Das Parlament - Nr. 42 - 14. Oktober 2023 FRANKFURTER BUCHMESSE 7 eines Das englische Wort „Trig- ger“ stammt aus der Ky- bernetik, laut Duden handelt es sich um ein „Schaltelement zum Aus- lösen anderen Schaltvorgangs”. Im Deutschen wird es heute vor allem in Psychologie und Phy- siotherapie verwendet, wenn bestimmte Reize bei Menschen heftige emotionale Re- aktionen auslösen. Die Berliner Wissen- schaftler Steffen Mau, Thomas Lux und Li- nus Westhuser haben den Begriff nun auf die soziologische Forschung übertragen. In ihrem Buch „Triggerpunkte“ untersuchen sie auf empirischer Basis zentrale Kontro- versen und Konfliktlinien, die gesellschaft- liche Polarisierung befördern. Das Konzept zielt auf „jene neuralgischen Stellen, an de- nen Meinungsverschiedenheiten hoch- schießen, an denen Konsens, Hinnahme- bereitschaft und Indifferenz in deutlich ar- tikulierten Dissens, ja sogar Gegnerschaft umschlagen“. Studienleiter Mau ist Professor für Makro- soziologie an der Humboldt-Universität, seit 2021 gehört er dem Sachverständigen- rat der Bundesregierung für Integration und Migration an. Einer breiteren Öffent- lichkeit bekannt wurde er durch sein Buch „Lütten Klein”, einer von persönlichen Er- fahrungen inspirierten Sozialgeschichte je- nes Plattenbauviertels in Rostock, in dem der Autor aufgewachsen ist. In unmittelba- rer Nähe liegt der Ortsteil Lichtenhagen, der Anfang der 1990er Jahre durch gewalt- tätige Angriffe auf Asylbewerber und Ver- tragsarbeiter traurige Berühmtheit erlangte. Spaltungsdiagnosen In der Einleitung nutzt das Forschungsteam einen bildlichen Vergleich aus der Tierwelt. Die „Kamelge- sellschaft” symbolisiert mit zwei Höckern die tiefe Spaltung in verfeindete ideologi- sche Lager. Ein prägnantes Beispiel dafür sind spätestens seit der Trump-Präsident- schaft die Vereinigten Staaten. Dem steht die harmonischer strukturierte „Dromedar- gesellschaft” gegenüber: Eine einzige breite Erhebung auf dem Rücken soll illustrieren, dass die politischen Akteure wie auch ihre Wählerschaft viel stärker zur gesellschaftli- chen Mitte tendieren als zu den Rändern, dort ohne grundsätzliche Vorbehalte mitei- nander kommunizieren und kooperieren. Diese Beschreibung, signalisieren die Ver- fasser schon auf den ersten Seiten, passe besser zur Situation in Deutschland. Trotz aller Debatten über Politikverdrossenheit und hoher Umfragewerte für die Protest- partei AfD sei die deutsche Gesellschaft im internationalen Vergleich wenig gespalten, es gebe eine relativ geringe „affektive Pola- risierung”. Dazu trage auch das Verhältnis- wahlrecht bei, im positivem Kontrast etwa zum Zwei-Parteien-System in Großbritan- nien mache es kleinere Parteien und Strö- mungen parlamentarisch sichtbar. In einem besonders interessanten Kapitel kritisieren Mau, Lux und Westhuser die ständigen „Spaltungsdiagnosen“, die in der Historie immer wieder auftauchen, also keineswegs ein neues Phänomen sind. Ist die aktuell viel bemühte These von der Po- larisierung also aufgebauscht, nur herbei- geredet? Arenen des Konflikts Im empirischen Teil untersuchen die Wissenschaftler vier Trig- gerpunkte als zentrale „Konfliktarenen der Ungleichheit”: Soziale Gegensätze zwi- schen Arm und Reich (Oben-Unten), Mi- gration (Innen-Außen), Identitätspolitik (Wir-Sie) und Klimaschutz (Heute-Mor- gen). Zweifellos sind damit wichtige Felder der aktuellen politischen Auseinanderset- zung benannt, doch die Fokussierung wirft auch Fragen auf: Zwei äußerst umstrittene und emotional besetzte Themen aus jüngs- ter Zeit, der Umgang mit der Corona-Krise und mit dem Krieg in der Ukraine, werden ausgespart. Unerklärt bleibt, ob das an den zu früh erhobenen