2 MENSCHEN UND MEINUNGEN Das Parlament - Nr. 26-27 - 27. Juni 2022 GASTKOMMENTARE EU-KANDIDATENSTATUS NUR SYMBOLIK? Skepsis bleibt PRO Der Satz, den Kanzler Olaf Scholz in t a v i r P © Hans Monath, »Der Tagesspiegel«, Berlin Kiew aussprach, ist richtig: Die Ukrai- ne gehört zur europäischen Familie. Das war schon vor dem Krieg so, aber die anderen Europäer schauten kaum hin. Der An- griff Russlands und der Mut der ukrainischen Nati- on im Kampf gegen den übermächtigen Gegner haben das geändert. Nun schaut Europa hin – und gibt der Ukraine den EU-Kandidatenstatus. Noch scheint das Land weit davon entfernt, die Beitrittskriterien zu erfüllen, wenn man etwa auf die Korruption schaut. Aber die Entscheidung stärkt die Angegriffenen gegen Russlands Anma- ßung, ihnen die Selbstbestimmung zu verweigern. Und sie wird Reformen ermutigen. Der Einwand ist berechtigt, dass sich solche Hoff- nungen auch bei anderen Beitrittskandidaten nicht erfüllten, im Fall der Türkei etwa. Aber der neue Anwärter bringt gute Voraussetzungen mit, auch wenn die Schwierigkeiten immens sind: Die Ukraine ist eine junge Staatsbürgernation, die sich nicht auf ethnische Herkunft, sondern auf das Be- kenntnis zu Demokratie und westlichen Werten gründet. Das Herz des Landes schlägt europäisch. Mit der Entscheidung zum Kandidatenstatus be- ginnt nun ein langer Prozess. Aber solange die EU sich vor einer Beitrittsentscheidung nicht selbst re- formiert, bleibt er ein symbolischer Schritt. Denn vor jeder Aufnahme eines neuen Mitglieds muss die EU den Zwang zur Einstimmigkeit bei wichti- gen Entscheidungen abschaffen. Sonst wird sie handlungsunfähig. Und da ist Skepsis angebracht. Fünf Beitrittskandi- daten gab es schon bisher, ohne dass dies den Re- formeifer in Brüssel erkennbar beflügelt hat. Dies zu ändern, ist jedoch kein Auftrag an die Ukraine, sondern an die 27 Mitglieder selbst. Status der Ukraine als EU-Beitrittskandi- dat zur bloßen Symbolpolitik zu erklären. So lassen sich alle Probleme und Heraus- forderungen, die eine Mitgliedschaft des großen, bitterarmen Landes in der Europäischen Union hätte, ausblenden. Hat sich die EU im Umgang mit Beitrittskandida- ten nicht sowieso viel Heuchelei angewöhnt? Vor- sicht: Die Erwartung, die ukrainische Bewerbung ließe sich so vertrödeln wie etwa jene der Türkei, verkennt die Lage. Die Ukraine kann sich gar nicht vertrösten lassen. Es geht um ihr Überleben. Der Druck, den Nachbarn in Not zügig in den Club und damit unter den Schutz eines europäischen Bei- standsversprechens im Fall eines Angriffs zu ho- len, wird angesichts der instabilen Lage schnell wachsen – aus der Ukraine, in der Union und von den USA. Russland oder EU: Das sind die Alternati- ven, nachdem die Nato als Schutzschirm wohl ausfällt. Kann sich die EU da wirklich erlauben, das Land jahrzehntelang warten zu lassen? Die Regierung in Kiew wird alles versuchen, mit Reformen im Eiltempo, aber vielleicht ohne Be- standsgarantie, die Bedingungen zu erfüllen; der Anspruch auf eine Milliardensumme an Beitritts- hilfen aus der EU-Kasse wird das erleichtern. Gut möglich, dass die Union in dieser historischen Si- tuation nicht ganz so penibel auf die Erfüllung al- ler Beitrittskriterien bestehen kann. Wenn es um Übergangslösungen und andere Kompromisse geht, kennt der Brüsseler Erfindungsreichtum kei- ne Grenzen. Das macht die Beruhigungsformel von der Symbolpolitik so gefährlich: Sie verdeckt die Herausforderung für die EU, sich sehr schnell auf die Erweiterung