8 INNENPOLITIK Das Parlament - Nr. 28-29 - 11. Juli 2022 Die Anspannung war Ka- trin Budde (SPD) am ver- gangenen Mittwoch zum Auftakt der öffentlichen Sitzung des Kulturaus- schusses zum Antisemi- tismus-Skandal auf der Documenta in Kas- sel deutlich anzumerken. Die Sitzung sei „kein Tribunal“ mahnte die Ausschussvor- sitzende. Und doch waren die Anklagen gegen das indonesische Künstlerkollektiv Taring Padi wegen ihres als antisemitisch angesehenen Werkes „People‘s Justice“, ge- gen die Verantwortlichen der Documenta, allen voran das kuratierende indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa laut und deutlich. Ersten Ärger verursachte bereits die Ankündigung Buddes, dass die Docu- Schor- menta-Generaldirektorin Sabine mann und der Documenta-Aufsichtsrats- vorsitzende, Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD), nicht an der Sit- zung teilnehmen werden. Schormann hat- te sich wegen Krankheit und Geselle wegen anderer Termine entschuldigen lassen. Das Fernbleiben Geselles bezeichnete Gitta Connemann (CDU) als „skandalös“ und Erhard Grundl (Grüne) als eine „grobe Missachtung“ des entstandenen Schadens. „Judenhass Kritik des Zentralrats Schormann und Geselle waren es denn auch, die der Ge- schäftsführer des Zentralrats der Juden, Da- niel Botmann, namentlich für den Antise- mitismus-Skandal verantwortlich machte. Alle Warnungen im Vorfeld der Documen- ta seien ignoriert worden. Auf der Kunst- ausstellung sei in reinster Form“ präsentiert worden. Aber niemand übernehme dafür die Verantwortung, mo- nierte Botmann. Es sei „eine Zumutung“, dass Schormann noch immer im Amt sei. Botmann betonte, dass es um weit mehr als ein Bild gehe. Auf der Kunstausstellung würden auch andere antisemitische Werke wie die Bilderserie „Guarnica Gaza“ ge- zeigt. Zudem sei die Documenta wie auch andere Kultureinrichtungen stark von der antisemitischen BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions) beeinflusst, die Israel isolieren wolle. Darunter litten auch jüdische und israelische Künstler. Auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) erhob, wenn auch nicht nament- lich, schwere Vorwürfe gegen die Docu- menta-Verantwortlichen. Diese hätten zu- gesagt, dass Antisemitismus keinen Platz auf der Kunstausstellung habe und dass es dazu auch nicht kommen werde. Dies sei „Wortbruch“, stellte Roth fest. Sie werde immer die Freiheit der Kunst verteidigen, aber die Grenzen der Kunstfreiheit seien überschritten worden. Vor allem sei die notwendige kuratorische Arbeit nicht ge- leistet worden. Entschuldigung der Kuratoren Der ange- sprochene Ade Darmawan entschuldigte sich als Mitglied des kuratierenden Kollek- tivs Ruangrupa für den durch die Ausstel- lung „verursachten Schmerz“. Es sei nicht die Absicht gewesen, Antisemitismus zu verbreiten. Zugleich warb er für Verständ- nis für andere historische Erfahrungen und das „antiautoritäre kuratorische Verständ- nis“ seines Kollektivs. Das Werk „People’s Justice“ sei vor 20 Jahren entstanden und sei auch eine Kritik an der Unterstützung westlicher Staaten für Indonesiens früheren Fachkräfte für Traumatherapie KINDERKOMMISSION Es gibt zu wenige Fachkräfte, um aus der Ukraine geflüchte- ten Kindern bei der Traumabewältigung zu helfen. So lautete die Kritik von Sachver- ständigen in einem öffentlichen Experten- gespräch der Kinderkommission des Bun- destages. Geladen waren Vertreterinnen verschiedener