Das Parlament - Nr. 22-24 - 30. Mai 2023 DAS POLITISCHE BUCH 7 KURZ REZENSIERT Franziska Grillmeier: Die Insel. Ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas. C.H. Beck, München 2023; 220 S., 24,00 € Jahre, Es ist das Sinnbild einer Flüchtlingspoli- tik, die den Titel Politik kaum verdient: Binnen zwei Wochen, so hatte die EU geplant, sollten Menschen aus dem Flüchtlingslager Moria auf der grie- chischen Insel Lesbos verteilt oder – das galt nach dem EU-Abkommen mit der Türkei 2016 – in selbige zurückgeschickt werden. In der Realität blieben Men- schen über in Zuständen, die schon vor den massenhaften Covid-Aus- brüchen unhaltbar waren. Als Moria 2020 in Brand gesteckt wurde, wurden mehr als 12.000 Menschen obdachlos. Erinnert sich noch jemand? Ja, die Jour- nalistin Franziska Grillmeier schaute ge- nau hin. Die freie Journalistin zog 2018 nach Lesbos. Das größte Verdienst ihres Buches, das aus vielen Reportagen ent- stand, ist es, die Menschen in Moria zu Chronisten ihrer Geschichte zu machen, ihnen Gesichter, Namen und eine Stim- me zu geben. So lernen wir zum Beispiel Maryam kennen, die mit 14 Afghanistan verließ, um eine Schule zu besuchen, und sich in Moria über Jahre für Afgha- nen einsetzte. Ebenso die Kranken- schwester Yasmin aus Somalia, die in- tensive Einblicke in eine verheerende ge- sundheitliche Lage gibt. Eine der schöns- ten Geschichten handelt von Ovileya, die in Bangladesch weiter als Junge leben sollte, und Usman aus Pakistan, mit dem sie erst ein Facebook-Chat, nach ge- trennten Jahren auf der Flucht Liebe und heute Freundschaft verbindet. Wir erfahren auch, was aus ihnen wur- de: Maryam ist in Lissabon – ihre Tochter studiert mit einem Stipendium in Bos- ton. Yasmin lebt mit ihrer Familie in Deutschland, Ovileya als Übersetzerin in Athen, bemüht, das Geld für eine Ge- schlechtsumwandlung zusammenzube- kommen. Usman jobbt auf Santorin. Auf Lesbos und anderen griechischen Inseln werden weiter Flüchtlingslager gebaut, jetzt unter einem neuen Namen: Closed Controlled Access Centre (CCAC) – „ge- schlossene Zentren mit kontrolliertem Zugang“. Jeannette Goddar T Thomas Biebricher: Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus. Suhrkamp, Berlin 2023; 638 S., 30,00 € Politikwissenschaftler Vor vier Jahren veröffentlichte der Frank- furter Thomas Biebricher die herausragende Studie „Geistig-moralische Wende“, in der er den erschöpften deutschen Konservatis- mus analysierte. Daran anknüpfend rich- tet er seinen Blick jetzt auf die interna- tionale Krise des Konservatismus und konstatiert „die Schwächung, Radikali- sierung oder das völlige Verschwinden der Kräfte eines gemäßigten Konserva- tismus, deren angestammter Platz in der rechten Mitte zusehends verwaist“. Obwohl Biebricher den Fokus auf Italien, Frankreich und das Vereinigte Königreich legt, hat die Krise des Konservatismus zweifellos auch Deutschland erreicht. Sollen sich die liberalen und sozial-de- mokratischen Parteien darüber freuen oder sie als Krisensymptom der liberalen Demokratien fürchten? Waren es nicht gerade in Europa die gemäßigt konser- vativen Kräfte, allen voran die christlich- demokratischen Parteien, die nach dem Zweiten Weltkrieg sozialstaatliche politi- sche Systeme installierten und die euro- päische Integration förderten? Den „Dynamiken der rechten Mitte“ ge- bühre vor allem deshalb Aufmerksam- keit, „weil sich hier das Schicksal der li- beralen Demokratie entscheidet“. Nach den glänzenden Analysen zu Italien, Frankreich und Großbritannien kommt der Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass die Geschichte dieser Länder sowie die unterschiedlichen politischen Syste- me die Krise des Konservatismus dort vorantrieben. Keinesfalls könnten die parteipolitischen Entwicklungen in die- sen drei Ländern auf Deutschland über- tragen