vorzubereiten. Mehr zum Thema der Woche auf den Seiten 1 bis 3. Kontakt: gastautor.das-parlament@bundestag.de Gefährliche Formel CONTRA Es hat gewiss etwas Beruhigendes, den t a v i r P © Christian Kerl, Funke-Mediengruppe Herausgeber Deutscher Bundestag Platz der Republik 1, 11011 Berlin Fotos Stephan Roters Mit der ständigen Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte ISSN 0479-611 x (verantwortlich: Bundeszentrale für politische Bildung) Anschrift der Redaktion (außer Beilage) Platz der Republik 1, 11011 Berlin Telefon (0 30) 2 27-3 05 15 Telefax (0 30) 2 27-3 65 24 Internet: http://www.das-parlament.de E-Mail: redaktion.das-parlament@ bundestag.de Chefredakteur Christian Zentner (cz) V.i.S.d.P. 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Juni 2022 Druck und Layout Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH & Co. KG Kurhessenstraße 4– 6 64546 Mörfelden-Walldorf Leserservice/Abonnement Fazit Communication GmbH c/o Cover Service GmbH & Co. KG Postfach 1363 82034 Deisenhofen Telefon (0 89) 8 58 53-8 32 Telefax (0 89) 8 58 53-6 28 32 E-Mail: fazit-com@cover-services.de Anzeigenverkauf, Anzeigenverwaltung, Disposition Fazit Communication GmbH c/o Cover Service GmbH & Co. KG Postfach 1363 82034 Deisenhofen Telefon (0 89) 8 58 53-8 36 Telefax (0 89) 8 58 53-6 28 36 E-Mail: fazit-com-anzeigen@cover-services.de „Das Parlament“ ist Mitglied der Informationsgesellschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e. V. (IVW) Für die Herstellung der Wochenzeitung „Das Parlament“ wird Recycling-Papier verwendet. Herr Lechte, noch nie hat die EU ein Land im Krieg zum Beitrittskandidaten gemacht und noch nie ging das in einem solchen Tempo wie jetzt bei der Ukraine. Warum diese Eile? Der Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar war eine Zäsur für die euro- päische Sicherheitsarchitektur. Sie ist für Europa ähnlich einschneidend wie für die USA der 11. September 2001. Die Europäi- sche Union muss jetzt gegenüber der Ukraine, die gerade einen hohen Blutzoll für Verteidigung unserer Werte zahlt, klar bekennen: Ihr gehört zu uns. Dass Staaten wie Österreich, die Niederlande und Bulga- rien ihre zum Teil jahrelangen Widerstände gegen einen EU-Beitritt endlich aufgegeben haben, ist ein wichtiges und notwendiges Signal der Geschlossenheit gegenüber Mos- kau. Nun ist der Kandidatenstatus noch lange kein Garant für eine tatsächliche Aufnahme in die EU, wie etwa Serbien, Montenegro und Nordmazedonien zei- gen. Auch finanzielle Zusagen sind da- mit nicht verbunden. Ist der Kandidaten- status am Ende ein leeres Versprechen, reine Symbolpolitik? Es ist alles andere als das. Eines der Kriegs- ziele von Russlands Präsident Wladimir Putin war es, dass mindestens die Neutrali- tät der Ukraine gewahrt bleibt. Die EU hat deutlich gemacht, dass sie sich auf dieses Spiel nicht einlässt. Für sie liegt die Erwei- terung außerdem im ureigenen Interesse. Angesichts der Dominanz Chinas und der aggressiven Politik Russlands ist es überle- bensnotwendig für die EU, ihr Wertesystem auszudehnen und zu verteidigen. Ein Beitritt ist an zahlreiche Bedin- gungen geknüpft. Als Hürden für die Ukraine gelten vor allem die mangelnde Rechtsstaatlichkeit und die starke Kor- ruption. Wie lange wird es dauern, bis die Verhandlungen tatsächlich starten können und die Ukraine Mitglied wird? Da sprechen wir sicherlich von mehreren Jahren. Klar ist auch, dass die Ukraine nicht über Nacht Teil der EU werden kann, während andere Staaten sich seit Jahren