Hilfsorganisationen, die in der vergangenen Woche bewerten sollten, welche Projekte Kinder und Jugendliche hierzulande konkret unterstützen. Ihre Projekte zielten vor allem darauf, Kin- dern auf der Flucht ein sicheres Umfeld zu gewähren, in dem sie Abstand vom Kriegs- geschehen gewinnen könnten, betonten die Expertinnen. Die Grundausstattung von Hilfseinrichtungen versuche man durch Spenden zu verbessern, in Berlin ha- be man die Kinder an der Gestaltung ihrer Unterkünfte beteiligt. Von Politik und Ver- waltung forderten die Expertinnen eine Verstetigung von Projektgeldern und eine schnellere Antragsbewilligung. Verantwortung übertragen zu bekommen, gebe Kindern Selbstwertgefühl, sagte Pro- jektleiterin Hannah Weber von der Berliner Stadtmission. Über die schwierige Situati- on in den Notunterkünften berichtete An- ne Ernst von der Johanniter-Unfall-Hilfe. „Wir nutzen jede Form der Kreativität, um die Situation zu verbessern.“ Um langfristige Folgen traumatisierender Kriegserfahrungen zu vermeiden, brauche es mehr Behandlungsplätze und Fachkräf- te. Die Personalsituation sei schwierig, auch wegen der Befristung der Projekte. Die Kräfte vor Ort wünschten „vor allem Offenheit und Flexibilität“ und weniger Bürokratie, so Ernst. Bei der Weiterbildung könne man an die Erfahrungen von 2015 anknüpfen, sagte Birgit Poschmann vom Kreisverband Coesfeld e.V. des Deutsches Roten Kreuzes. Lucas Lypp T Mehr als nur ein Bild KULTUR Der Bundestag debattiert über Antisemitismus- Skandal auf der Documenta. Union und AfD fordern personelle Konsequenzen. Doch diese blieben bislang aus Mehr Innovation wagen FORSCHUNG Nachholbedarf bei Schlüsseltechnologien und Innovation Im Bereich Digitale Technologien droht Deutschland den Anschluss zu verlieren. Zu diesem Schluss kommt die Experten- kommission Forschung und Innovation (EFI). Zusammen mit dem „Bundesbericht Forschung 2022“ (20/2400), der alle zwei Jahre erscheint, gibt das EFI-Gutachten (20/1656) ein Stimmungsbild zur Lage von Forschung und Innovation (F&I) des Landes ab. Beide Dokumente beschäftigten am vergangenen Mittwoch den Bundestag. Der Parlamentarische Staatssekretär Mario Brandenburg (FDP) stimmte der EFI zu und betonte, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) aktuell an einer „Zukunftsstrategie Forschung und Innovation“ arbeite, die „die Rahmenbe- dingungen und Strukturen für Transfer und Innovation“ verbessern solle. Mit 3,05 Mil- liarden Euro finanziere das BMBF im Jahr 2022 „missionsorientierte Forschung“ zu Themen wie Klimaschutz, Gesundheit und Schlüsseltechnologien. Bis 2025 sollten dann 3,5 Prozent des Bruttoinlandproduk- tes in Forschung und Entwicklung fließen. Streitpunkt DATI Der Bundesbericht stelle Deutschland ein „durchaus gutes Zeugnis“ aus, sagte Holger Mann (SPD). So seien 2019 und 2020 die Beschäftigungszahlen in der Forschung konstant geblieben und auch „die Ausgaben nahezu stabil“. Kritisch bewertete Mann hingegen, dass die Wirt- schaft ihre Investitionen in F&I um fünf Milliarden Euro gesenkt habe. Während Mann die Gründung der Deutschen Agen- tur für Transfer und Innovation (DATI) als wichtigen Schritt bewertet, um den Trans- fer von Forschung aus den Hochschulen für angewandte Wissenschaft voranzutrei- ben, bewerteten Nadine Schön (CDU) und Petra Sitte (Die Linke) DATI kritisch. Statt eine neue Agentur zu gründen, die laut EFI-Gutachten „nur Doppelstrukturen bringe, aber