werden. Biebricher unterstreicht, dass bei der deutschen Christdemokratie die europafreundliche Grundhaltung ei- ne lange Tradition habe und einen schar- fen Kontrast zur Anti-EU-Linie der mitte- rechts Parteien in anderen EU-Staaten bilde. Es wäre deshalb ein „Kurzschluss“, einen „Kollaps“ der CDU und ihr „Ab- driften in den rechten Raum“ zu prog- nostizieren. Aschot Manutscharjan T Frau Schlindwein, als sich im Dezem- ber 2022 die Weltgemeinschaft in Mont- real auf das Ziel einigte, 30 Prozent der Landes- und Meeresfläche weltweit unter Naturschutz zu stellen, wurde das als rie- siger Erfolg gefeiert. Wer Ihr Buch liest, bekommt zumindest Zweifel. Sie be- schreiben darin, wie Naturschutz und Menschenrechte in zentralfrikanischen Ländern wie dem Kongo massiv kollidie- ren – und sprechen von einem „grünen Krieg“. Wer ist dabei Täter, wer Opfer? Täter sind die Wildhüter in Nationalparks wie dem Virunga und dem Kahuzi-Biéga. Opfer ist die Bevölkerung, die am Rande dieser Schutzgebiete lebt: Indigene oder örtliche Bauern sind schon lange Leidtra- gende der Parks – aus dem Wald und von ihrem Land vertrieben, dürfen sie das Ge- lände nicht mehr betreten. Doch die seit 2012 zunehmende militärische Ausbildung und Aufrüstung der Wildhüter ist eine dra- matische Trendwende in der gesamten Ge- schichte des globalen Naturschutzes. Inwiefern? Bislang waren Ranger keine militärischen Akteure. Sie zählten und fütterten Tiere, päppelten verletzte Exemplare wieder auf, führten wissenschaftliche Studien durch, spielten Guide für Touristen. Dass Wildhü- ter im Kampf gegen Wilderer mit extremen militärischen Gadgets und Hochtechnolo- gie ausgerüstet werden, die es möglich macht ein Gelände so zu überwachen, oh- ne dass eine Fliege durchkommt – ist ein echter Gamechanger. Sie werden trainiert, in der lokalen Bevölkerung Feinde zu se- hen. Sie mutieren zu Tätern. Durch die globalen Naturschutzziele, die eine Ausweitung der Schutzgebiete auch im Kongo zur Folge haben, wird der Druck auf die lokale Bevölkerung wachsen, fürchten Sie? Ja. Wir Deutschen haben zu Klimawandel und Artenverlust massiv beigetragen. Nun wollen wir den Planeten retten – aber an- statt Naturschutzgebiete in Deutschland auszubauen, geben wir lieber Geld, damit das woanders getan wird. Das beruhigt un- ser Gewissen und wir können weiterma- chen wie bisher. Im Kongo liegt aber das zweitgrößte Regenwaldgebiet der Erde. Das ist die Krux an der Geschichte. Aber: Können wir einen Staat wie den Kongo an- heuern, um den Planeten zu retten? Wir haben es mit einer absolut korrupten Re- gierung und Institutionen wie der staatli- chen Naturschutzbehörde ICCN zu tun, die mit Kriegsverbrechern verbandelt ist. Mit meinem Buch möchte ich dazu anre- gen, sich in einen Bauern hineinzuverset- zen, der plötzlich einen Zaun mitten durch seinen Acker gebaut bekommt und mit den hochgerüsteten Wildhütern einer Art Terrorsystem ausgeliefert ist. Sie berichten, wie Dörfer am Rande des mit viel deutschem Geld unterstützen Kahuzi-Biéga Nationalparks niederge- brannt und indigene Batwa verhaftet, vergewaltigt und manche auch getötet wurden. Als es 2017 erste Berichte gab, sprach auch die Bundesregierung von Einzelfällen. Glaubten Sie daran? Zunächst klangen die Meldungen tatsäch- lich wie Einzelfälle. Doch ich hatte bald die Vermutung, dass es weit mehr ist, näm- lich ein struktureller und tagtäglicher Kon- flikt der lokalen Bevölkerung mit der Park- verwaltung, den Rangern und mit den Tie- ren – um Landrechte. Sie haben 2019 begonnen, die Men- schen rund um die Parks zu interviewen und ihnen Formulare und Stifte in die Hand gedrückt, um Vorfälle zu protokol- Ende Februar 1973 wird die amerikanische Öffentlichkeit von Fernsehbildern aufge- schreckt, die an einen skurrilen Neo-Wes- tern erinnern: Eine Gruppe bewaffneter