darum bemühen. Die Kopenhagener Krite- rien für eine Aufnahme müssen auf jeden Fall auch für die Ukraine gelten. Das Land hat aber seit seinem Bestehen einen sehr dynamischen Prozess durchgemacht, es strebt anders als etwa Serbien seit Jahren klar in Richtung Westen. Das sind gute Vo- raussetzungen für erfolgreiche Verhandlun- gen. Der laufende Krieg hat viel Infra- struktur und wichtige Agrarflächen zer- stört. Die Staatsverschuldung ist massiv angewachsen, die Wirtschaft stark ge- schrumpft. Wie sehr belastet das zukünf- tige Beitrittsverhandlungen? Wenn es immer nur nach der Wirtschafts- kraft eines Landes gegangen wäre, hätten wir die Union über die Europäische Ge- meinschaft hinaus nicht erweitern können. Wir haben aber gesehen, wie gut sich neue Mitglieder innerhalb der EU entwickelt ha- ben. Jetzt sehen wir, wie wichtig die Ukrai- ne für die Nahrungsversorgung der Welt ist. Die EU ist nicht nur eine Wirtschaftsge- meinschaft, sondern auch eine politische Gemeinschaft, und jedes neue Mitglied kann dazu einen Beitrag leisten. Ungeach- tet dessen wird die EU sich in den kom- menden Jahren stark für den Wiederaufbau der Ukraine engagieren müssen. Die Schäden werden jetzt schon auf bis zu eine Billion Dollar geschätzt – und der Krieg ist noch nicht vorbei. Wer soll das bezahlen? Die Beseitigung der Kriegsschäden ist eine gesamteuropäische Aufgabe, um die wir nicht herumkommen werden. Zumindest dann nicht, wenn die Ukraine den Krieg »Sind auf gutem Kurs« ULRICH LECHTE Der FDP-Außen- politiker sieht die Westbalkan- staaten eher als Vollmitglieder in der EU als die Ukraine © Ulrich Lechte gewinnt oder er zumindest so beendet wird, dass die Ukraine sich eigenverant- wortlich um den Wiederaufbau kümmern kann. Sollte Russland seine Kriegsziele er- reichen, lehne ich Aufbaumaßnahmen der EU ab. In diesem Fall muss Russland als Verursacher dieser massiven Schäden sich selbst um deren Reparatur kümmern. Die Westbalkanstaaten stehen seit Jahren in der Warteschleife für einen EU- Beitritt und müssen nun zusehen, wie die Ukraine und Moldau an ihnen vor- beiziehen. Sendet die EU damit nicht das fragwürdige Signal aus: Ihr seid weniger relevant für Frieden und Sicherheit in Europa? Der Westbalkan ist politisch eine der he- rausforderndsten Regionen in Europa. Aber wir können es uns angesichts des wachsenden Einflusses Russlands und Chi- nas dort nicht leisten, weiter Jahre oder Jahrzehnte über deren Beitrittsprozess zu diskutieren. Für mich ist klar, dass die Westbalkanstaaten vermutlich vor der Ukraine Vollmitglieder der EU werden. Sie PARLAMENTARISCHES PROFIL sind viel weiter fortgeschritten in diesem Prozess und – bis auf Serbien – alle auf ei- nem guten Kurs. Albanien und Nordmaze- donien haben im Grunde alles erfüllt, was die EU von ihnen verlangt hat. Und auch die EU-Perspektive für Bosnien-Herzegowi- na oder den Kosovo ist sehr wichtig. In Bosnien wurden die religiös-ethnischen und strukturellen Konflikte seit dem Day- toner Friedensvertrag von 1995 nicht ge- löst, aber auch hier gilt: Die europäische Perspektive ist der Weg, diese Probleme zu überwinden. Warum gilt das für Serbien Ihrer An- sicht nach nicht? Das Land hat schon 2009 einen Beitrittsantrag gestellt, seit 2014 laufen Beitrittsverhandlungen. Serbien kooperiert wirtschaftlich eng mit China und sucht neben der Nähe zur EU auch die Nähe zu Russland. Das funktio- niert so einfach nicht. Außerdem hat die politische Führung die Opposition regel- recht zerstört. Das alles sind keine