10 KINDER UND JUGEND Das Parlament - Nr. 30-32 - 24. Juli 2023 Seit Wochen wehen wieder die Regenbogenfahnen überall im Land; vor Bahnhöfen und Rat- häusern oder sie hängen in den Schaufenstern von Geschäften. Unternehmen werben allerorten mit ihrer offenen Einstellung und drucken den Regenbogen, das Zeichen der LSBTIQ- Community (Begriffsdefinition siehe Stich- wortkasten), auf Produktetiketten oder Werbeplakate. Und auch auf Deutschlands Straßen wurde es bunt: Hundertausende Menschen feier- ten in den vergangenen zwei Monaten überall im Land den Christopher Street Day, eine bunte Parade für Offenheit und Toleranz gegenüber der LSBTIQ-Commu- nity. Auch der Bundestag zeigt Flagge, im bereits zweiten Jahr wehte die bunt ge- streifte Fahne anlässlich der Parade über und vor dem Reichstagsgebäude. Doch die Lebenswirklichkeit von homo-, trans- oder intersexuellen Menschen ist oft eine andere, als die bunten, fröhlichen Fei- erlichkeiten einmal im Jahr suggerieren. Die Gesellschaft zeigt sich zwar offen, doch oft genug begegnet sie all jenen, die nicht der Hetero-Norm entsprechen, noch immer mit Ablehnung und Benachteili- gung. Besonders Kinder und Jugendliche leiden stark unter Diskriminierung und Mobbing, wenn sie sich zum Beispiel als schwul oder lesbisch outen – in ihrem familiären Um- feld, aber auch in der Schule und der Ge- sellschaft. Der Verein „Coming out“ unter- stützt junge Menschen in dem Prozess, of- fen zu ihrer sexuellen Orientierung zu ste- hen. Laut Angaben des Vereins haben jun- ge LSBTIQ eine vier- bis siebenmal höhere Suizidrate und leiden öfter an Depressio- nen, Essstörungen und selbstverletzendem Verhalten als ihre Altersgenossen. Homophobie an Schulen Eine Umfrage des NDR unter den 16 Landesschülerver- tretungen in Deutschland und der Ge- werkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) aus dem vergangenen Jahr zeigte, dass an den Schulen in Deutschland noch immer zu wenig für die Akzeptanz quee- rer Schülerinnen und Schüler getan wird: „Queerfeindlichkeit, Homophobie, Transphobie und Diskriminierung sind in der Schule leider immer noch Alltag”, sagte dazu Julius van der Burg von der „Landesschüler*innenvertretung NRW“. Gerade in den unteren Klassenstufen sei das Thema stark tabuisiert und ein Co- ming-out ohne negative Konsequenzen oft nicht möglich. Die GEW kritisierte, dass selbst im Sexual- kunde-Unterricht queere Themen zu wenig vorkämen. „An den Schulen liegt immer noch der Fokus auf gegengeschlechtlicher heterosexueller Liebe, oftmals gebunden an traditionelle Rollenklischees“, sagte Ja- nina Glaeser aus dem GEW-Hauptvorstand im Zuge der Umfrage. Doch während die eine Seite mehr Offen- heit im Umgang und eine Reform des Se- xualkundeunterrichts an Schulen fordert, wollen andere Kräfte genau das Gegenteil. In den USA wird die Debatte über Sexual- erziehung in der Schule bereits seit Jahren hitzig geführt; oft befeuert von extrem kon- servativen, christlichen Gruppen. Und sie schlägt sich sogar in der Gesetzgebung nie- der: Im März 2022 hat Ron DeSantis, Gou- verneur des US-Bundesstaates Florida und aktuell auch Präsidentschaftskandidat der Republikaner für die Wahl 2024, das als „Don’t say gay“ („Sag nicht ‚schwul‘“) be- kannte Verbot des Unterrichts über sexuel- le Orientierung und Geschlechtsidentität von der Grundschule bis zur Klasse 12 aus- geweitet. Unterstützer des Gesetzes argumentieren, dass es jeder Familie freigestellt sein müsse, über das Thema zu Hause zu sprechen und damit die Kontrolle darüber zu behalten, Lieb’ doch, wen du willst? SEXUELLE ORIENTIERUNG LSBTIQ-Jugendliche leiden häufig unter Diskriminierung und Mobbing Farbe bekennen für eine offene Gesellschaft: Jugendliche beim evangelischen Kirchentag in Nürnberg © picture-alliance/epd-bild/T. Wegner was ihre Kinder erführen. Diese hätten sie nicht, wenn in der Schule über die ver- schiedene Formen der sexuellen Orientie- rung informiert werde. Kritikerinnen und