Angehöriger des „American Indian Move- ment“ besetzten das kleine Dorf Wounded Knee in der Pine Ridge Reservation der Oglala-Lakota im Bundestaat South Dako- ta und nehmen Geiseln. Primär wollen sie die Absetzung des korrupten Reservations- vorsitzenden Dick Wilson erreichen. Die US-Behörden lassen den Ort von ei- nem Großaufgebot von FBI-Beamten um- stellen und mehrfach von Kampfjets über- fliegen, es kommt zu wilden Scheißereien, Toten und Verletzten. Über zwei Monate hält das Drama an. Am Ende müssen die indianischen Kämpfer aufgeben. Die ver- störenden Bilder gehen um die Welt. Besondere Brisanz haben die Vorgänge, weil es in Wounded Knee im Dezember 1890 zu einem der brutalsten Massaker in der amerikanischen Geschichte gekommen war. Die US-Armee hatte bis zu 350 Ange- hörige der Lakota regelrecht abgeschlach- tet. Der amerikanische Publizist Dee Brown hatte dieses Massaker als Höhe- und Abschlusspunkt des Genozids an den ame- rikanischen Ureinwohnern mit seinem 1970 erschienen Bestseller „Bury my Heart at Wounded Knee“ (Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses) erstmals in das öf- lieren. Wie haben sie reagiert? Sehr positiv. Oft habe ich gehört: Du bist die erste Weiße, die uns fragt, wie es geht. Viele Menschen dort kennen Weiße nur als Touristen, die im Safarijeep schnell an ih- nen vorbei in den Park fahren, um Elefan- ten, Löwen oder Affen zu sehen. Und viele haben das Gefühl, ihr Leben zähle nicht, Tiere seien mehr wert. Kein Wunder, wenn man sich vor Augen hält, dass sie auf kei- nen Staatsapparat zählen können, der sie schützt oder für medizinische Versorgung und Schulbildung sorgt. Nicht einmal Strom gibt es in den Dörfern, im Park hin- gegen schon – für die Elektrozäune. Sie schreiben, dass Zeugen, die über die Menschenrechtsverletzungen berich- ten, bedroht werden. Wie gefährlich wa- ren die Recherchen für Sie? Als Journalist lebt man im Kongo seit jeher gefährlich. Der Virunga-Nationalpark liegt zudem im Ostkongo, seit über 20 Jahren Kriegsgebiet. Was die Recherche für mich aber besonders gruselig gemacht hat, war fentliche Bewusstsein innerhalb und au- ßerhalb der USA gerufen und zu einem veränderten Blickwinkel auf die vermeint- lich glorreiche Eroberung des „Wilden Westens“ durch weiße Siedler beigetragen. In Wounded Knee geht es im Februar 1973 deshalb um deutlich mehr als die Abset- zung eines korrupten indianischen Politi- kers. Es geht um die katastrophalen sozia- len Zustände in den indianischen Reserva- »Zum bleibenden Vermächtnis der Red-Power-Zeit ge- hört eine bleibende Selbstermächtigung der First Peoples.« Aram Mattioli g a l r e V © tionen überall in den Vereinigten Staaten, es geht um gewaltsame Übergriffe der wei- ßen Mehrheitsgesellschaft, um die Miss- achtung vertraglich zugesicherter Rechte, um den Zwangsverkauf von Land, um kul- turelle Unterdrückung, um die Sterilisation von indigenen Frauen ohne deren Wissen bei Operationen, um die Gängelungen und Schikanen durch die Bundesbörden, kurz: Es geht um all das Unrecht, das die Auflehnung gegen die kulturelle Auslöschung VEREINIGTE STAATEN Aram Mattiolis glänzende Darstellung über die Geschichte indigenen Widerstandes im 20. Jahrhundert ben nicht Terroristen die Elefanten erschos- sen, sondern ugandische Streitkräfte – Part- ner der USA im Kampf gegen den Terror. Mit diesen falschen Annahmen wurde je- doch nie aufgeräumt. Das Narrativ von den Elefanten jagenden Terroristen war zu dienlich. Der Safari-Tourismus ist ja ein wich- tiger Wirtschaftsfaktor. Immer mehr Militärs haben in den Touris- mussektor investiert. Kongos Tourismusmi- nister schlug 2022 vor, die Nationalparks von Generälen der Armee verwalten zu las- sen, um sie besser zu schützen. Das Geld internationaler Geber fließt zunehmend in Anti-Wilderei-Maßnahmen. Kongos Regie- rung