nicht zum Ziel führe“, wäre es sinnvoller, den bestehenden Agenturen mehr Freiräume zu gewähren, sagte Schön. Sitte wiederum betonte, dass Wissen- schaftspolitik mehr als Wirtschaftspolitik sei. Forschung dürfe nicht nur ökonomi- schen Zielen dienen, sondern müsse auch soziale Fragen in den Blick nehmen. Gute Forschung sei entscheidend, um die Herausforderungen der Zukunft zu bewäl- tigen, sagte Laura Kraft (Bündnis 90/Die Grünen). Dafür brauche es neben einer „leistungsstarken digitalen Infrastruktur“ auch verlässliche Kooperationspartner. Michael Kaufmann (AfD) sieht in Deutsch- land zwar das Potential für Innovation, da- mit dieses aber auch genutzt werde könne, müssten „ideologisch motivierte Schran- ken“ aus der Wissenschaft verschwinden und eine technologieoffene Forschungsför- derung stattfinden. des T Erst verhängt, dann demontiert: Das Werk „People’s Justice“ auf der Documenta in Kassel. © picture-alliance/dpa/Uwe Zucchi Diktatur Suharto. Die als antisemitisch empfundene Bildsprache – das Bild zeigt unter anderem eine Art Vampir mit Schlä- fenlocken und Hut mit SS-Runen sowie ei- nen Agenten des israelischen Geheim- dienstes Mossad mit Schweinegesicht und Davidstern – sei von anderen historischen Erfahrungen geprägt als in Deutschland. Diese Art der Bildsprache sei bereits im 18. Jahrhundert von den niederländischen Kolonialherren nach Indonesien gebracht worden und vor allem auf die chinesische Minderheit übertragen worden. Zugleich wies Damarwan den Vorwurf eines Boy- kotts israelischer Künstler zurück. Die Do- cumenta zeige sowohl israelische als auch jüdische Künstler, die auf eigenen Wunsch aber nicht genannt werden wollten. Dass Damarwans Entschuldigung und Er- klärungsversuche die Unions- und die AfD- Fraktion nicht überzeugten, zeigte sich tags darauf in der Bundestagsdebatte. Die Be- schwichtigungsversuche mit kulturellen Unterschieden seien „Ausreden“ und zeig- ten fehlende Einsicht, befand Gitta Conne- mann. „Egal in welchem Land, egal in wel- chem Zusammenhang: Judenhass ist Ju- denhass.“ Die AfD warf den Künstlerkol- lektiven vor, ihr postkolonialistischer An- satz sei im Kern antisemitisch. „Die Post- kolonialisten sind zutiefst verwoben mit der Israel-Boykottbewegung BDS“, führte Marc Jongen aus und hielt Roth vor, den Postkolonialismus „zur Staatsdoktrin erho- ben“ zu haben. Connemann und Jongen erinnerten Roth zudem daran, dass sie 2019 den Bundestagsbeschluss zur Verur- teilung des BDS abgelehnt habe. Katrin Budde und andere Abgeordnete der Ampelkoalition wiesen die Vorwürfe zu- mindest zum Teil zurück. Ade Damarwan sei ein „sehr reflektierten Vertreter der Ru- angrupa“, der „sehr nachdenklich und auch sehr ehrlich reagiert“ habe, sagte Bud- de. Einig zeigten sich alle Fraktionen, dass die Strukturen der Documenta reformiert werden müssen. Die von der Union und der AfD vorgelegten Anträge, in denen sie auch den Rücktritt von Sabine Schormann fordern, wurden von allen anderen Frak- tionen abgelehnt. Abgeschlossen ist der Fall damit aber nicht. Der von Kulturstaatsministerin Roth vorge- legte Fünf-Punkte-Plan zur Aufarbeitung des Skandals und zu Strukturreformen bei der Documenta wird den Bundestag spä- testens bei den Haushaltsberatungen und der Frage nach einer weiteren Förderung des Kunstausstellung durch den Bund er- neut erreichen. Alexander Weinlein T Eine Frage der Priorität BIOTECH Union fordert Beteiligung an