Kritiker wiederum befürchten Zensur, eine weitere Marginalisierung der Minderheit und negative Folgen für die rund 114.000 queeren Jugendlichen, die nach Angaben des „Time Magazine“ in Florida leben. Auch Thesen in Hochumstrittene Deutschland wird seit einigen Jahren von seiten rechtspopulistischer und christlich- konservativer Vereine in diese Richtung ar- gumentiert. So fand im Jahr 2015 die „De- mo für alle“ statt und es wurde eine Petiti- on gestartet, um die „Abwertung und Ge- fährdung“ der traditionellen Familie und der Ehe zwischen Mann und Frau aufzu- halten. Kinder und Jugendliche würden durch die Thematisierung von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt im Unterricht „umerzogen“ und „frühsexualisiert“. Der Begriff der „Frühsexualisierung“ taucht seitdem vermehrt auf und wird auch von Politikerinnen und Politikern benutzt. Die Webseite „genderdings.de“ des Berliner für Bildung und For- Dissens-Instituts schung definiert die Theorie der „Frühse- xualisierung“ so: „Damit ist gemeint, Kin- der und Jugendliche würden durch die Be- schäftigung mit Sexualität, sexueller und geschlechtlicher Vielfalt im Schulunterricht überfordert. Sie würden in ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identität verunsichert und sogar homosexuell gemacht.“ Diese letzte Annahme ist so falsch wie beispiels- weise die lang vertretene These, Homose- xualität sei eine „Krankheit“ die man mit- tels Elektroschock-Therapie heilen könne. Auch Teile der AfD fürchten, dass Sexual- kundeunterricht, der über alle Formen der sexuellen Orientierung aufklärt, zu einer „Umerziehung“ führt. In ihrer „Magdebur- ger Erklärung“ forderten Landtagsabgeord- nete der Partei 2016 deshalb eine Eingren- zung des Unterrichts: „Eingedenk der ho- hen Bedeutung der Familie […] wenden wir uns […] entschieden gegen alle Versu- che, andere Formen des Zusammenlebens und Sexualverhaltens gleichwertig neben Ehe und Familie zu stellen.“ Elena Müller T > S T I C HW O RT LSBTIQ+, queer und cisgender > LSBTIQ+ Unter dem Akronym versam- meln sich lesbische, schwule, bisexuelle, trans, inter und queere Menschen. Es gibt unterschiedliche Kombinationen, die auch vom jeweiligen Sprachraum ab- hängig sind. Häufig werden zudem Sternchen (*) oder Pluszeichen (+) ver- wendet, um möglichst alle Menschen in die Bezeichnung einzuschließen. > Nicht heteronorm Als „queer“ be- zeichnen sich alle Menschen, deren se- xuelle Orientierung nicht heterosexuell ist sowie Menschen mit Geschlechtsi- dentitäten, die nichtbinär oder nicht-cis- gender sind. > Biologisches Geschlecht Cisgender Menschen sind all jene, die in dem Ge- schlecht leben, das nach ihrer Geburt verkündet wurde. »Sexting ist per se nichts Verwerfliches« MEDIEN Pädagogin Bode über Freiheit und Verbote Frau Bode, wenn Jugendliche Nacktbil- der auf dem Handy verschicken, sogenann- tes Sexting, das kann per se nichts Gutes sein, oder? Es ist als erstes ganz wichtig, den Begriff Sex- ting genau zu definieren. Denn im gesell- schaftlichen Diskurs werden Begriffe oft ver- mischt. Wenn von Sexting gesprochen wird, wird der Begriff oft undifferenziert genutzt und mit Begriffen wie Cybergrooming oder Sextortion vermischt. Hinter Sexting, also dem freiwilligen und privaten Versenden von erotischem Material, kann auf jeden Fall auch etwas Gutes stecken. Ich würde mich bei der Definition gerne an die der Wissen- schaftlerin Nicola Döring anlehnen. Sie be- schreibt Sexting als den privaten und einver- nehmlichen Austausch von selbstproduzier- tem erotischem Material - vor allem Bilder und Videos - sogenannten Sexts, zwischen zwei Personen über digitale Medien. Wichtig dabei ist, dass der Inhalt der Sexts privat ist, einvernehmlich und freiwillig selbst produ- ziert wurde; zudem impliziert er nicht unbe- dingt Nacktheit. Im Bereich von Jugendli- chen ist Sexting rechtlich erlaubt, wenn bei- de Personen mindestens 14 Jahre und noch nicht 18 Jahre alt sind. Es ist also