nutzt solche Transferzahlungen be- wusst, um möglichst viel Geld herauszuho- len. Der Naturschutz dient als Vehikel, um die Truppen mit modernster Militärtechnik wie Satelliten und Drohnen auszurüsten. Sie haben die Bundesregierung mit den Menschenrechtsverletzungen an den Batwa konfrontiert. Eine Untersuchungs- kommission wurde daraufhin eingerich- tet, Gelder wurden eingefroren, Verant- wortliche gefeuert. Doch die über 30-jäh- rige Zusammenarbeit mit der Natur- schutzbehörde ICCN und den National- parks hat man nicht beendet. Nein. Ob überhaupt diese Schritte unter- nommen worden wären, wenn ich nicht mit meinen Recherchen das Bundesminis- terium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vor mir her getrieben hätte, ist fraglich. Nur zu gern hätte man weiter die Augen vor der Realität verschlos- sen. Es ist zugegebenermaßen auch ein Di- lemma: Die Ampelregierung will in Zu- kunft mit noch viel mehr Geld als bisher im globalen Süden Natur und Artenvielfalt schützen, das hat sie international zugesi- chert. Doch wie will sie das im Einklang mit den Menschenrechten schaffen? Dafür hat sie keinen Plan B. Ihr Hauptvorwurf gegen die Bundes- regierung ist, dass sie auf ein überkom- menes Naturschutzkonzept setzt? Ja, unser Konzept des Naturschutzes in Europa ist noch stark von der Kolonialzeit beeinflusst. Damals wurden Nationalparks als menschenleere Zonen geschaffen: Gan- ze Dörfer mussten für den Wildtierschutz weichen, Tausende Menschen wurden ver- trieben. Wollen wir an solche Konzepten festhalten? Was wäre die Alternative? 20.000 Hektar Regenwald werden im Ostkongo jährlich gerodet. Ja, weil für Millionen Menschen dort Holz- kohle die einzige Energiequelle ist. Wie wäre es denn, wenn wir nicht den Natur- schutz an erste Stelle setzen würden, son- dern die Menschen? Wenn wir uns in der Entwicklungszusammenarbeit verstärkt da- rauf für Stromversorgung, Kläranlagen und Abfall- recycling zu schaffen, würden letztlich bei- de profitieren – Menschen und Natur. Je- den Baum einzuzäunen schaffen wir ohne- hin nicht. konzentrierten, Infrastruktur Das Gespräch führte Sandra Schmid. Ranger im ostkongolesischen Virunga-Nationalpark (Archivbild): In dem mit deutschem Geld finanzierten Schutzgebiet sollen sie Wil- derer bekämpfen. Doch dabei geraten auch Indigene oder örtliche Bauern ins Visier. © picture-alliance/Thomas Imo »Grüner Krieg« AFRIKA Die Journalistin Simone Schlindwein über Menschenrechtsverletzungen im Namen des Naturschutzes die Holzkohlemafia, die in den Wäldern il- legale Köhlereien betreibt. Zu ihr gehören Kämpfer der ruandischen FDLR-Milizen, Völkermord-Täter. Tatsächlich wurde ver- sucht, mich zu entführen, ich bekam mehrfach Drohnachrichten. Die Botschaft war klar: ‚Du kommst hier nicht lebend raus, wenn du nicht sofort verschwindest‘. Das musste ich ernstnehmen. In die Militarisierung des Natur- schutzes, so kritisieren Sie, seien neben Rüstungsfirmen auch internationale Ge- ber und Naturschutzorganisationen wie der WWF involviert. Stolperten sie blau- äugig in die Allianz? War der Krieg ge- gen die Wilderei ein Vorwand? Nein. Als dieser 2012 ausgerufen wurde, gab es den begründeten Verdacht, dass sich Terrorgruppen über den Handel mit Elfen- bein finanzierten. Die Indizien: Getötete Elefanten, islamistische Milizen, die sich in den Parks versteckt hielten, das finanziell enorm lukrative Geschäft mit Elfenbein. Die chinesische Mafia exportiere es ja ton- nenweise nach Asien. Simone Schlindwein: Der grüne Krieg. Wie in Afrika die Natur auf Kosten der Menschen geschützt wird – und was der Mensch damit zu tun hat. Ch. Links Verlag, Berlin 2023; 256 S., 20,00 € Also hat man eins und eins zusam- mengezählt… …ja, es war durchaus logisch, dass man be- gonnen hat, vermeintliche Terroristen zu bekämpfen. Es war die Hochphase des Kampfes