EU-Pharmavorhaben Damit die Europäische Union im Biotech- nologie- und Pharmabereich ihre Souverä- nität behält und sich gegen internationale Konkurrenz durchsetzen kann, hat die EU die Gründung einer „Important Projects of Common European Interest“ (IPCEI) be- schlossen. Durch das EU-Vorhaben sollen Unternehmen gefördert werden, die im Pharma- und Biotechbereich forschen. Im März unterzeichneten 16 EU-Staaten IPCEI Health – Deutschland war nicht darunter. Dass sich die Bundesrepublik doch an dem Vorhaben beteiligt und es mit 500 Millio- nen Euro unterstützt, fordert die Union in einem Antrag (20/2376), der am Freitag im Bundestag debattiert wurde. Um den Wohlstand für die nächsten Jahr- zehnte zu sichern, müsse Deutschland „endlich den Schwerpunkt auf Forschung, Technologie und Transfer“ setzen und Standort für Spitzentechnologie bleiben, sagte Thomas Jarzombek (CDU). Laut ei- ner Studie von EY sei kein deutsches Un- ternehmen mehr unter den 100 wertvolls- ten der Welt. Jarzombek kritisiert, dass trotz dieser Entwicklung kein Geld für Bio- technologie im Haushalt vorgesehen sei. Begrenzte Haushaltsmittel Die ange- spannte finanzielle Lage sei der Grund, weshalb IPCEI Health bei der Verteilung der Haushaltsmittel nicht berücksichtigt werden konnte, betonte Lena Werner (SPD). Ihre Fraktion hätte sich eine Beteili- gung Deutschlands gewünscht und hoffe, dass diese nächstes Jahr möglich sein wer- de. Grünen-Politikerin Paula Piechotta mahnte an, dass es zu einer seriösen Op- positionspolitik gehöre, herauszuarbeiten, wo die geforderten 500 Millionen Euro für IPCEI Health abgezweigt werden sollten. Die Biotech-Branche sei gut aufgestellt und brauche zumindest in Deutschland keine staatliche oder europäische Förderung, sag- te Manfred Todtenhausen (FDP). Gerade in Zeiten begrenzter finanzieller Mittel müssten Prioritäten richtig gesetzt werden. Petra Sitte (Die Linke) kritisierte den An- trag dafür, dass er auf eine Kommerzialisie- rung von Wissen abziele, das durch öffent- liche Förderung erworben wurde. Der Staat solle dort fördern, wo der Markt wegen „pessimistischer Renditeerwartungen von Pharmakonzernen“ versage. Dies sei bei- spielsweise bei der Erforschung von selte- nen Erkrankungen der Fall. Die Pandemie habe gezeigt, dass sich jeder selbst in der Krise am nächsten sei, mahnte Götz Frömming (AfD). Anstatt sich an ei- nem rein europäischen Instrument wie IP- CEI Health zu beteiligen, müsse Deutsch- land lernen, wieder national zu denken und zu handeln. Im Anschluss an die Debatte wurde der Antrag zur weiteren Beratung an den Wirt- schaftsausschuss überwiesen. des T Neue Strategien sind gefragt Ferda Ataman gewählt AKTUELLE STUNDE Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbands im Plenum FAMILIE Antidiskriminierungsstelle hat neue Chefin Noch bevor die Einmalzahlungen aus den Entlastungspaketen der Bundesregierung auf den Konten der Menschen landen, wird deren Nutzen diskutiert und teilweise infrage gestellt. Dass sie nicht ausreichen werden, um die Folgen der Preissteigerun- gen abzufedern, ist nicht nur die Meinung von Sozialverbänden. Auch Bundespräsi- dent Frank-Walter Steinmeier plädierte in einem Interview vor einer Woche für weite- re Erleichterungen für Geringverdiener. Einen Tag später trommelte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Gewerkschaften und Ar- beitgeber zu einem ersten Treffen der Kon- zertierten Aktion