erst einmal eine Ausdrucksform von Sexualität, also per se nichts Verwerfliches. Sexting kann für Ju- gendliche einen Beitrag zur Entwicklung der eigenen Sexualität und zur Identitätsbildung leisten. Aber doch hängt dem Sexting irgend- wie ein schmuddeliger, gar gefährlicher Ruf an… Da liegt daran, dass wir es oft nur themati- sieren, wenn es „schiefgegangen“ ist. Also wenn Sexts unter Jugendlichen unerlaubt weitergeleitet wurden, zum Beispiel in den Klassenchat, und es infolgedessen zu massi- ven negativen Auswirkungen für die betroffe- ne Person kommt. Außerdem ist es ein Pro- blem, wenn wir aus einer adultistischen Per- spektive über das Thema sprechen. Wenn al- so Erwachsene eine Meinung zu etwas haben und es vielleicht verurteilen, obwohl sie sich nicht wirklich damit auskennen. Damit sug- geriere ich den Jugendlichen unter Umstän- den, dass es grundsätzlich nicht in Ordnung ist, was sie tun. Aber Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf digitale Teilhabe, auch im sexuellen Bereich. Doch sie haben auch ein Recht auf die nötige Medienkompetenz, um sie vor Missbrauch bestmöglich zu schüt- zen – durch ihre eigene Kompetenz und die der Erwachsenen um sie herum. Was braucht es für diese Medienkom- petenz? Man muss genau besprechen: Was ist eigent- lich ok, was ist nicht ok, wie ist die gesetzli- che Regelung? Es geht darum, zu differenzie- ren und gemeinsam Grenzen zu setzen. Gleichzeitig muss man Kinder und Jugendli- che im Sinne der Kinderrechte befähigen, selbst die richtigen Entscheidungen treffen zu können. Und wenn es zu einem Miss- brauch kommt, dann müssen sie genug Ver- trauen in die sie umgebenden Erwachsenen haben, um davon zu erzählen, damit sie Un- terstützung bekommen. Sexting sollte als ein Teil der Jugendphase gesehen werden. Als zeitgemäße, wenn auch risikoreiche Antwort auf Entwicklungsaufgaben in der Pubertät. Selbstdarstellung, Flirten, Anerkennung in der Peer Group; all das spielt eine Rolle. Sich nur auf den Schutzaspekt zu konzentrieren, indem alles verboten wird, führt dazu, dass die Kinder und Jugendlichen keine Kompe- tenz in der Risikoeinschätzung lernen. Man kann Jugendliche also bestmög- lich befähigen, die richtigen Entscheidun- gen zu treffen. Und doch kann man den Missbrauch nicht verhindern. Sei es das Weiterleiten von Bildern im Klassenchat oder Übergriffe durch erwachsene Straftä- ter. Das stimmt. Dann ist es wichtig, dass er- wachsene Ansprechperson etabliert sind, de- nen die Jugendlichen vertrauen. Und es ist sehr wichtig, das Victim Blaming zu vermei- den, also nicht zu vermitteln: „Du bist ja selbst schuld, dass das die Runde gemacht hat, warum machst du auch solche Fotos von dir.“ Man muss der jungen Person zur Seite zu stehen und vermitteln, dass das Schlimme nicht ist, dass die Fotos angefer- tigt worden sind, sondern dass sie unrecht- mäßig weitergeleitet wurden. dahingehend Was ist mit dem Missbrauch durch Se- xualstraftäter? Ist die Teilhabe der Jugend- lichen nicht ein Einfallstor für schwere Straftaten? So schwer das ist: Missbrauch wird sich kaum ganz verhindern lassen, das ist ja auch in anderen Bereichen der digitalen Welt so. Die einzige Antwort darauf wäre, die absolu- te Abstinenz zu fordern. Es ist gut, dass das Sexualstrafrecht angepasst wurde, um Täter besser zur Rechenschaft zie- hen zu können. Und es ist absolut schlimm, dass es diese Taten gibt, ich möchte das nicht relativieren. Aber ich kritisiere, dass Kindern und Jugendlichen, um so etwas zu verhindern, ihr Recht auf digitale Teilhabe abgesprochen wird. Da bleibt natürlich eine kaum aufzulösende Spannung: Inwiefern sorgen wir für den Schutz von Kindern und Jugendlichen, ohne ihre Möglichkeiten im digitalen Kontext einzuschränken und wo müssen wir bei den technischen Schutzein- stellungen und der Kompetenzförderung nachbessern. Was wünschen Sie sich bei diesem The- ma vom Gesetzgeber? Ich bin der Meinung, das Strafrecht müsste dahingehend angepasst