Voraus- setzungen, um weiter über eine Aufnahme in die EU zu verhandeln. Mit der Aufnahme der Ukraine, Mol- dau und der Westbalkanstaaten hätte die EU mehr als 30 Mitglieder. Wie handlungsfähig wäre sie dann überhaupt noch? Kaum. Wir müssen dringend weg vom Ein- stimmigkeitsprinzip in nahezu allen Berei- chen, damit einzelne Staaten in wichtigen Fragen die EU nicht länger blockieren kön- nen. Wir brauchen eine engere Zusammen- arbeit in der Finanz-, Außen- und Sicher- heitspolitik und müssen über die Rolle des Europäischen Parlaments und die zukünf- tige Besetzung der Kommission sprechen. Ohne diese Anpassungen kann eine noch größere Union nicht funktionieren. Schon im Zuge der Osterweiterung konnten sich die Staaten nicht auf grundlegende Reformen einigen. Warum sollte das jetzt anders sein? Die Bereitschaft der Staaten zu Reformen ist so groß wie lange nicht mehr. Der 24. Februar hat insbesondere auch den ost- europäischen Staaten vor Augen geführt, warum die EU-Mitgliedschaft für sie wich- tig ist. Wir sind als politische, aber auch als Verteidigungsgemeinschaft mehr denn je aufeinander angewiesen. Erst recht, da sich die USA in Zukunft auf China und den Pa- zifik-Konflikt konzentrieren werden. Dass sowohl die EU als auch die Nato sich wei- terentwickeln müssen – diese Erkenntnis ist gerade überall spürbar. Welche Beschlüsse erwarten Sie vom Nato-Gipfel Ende der Woche in Madrid? Das zentrale Thema wird die Aufnahme Schwedens und Finnlands sein, die bisher von der Türkei blockiert wird. Aber auch sie ist mehr denn je auf die Nato angewie- sen: Würde die Ukraine an Russland fallen, wäre das für die Türkei geopolitisch eben- falls von Nachteil. Daher erwarte ich auf dem Gipfel zwar noch keine Entscheidung zu dem Thema, aber dauerhaft auch keine Fortsetzung der Blockade. Insgesamt sind auch die Nato-Staaten heute so geeint, wie ich es in meiner politischen Laufbahn noch nie erlebt habe. Es gibt es jetzt in Europa die Bereitschaft, mehr in die Vertei- digungsfähigkeit zu investieren. Da werden wir auch in Deutschland langfristig mehr ausgeben müssen, als die 100 Milliarden Euro für das Bundeswehr-Sondervermögen, denn das schließt nur kurzfristig ein paar Lücken. Unsere Armeen in Europa sind noch lange nicht dafür gerüstet, uns gegen einen Aggressor zu verteidigen. Das Gespräch führte Johanna Metz. T Ulrich Lechte (FDP) sitzt seit 2017 im Bundestag und ist dort außenpolitischer Sprecher seiner Fraktion. Der Hannoveraner: Adis Ahmetovic Ins Plaudern kommt man mit ihm leicht. Vielleicht liegt es an der Haartolle, die frech nach oben strebt, an den für einen Ab- geordneten eher jungen 28 Jahren – oder daran, dass Adis Ahmetovic nicht nur kaum auf den Mund gefallen ist, son- dern auch etwas zu sagen hat. Es ist 10 Uhr, er schaltet sich per Zoom zu, aus der Zentrale der Friedrich-Ebert-Stiftung, eine Konferenz: Es geht um die „Zeiten- wende“, die Kanzler Olaf Scholz ausgerufen hat, sie ist Ahmetovic ein Herzensanliegen. „Wir müssen einiges korrigieren“, sagt er, „Zeitenwende bedeutet auch eine neue Europapolitik“. Und ver- weist auf Jahrzehnte, in denen Europa die osteuropäischen Regio- nen teils vernachlässigt und ein Vakuum geschaffen habe, das von anderen, meist autoritären Staaten gefüllt werde. Ahmetovic sitzt seit 2021 im Bundestag, er ist im Auswärtigen Ausschuss. Dass die Ukraine den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhalten soll, findet er „richtig“. Kein EU-Mitglied sei bisher Opfer eines An- griffskrieges geworden, sagt er. Aber, möchte man einwenden, stößt es ihm nicht bitter auf, ihm, der seit langem auch für Bos- nien-Herzegowina gleiches fordert? Dass die Ukraine nun rasch vorbeiziehen würde? Seine Antwort klingt diplomatisch geschult: „Nein, grundsätzlich lernen wir aus den Fehlern der Vergangenheit. Da zeichnet sich jetzt eine historische Chance ab, auch für den Westbalkan.