zusammen. Hintergrund ist die Sorge vor einer Lohn-Preis-Spirale: Gewerkschaften verlangen zum Ausgleich für gestiegene Preise höhere Löhne, was die Kosten der Unternehmen erhöht, die dann wiederum versuchen könnten, die höheren Kosten auf die Preise umzuwälzen. Einmal- zahlungen anstelle kräftiger Tariferhöhun- gen könnten den Effekt dämpfen. Aber noch ist offen, zu welchem Ergebnis die Konzertierte Aktion kommen wird. Offene Fragen Am Freitag debattierte der Bundestag auf Verlangen der Fraktion Die Linke über den aktuellen Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbands. Dabei ging es freilich nicht nur um den Bericht, sondern um seine Einordnung in den ak- tuellen Kontext und um die Frage, wie vor allem Menschen mit geringem Einkom- men in Zeiten der Inflation unterstützt werden können. Somit endete die sozial- politische Woche in Berlin mit einer Frage, mit der sie auch begonnen hatte. Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Ar- mutsquote von 16,6 Prozent einen trauri- gen Höchststand erreicht. 13,8 Millionen Menschen müssen demnach hierzulande derzeit zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie. Der Wohlfahrtsverband rechnet angesichts der Inflation mit einer Verschärfung der Lage und fordert von der Bundesregierung um- gehend ein weiteres Entlastungspaket. Dies müsse bei den fürsorgerischen Maßnah- men ansetzen. Grundsicherung, Wohngeld und BAföG müssten bedarfsgerecht ange- hoben und deutlich ausgeweitet werden, um zielgerichtet Hilfe für einkommensar- me Haushalte zu gewährleisten. Janine Wissler, Parteivorsitzende der Lin- ken, warf dem Bundeskanzler vor, in der Regierungsbefragung am Mittwoch keine Antwort auf die Frage gewusst zu haben, ob der aktuelle Regelsatz in der Grundsi- cherung von 449 Euro reiche, um den mo- natlichen Bedarf eines Erwachsenen zu de- cken. Dies sei vielsagend, so Wissler. Natalie Pawlik (SPD) nannte die Ergebnis- se des Berichts „erschreckend“. Die aktuel- > S T I C HW O RT Bereits beschlossene Entlastungen > Energiepreispauschale Alle Einkom- mensteuerpflichtigen erhalten einmalig 300 Euro. > Kinderbonus Pro Kind gibt es mit der Kindergeldzahlung im Juli einmalig 100 Euro als Zuschlag. > Grundsicherung Bezieher von Sozial- leistungen erhalten einmalig 200 Euro. > Arbeitslosengeld Beim Bezug von Ar- beitslosengeld I wird einmalig 100 Euro gezahlt. len Entlastungsmaßnahmen würden jetzt erst anfangen zu wirken, beseitigten Armut aber nicht strukturell. „Der Kampf gegen prekäre Beschäftigung bleibt das nachhal- tigste Mittel gegen Armut.“ Ottilie Klein (CDU) sagte, Alleinerziehen- de und kinderreiche Familien, aber auch Rentner seien besonders von Armut betrof- fen. Aber die Regierung tue für diese Grup- pen viel zu wenig und verteile Geld statt- dessen mit der Gießkanne. „Warum be- kommen Staatssekretäre eine Energiepau- schale von 300 Euro“, fragte sie. Stephanie Aeffner (Grüne) forderte: „Wir müssen jetzt handeln. Wir haben ein Ar- mutsproblem und das nicht erst seit der Pandemie und dem Ukraine-Krieg.