werden, dass weni- ger schwerwiegende Fälle unter Jugendlichen individuell wegen Geringfügigkeit eingestellt werden können. Momentan fallen Jugendli- che auch dann in den Strafrechtsbereich, wenn sie Bilder von Minderjährigen auf dem Handy haben, aber selbst nicht die Schuld daran tragen. Wenn etwa eine Person in ei- nem Messengerdienst ein Bild verschickt und das automatisch heruntergeladen wird, dann habe ich das auf dem Handy, obwohl ich das gar nicht wollte und mache mich wegen des Besitzes von kinderpornografi- schem Material sollte mehr Spielraum geben, das zu bewerten. Außer- dem sollte es zu einer einheitlichen gesetzli- chen Wertung von sexuellem Verhalten Ju- gendlicher in digitalen und analogen Le- benswelten kommen. strafbar. Es Das Gespräch führte Elena Müller. ZUR PERSON Larissa Bode, Jahrgang 1996, ist Kinder- und Jugendschutzre- ferentin bei der AG Kinder- und Jugend- schutz Hamburg e.V. Dort ist ihr Schwer- punkt die Prävention g r u b m a H s j a © digitaler und analoger Gewalt. Die neue Straße ist das Netz STREETWORK Die digitale Lebenswelt gewinnt immer mehr an Bedeutung, doch die Jugendarbeit entwickelt sich nicht im gleichen Tempo mit immer im Gepäck: Wenn Sozialarbeiterin Maria Richter im Dresdener Süden mit dem Bus der Mobi- len Jugendarbeit Prohlis unterwegs ist, ist eins ihr Dienst- Smartphone. „Digital und analog läuft bei uns parallel – während einer den Bus fährt, postet ein anderer auf unseren Social Me- dia-Accounts, wo wir unterwegs und an- sprechbar sind“, erzählt Richter. Die Street- workerin und ihre beiden Kollegen (Foto) sind im Rahmen des Projekts der Mobilen Jugendarbeit Dresden-Süd unterwegs, um in den Stadtteilen Gesprächs- und Bera- tungsangebote zu machen. Gleichzeitig möchten sie auch da Präsenz zeigen, wo Jugendliche einen Großteil ihres Alltags verbringen: online. „Wir haben unsere Pro- file in sozialen Netzwerken wie Instagram in den letzten Jahren stark ausgebaut, weil wir an dieser Lebenswelt nah dran sein wollen und darin viel Potenzial liegt, junge Menschen zu erreichen“, erklärt Richter. Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren sind durchschnittlich 67,8 Stunden pro Wo- che online, also knapp zehn Stunden am Tag – das hat die letzte Postbank Jugend-Di- gitalstudie ergeben. 2019, vor Ausbruch der Pandemie, lag der Wert noch bei 58 Stun- den. Weitet man den Blick, kommen laut der ARD/ZDF-Onlinestudie aus dem Jahr 2022 auch die 14- bis 29-Jährigen auf fast sieben Stunden (413 Minuten) tägliche Nutzungsdauer. In der Altersgruppe liegt bei den Social Media Apps Instagram mit 74 Prozent weit vor Snapchat (47 Prozent), TikTok (44 Prozent) und Facebook (42 Pro- zent). Verzahnung „Wenn wir unterwegs sind, weisen wir oft auf unsere Profile hin und geben mit, dass man uns kontaktieren kann, wenn ein Thema aufkommt“, sagt Richter. Häufig gehe es im Netz um einen Erstkontakt, dem die drei Streetworker re- lativ bald ein persönliches Gespräch als Angebot folgen lassen. Ausführliche Bera- tung finde über soziale Medien und Mes- senger nicht statt – auch aus Datenschutz- gründen. Bei den Anfragen gebe es eine große Bandbreite, erzählt Richter: von Fra- gen zur Jobsuche, Beantragung von Leis- tungen wie Bürgergeld über Ideen für die Veränderung des Stadtteils bis hin zu auf- enthaltsrechtlichen Fragen, Suchtthemati- ken oder persönlichen Belastungen. „Digital Streetwork würde ich es in unse- rem Fall nicht nennen – es ist mehr ein Ka- nal, über den man uns kontaktieren kann und Informationen bekommt oder sich be- teiligen kann, zum Beispiel über Umfra- gen“, sagt Richter. Als die Energiekrise ein großes Thema war, habe das Team darüber eine Frage der Ressourcen. Zu dritt teilen sie sich zwei Vollzeitstellen: „Das Digitale ist noch zusätzlich dazu gekommen, wir haben aber nicht mehr Stellen oder Mittel bekommen“, erklärt Richter die Gründe. Auch beim Erstellen von Content wären sie gern aktiver. Die Stadtteile seien