenz. Aber trotzdem erwarte ich gerade vor dem Hintergrund, dass jetzt wieder Öffnungen auf den Weg