“ Nötig sei eine umfassende Strategie, die die Höhe Sozialleistungen, aber auch die Wohnungs- und Mietenpolitik und den öffentlichen Nahverkehr in den Blick nehme. Gerrit Huy (AfD) stellte fest, es gehe nicht erst seit gestern, sondern seit 15 Jahren bergab, seitdem sich die Merkel-Regierun- gen entschlossen hätten, sich lieber mit der „Weltenrettung“ als den heimischen Pro- blemen zu befassen. Sie verwies auf die Al- tersarmut und forderte eine Rentenreform, die sich nicht mit Haltelinien begnüge. Jens Teutrine (FDP) verteidigte die Entlas- tungspakete der Bundesregierung. Damit bekomme eine vierköpfige Familie im Grundsicherungsbezug insgesamt 600 Euro mehr Geld in diesem Monat. Für einige sei das vielleicht nicht erwähnens- wert, aber für diese Menschen mache es ei- nen Unterschied, sagte er. Außerdem ap- pellierte er, nicht, wie in dem Bericht, nur von relativer Armut zu reden, sondern wei- tere Indikatoren wie Bildungschancen mit einzubeziehen. „Das Aufstiegsversprechen ist der wichtigste Indikator zur Armutsbe- kämpfung“, so Teutrine. Claudia Heine T Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wird mit einer neuen Chefin besetzt. Was eher langweilig klingt, ist allerdings zum Politikum geworden, denn die Nominie- rung der Journalistin Ferda Ataman für die- ses Amt hatte für kontroverse Diskussionen gesorgt. Auch innerhalb der Koalition war die Personalie nicht unumstritten. Den- noch wurde Ataman am vergangenen Don- nerstag im Bundestag schließlich von 376 Abgeordneten gewählt. 278 stimmten ge- gen sie. Es gab 14 Enthaltungen. Oppositionspolitiker aus Union und AfD, aber auch einzelne FDP-Politiker sprechen der Journalistin die Eignung ab. Sie be- zeichnen Ataman unter anderem als „linke Aktivistin“, die für „spaltende Identitätspo- litik“ stehe und etwa „Clan-Kriminalität“ und Islamismus verharmlose. „Ich persön- lich fände es gut, wenn sich Frau Ataman von einigen früheren Aussagen klar distan- zieren würde“, sagte etwa der Parlamentari- a p d / e c n a i l l a - e r u t c i p © Ferda Ataman eine sche Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Ste- phan Thomae. Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer Thorsten Frei (CDU) sagte, die Personalie sei das Gegenteil von Zu- sammenführung. Die AfD-Fraktion hatte zwar versucht, die Wahl von der Tagesord- nung des Bundestages nehmen zu lassen, scheiterte aber damit. SPD-Chefin Saskia Esken hielt dagegen und kritisierte „verleumderischen Kampagne“. Die Fraktionschefin der Grü- nen im Bundestag, Britta Haßelmann, stellte klar, viele Behauptungen gegen Ata- man seien haltlos, sie sei als „Expertin für Diversität in jedem Fall“ die Richtige für das Amt. Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) erklärte, Diversität sei eine Stärke. Sie sei überzeugt, dass Ataman eine Stimme für alle Menschen im Land sein werde, die Diskriminierung erfahren. Ataman hatte unter anderem mit einer „Spiegel“-Kolumne 2020 für Diskussionen gesorgt, als sie die Bezeichnung „Kartoffel“ für Deutsche ohne Migrationshintergrund verteidigte. Kritisiert wurde auch die Lö- schung früherer Tweets, die als polemisch interpretiert werden können. Die Antidiskriminierungsstelle berät Be- troffene auf Basis des Allgemeinen Gleich- behandlungsgesetzes bei der Durchsetzung ihrer Rechte, wenn sie etwa aus rassisti- religiösen schen, geschlechtlichen oder Gründen diskriminiert werden. Erst im April 2022 hatte der Bundestag ein Gesetz (20/1332) beschlossen, wonach das Parla- ment künftig die Leitung der Stelle wählt. Das bisherige Verfahren, bei dem die Bun- desfamilienministerin für Familie, Senio- ren, Frauen und Jugend die Leitung auf Vorschlag der Bundesregierung ernennen konnte, hatte in der Vergangenheit zu Kon- kurrentenklagen geführt. Seit 2018 war das Amt unbesetzt geblieben. che T