gegen den Terror, auch in Afrika. Erst im Nachhinein hat man festgestellt, dass es gar nicht das Elfenbeingeschäft war, mit dem sich die Milizen vorrangig finan- zierten, sondern die Holzkohle. Auch ha- i n a m a s a K c a a s I © Simone Schlindwein Simone Schlind- wein, ist Korres- pondentin der taz in Zentral- afrika. Für „Der grüne Krieg“ war sie für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse no- miniert. indigenen Ureinwohner der USA auch rund 80 Jahre nach dem Ende der soge- nannten „Indianerkriege“ erleiden müssen. Dieses Unrecht beschreibt der Schweizer Historiker Aram Mattioli in seinem hervor- ragend recherchierten und geschriebenen Buch „Zeiten der Auflehnung“ eindrück- lich. Ab der Wende vom 19. zum 20. Jahr- hundert habe die US-Regierung in Wa- shington ein Ethnozid an den indigenen Völkern begangen. Dass diese Politik der „kulturellen Auslöschung“ letzt- endlich nicht von Erfolg gekrönt war, ist in erster Linie jenem indigenen Widerstand im 20. Jahrhundert zu verdanken, den Mattioli erstmals im deutschsprachigen Raum in all sei- nen unterschiedlichen Facetten be- schreibt und analysiert. Es ist das große Verdienst des Autors, dass er die indigenen Völker der USA eben nicht als wehrlose Opfer der Historie beschreibt, sondern die Geschichte ihrer Selbstermächtigung präsentiert, die neben vielen Niederlagen auch erhebliche Erfolge aufweisen kann. Zeitlich knüpft der Histo- riker mit „Zeiten der Auflehnung“ nahtlos an sein 2017 erschienenes Buch „Verlorene Welten“ zur Geschichte der Indianer Nord- amerikas von 1700 bis 1910 an. Mattioli kann abseits der Geschehnisse in Wounded Knee als Ausdruck militanten Widerstandes auf dem Höhepunkt der so- genannten Red-Power-Bewegung von er- staunlichen Dingen berichten: Wer weiß schon, dass 1923 eine Delegation der „Six Nations“, in Deutschland besser bekannt als Irokesen-Konföderation, nach Genf reiste, um vor dem Völkerbund unter Beru- fung auf das von US-Präsident Woodrow Wilson propagierte Selbstbestimmungs- recht der Völker auf nationale Unabhän- gigkeit zu pochen? Oder dass wiederum diese „Six Nations“ 1942 Deutschland, Ita- lien und Japan auf den Stufen des Kapitols in Washington offiziell den Krieg erklärten, um diesen Anspruch zu untermauern? Empathie und Respekt Ganz ohne Zwei- fel zeugen die Bücher Mattiolis von Empa- thie und Respekt gegenüber den indiani- schen Völkern und ihrer Kulturen. Doch zu keinem Zeitpunkt verliert er deswegen die nötige Distanz und Objektivität, die eine wissenschaftliche Darstellung auszeichnen. In der mitunter hitzigen Debatte über die angemessenen Bezeichnungen für die indi- genen Völker bezieht er beispielsweise zwar eindeutig Stellung, mahnt einen re- flektierten Sprachgebrauch an und ver- bannt Begriffe wie „Häuptling“, „Halbblut“ oder „Stämme“ in die „Aservatenkammer kolonialer Sprache“, die „grundsätzlich zu vermeiden“ seien. Umgekehrt weist er da- rauf hin, dass weder im Amerikanischen noch im Deutschen ein allseits akzeptierter Oberbegriff für die Gesamtheit indigener Völker in den USA existiert. Im Deutschen sei der Begriff „Indianer“ nicht eindeutig pejorativ konnotiert und könne aus Sicht von Experten durchaus verwendet werden. Umgekehrt gebe es gute Gründe, auf die- sen Begriff wegen „seines ideologischen Ballastes und der verquasten Assoziatio- nen“ zu verzichten. Er selbst verwendet durchgehend die Bezeichnung „American Indian“ oder „First Peoples“. Zugleich warnt Mattioli angesichts der „semanti- schen Uneindeutigkeit“ vor „Besserwisse- rei“ und zitiert einen Lakota, der lapidar feststellt, sein Volk schere sich nicht groß um Namen. „Wir sehen die Dinge eher lo- cker.“ Alexander Weinlein T Aram Mattioli: Zeiten der Auflehnung. Eine Geschichte des indigenen Wider- standes in den USA. Klett-Cotta, Stuttgart 2023; 464 S., 28,00 €