“ Außerdem, fügt er hinzu, bedeute ein Kandidatensta- tus nicht, dass es auch eine beschleunigte Aufnahme gebe. Ahmetovic bezeichnet sich als „Kind der Sozialdemokratie“. Da war zum Beispiel ein Sozialdemokrat namens Matthias Miersch, der als Anwalt seiner Familie half, nicht abgeschoben zu wer- den: 1992 waren die Ahmetovics aus dem Jugoslawienkrieg ge- flohen, ein Jahr später kam Adis zur Welt. Der Aufenthalt war lange gefährdet, über zehn Kettenduldungen erlebte allein der Junge. Miersch ist ebenfalls Bundestagsabgeordneter geworden und heute stellvertretender Fraktionsvorsitzender – und Ahme- tovics Biografie schrie nach einem politischen Engagement. „Entweder man gibt sich der Abschiebungsgefahr hin und ver- ..................................................................................................................................................... »Zeitenwende bedeutet auch e c n a i l l a - e r u t c i p / a p d © eine neue Europapolitik. Es zeichnet sich auch für den Westbalkan eine his- torische Chance ab.« zweifelt oder entscheidet sich, selbst zu gestalten“, sagt er im Rückblick. Und zählt auf, was ihn neben Anwalt Miersch noch in die Arme der SPD brachte: „Da ist die Bildungsgerechtigkeit, die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts und eben die Mög- lichkeit, dass sich in der Partei Arbeiterkinder nach oben arbei- ten.“ Sein Vater war in Kotor Varoš in Bosnien und Herzegowina Verwaltungsjurist gewesen, in Hannover schlug er sich auf dem Bau und als Lagerist durch; die Mutter arbeitete als Reinigungs- kraft. Bildung, das wurde dem jungen Adis klar, war ein Schlüssel. Das er- fuhr er in der neunten Klasse, „damals erhielt ich einen blauen Brief nachhause, ich war kein guter Schüler“, sagt er. Er sah die enttäuschten Eltern: „Warum bringst du nicht die Leistungen, die du bringen kannst?“, hätten sie gefragt. Daraufhin sei er in eine Bibliothek gegangen, habe in einem Buch von Willy Brandt gestö- bert – und seine Leidenschaft für Literatur entdeckt. Brandt half zwar nicht bei Exponentialrechnung direkt, aber Ahmetovics Enga- gement stieg – und damit auch der Notenschnitt beachtlich. Der Schüler wurde Klassensprecher, trat bei den Jusos ein. Studierte Politik-Wirtschaft und Germanistik in seiner Heimatstadt, arbeitete nebenbei für Abgeordnete – und wurde mit 23 Büroleiter sowie später persönlicher Referent von Stephan Weil, dem Ministerpräsi- denten und SPD-Landesvorsitzenden. „Anfangs sagte ich zu ihm, wie unglaublich ich es finde, dass er mir all das zutraut“, erinnert er sich. „Und er antwortete: ‚Adis, es gibt eine Probezeit.‘“ Die über- stand er. War vorher Juso-Chef der Region Hannover geworden, 2020 wählte man ihn zum Co-Vorsitzenden der SPD Hannover. Er galt als Mitreißer, als junge Hoffnung. Und kam dann schnell in die Verantwortung. Der Wahlkreis wurde frei, nach Zögern bewarb er sich: „Ich wollte aber keinen sicheren Listenplatz, sondern habe ge- sagt, ich möchte es auch ohne sicheren Listenplatz schaffen, also in‘“. Das klappte, er gewann die Erststimmen im Wahlkreis ‚all Stadt Hannover 1. Seine Reise geht weiter. Jan Rübel T