durch Se- gregation geprägt und es gebe viele zugezo- gene oder eingewanderte Menschen. „Da ist in jedem Fall ein größerer Bedarf da, als wir abdecken können“, sagt sie. „Digital Digital Streetwork Das stellt auch das Modellprojekt Streetwork“ des Bayerischen Jugendrings fest: Für die sieben bayerischen Regierungsbezirke wurden 2021 – anfänglich als Unterstützung in der Coro- na-Pandemie gedacht – 14 Digital Street- worker angestellt, die das Internet als die „neue Straße“ verstehen: Sie versuchen ana- loge Streetwork-Formate dorthin zu überset- zen, beraten junge Menschen aus Bayern di- rekt in den sozialen Netzwerken oder Mes- senger-Diensten und testen immer wieder neue Plattformen aus. „Viele Jugendliche haben keinen Anschluss mehr an die etab- lierten Hilfesysteme. Das hat sich durch die Pandemie noch verstärkt, geht aber natür- lich auch mit der zunehmenden Digitalisie- rung und der Verdrängung junger Menschen aus öffentlichen Orten einher“, erklärt Pro- jektleiter Jonas Lutz. Sein Ziel ist, dass das Modellprojekt auch im Jahr 2024 fortge- setzt wird: „Wir könnten doppelt so viele Streetworker beschäftigen und es hätten im- mer noch alle genug zu tun“, betont er. Die Idee der Jugendsozialarbeit, die im In- ternet aufsucht, kommt aus Skandinavien und wurde in Deutschland zum Beispiel in der digitalen Extremismusprävention aufge- griffen. In Bayern arbeiten die digitalen Streetworker jedoch komplett themenoffen: „Die Themen reichen von einfach nur mit jemanden reden wollen über familiäre Pro- bleme, Einsamkeit bis hin zu häuslicher Ge- walt oder der Suche nach einem Therapie- platz“, erzählt Streetworker Eike Müller, der für den Raum Unterfranken zuständig ist. Häufig habe er mit Anfragen rund um das Thema psychische Gesundheit zu tun. Sein Arbeitsalltag ist davon geprägt, zu schauen, wo genau er unterstützen kann oder welche Stellen es vor Ort gibt, an die sich jemand wenden kann. Mit seinen Profilen ist er mo- mentan vor allem auf Jodel, Discord und TikTok aktiv, sein Kollege deckt andere Plattformen ab. Überall gleichzeitig an- sprechbar zu sein, geht nicht, denn auf je- der Plattform wird anders kommuniziert „Es soll so einfach wie möglich sein, Hilfe in Anspruch zu nehmen“, erklärt Müller die Grundidee. Dabei mache er immer nur Angebote und schreibe Leute nicht direkt an. Über die Homepage des Projekts kön- nen die Jugendlichen die Streetworker veri- fizieren. Nach persönlichen Daten werde nur gefragt, wenn es für die Beratung nötig sei – jeder kann anonym bleiben. Praktisch sieht das oft so aus, dass Müller Kommen- tare unter Beiträgen hinterlässt die unge- fähr so lauten: „Wenn du darüber reden willst, kannst du mich gern anschreiben“. Das werde rege in Anspruch genommen: „Bis April haben unsere Streetworker über 6.000 Kontakte mit jungen Menschen ge- habt, über 2.500 Beratungsgespräche ge- führt und in 300 Fällen ist es gelungen, junge Menschen an das Hilfesystem zu ver- mitteln“, erzählt Projektleiter Lutz. Dass di- gital Streetwork als Ergänzung verstanden wird, ist beiden wichtig: Es brauche immer Unterstützungsmöglichkeiten vor Ort. Eike Müller geht davon aus, dass sich sein Arbeitsfeld weiter etablieren wird. Immer wieder bekomme er das Feedback, dass es solch ein Angebot auch in anderen Bun- desländern brauche. „Digital Streetwork ist etwas, das eine gewisse Überregionalität braucht – anders als die Jugendhilfe, die sehr lokal geregelt ist“, erläutert Lutz. Egal wo: Was überall nötig ist, ist eine Jugendar- beit, die – on- und offline – Hand in Hand arbeitet. Lisa Brüßler T h c s z t r a H n i t n a t s n o K © Das Team der Mobilen Jugendarbeit Prohlis Hinweise bekommen, was junge Menschen umtreibt und worauf in Beratungen ver- stärkt hingewiesen werden könne – ob Tipps für den Alltag oder konkrete Angebo- te von Beratungsstellen. Gerne wären die Dresdener Streetworker noch mehr in sozialen Netzwerken unter- wegs, zum Beispiel auf TikTok – nur ist das