Daten liegt oder welche Konfrontation: Klimaaktivisten und aufgebrachte Autofahrer © picture-alliance/SULUPRESS.DE/Marc Vorwerk Ein Dromedar SOZIOLOGIE Trotz aller Trigger ist die deutsche Gesellschaft viel weniger polarisiert als vielfach angenommen Gründe es sonst dafür gibt. Problematisch ist es auf jeden Fall. Denn die politische „Taxonomie”, die die Wissenschaftler im zweiten Teil des Buches entwickeln – die Grünen stehen immer ganz oben auf der progressiven Skala, die AfD fungiert stets weit unten – ist gerade bei diesen beiden vernachlässigten Debat- ten nicht besonders stimmig. Neben den Rechtspopulisten sind auch Teile der Lin- ken gegen Waffenlieferungen, warnen vor der Gefahr eines Atomkriegs und plädieren für mehr Diplomatie. Und vor allem Libe- rale, allen voran Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP), haderten, neben kritischen Wissenschaftlern und den be- sonders betroffenen Künstlern, mit der Einschränkung von Freiheitsrechten wäh- rend der Pandemie. Steffen Mau, Thomas Lux, Liinus Westheuser: Triggerpunkte. Konsens und Konflikt. Suhrkamp, Berlin 2023; 540 S., 25,00 € Solche widersprüchlichen und irritieren- den Konstellationen müssten eigentlich ein besonderes wissenschaftliches Interesse wecken. Zudem stützen sie in besonderem Maße die „Dromedar“-These von Mau, Lux und Westhuser, der zufolge eine klare Po- larisierung in Deutschland gar nicht exis- tiert. Das Forschungsdesign aber führte in der Auswertung dann doch wieder zu etwas schablonenhaften Ergebnissen – und be- stätigt so die alte Theorie von politisch konträren Welten in modernisierter Form. Dennoch sind die „Triggerpunkte” eine der wichtigsten Neuerscheinungen des Bü- cherherbstes. Thomas Gesterkamp T Unerwünscht erfolgreich JOURNALISMUS Reporterinnen im Zweiten Weltkrieg Das Foto von Lee Miller in Adolf Hitlers Badezimmer ging um die Welt: Aufgenom- men von einem Kollegen posiert die ame- rikanische Fotografin nackt in der Bade- wanne, davor ein Paar schmutzige Sprin- gerstiefel, dahinter auf dem Wannenrand ein Porträt des Führers. Miller war eine der ganz wenigen Kriegsre- porterinnen im Zweiten Weltkrieg, die mit ihren Bildern und Berichten erstmalig ei- nen weiblichen Blick auf das „Männerge- schäft Krieg“ vermittelten. Sechs dieser Pio- nierinnen hat die britische Journalistin und Autorin Judith Mackrell ein literari- sches Denkmal gesetzt: In ihrem detailge- nauen und unterhaltsamen Buch „Frauen an der Front“ verknüpft sie geschickt die Chronologie der Ereignisse zwischen 1936 und 1945 mit den Lebenswegen der Repor- terinnen – darunter nicht nur Lee Miller und Martha Gellhorn, die auch aufgrund ihrer Beziehungen zu berühmten Männern wie Foto-Künstler Man Ray und Schriftstel- ler Ernest Hemingway zu den bekannteren Vertreterinnen ihres Metiers gehören. Im Fokus stehen auch die zwischenzeitlich in Vergessenheit geratenen Korrespondentin- nen Virginia Cowles, Clare Hollingworth, Helen Kirkpatrick und Sigrid Schultz. Berichte aus der Gefechtszone Ob sie direkt aus dem Machtzentrum der Nazis in Berlin berichteten, den D-Day in der Nor- mandie oder das Grauen der Konzentrati- onslager dokumentierten: Mackrell be- schreibt, wie die Frauen trotz vieler Widrig- keiten und unter hohem persönlichen Risi- ko ebenso versiert wie erfinderisch agier- ten, um ihre Berichte aus der Kampfzone an die Heimatredaktionen zu übermitteln: Sigrid Schultz etwa, Leiterin des Berliner Büros der Chicago Tribune, führte ein Doppelleben. Sie pflegte freundschaftliche Kontakte zu Nazi-Größen wie Hermann Göring und schrieb ihre kritischen Artikel unter männlichem Pseudonym. Martha Gellhorn schmuggelte sich an Bord eines Lazarettschiffs, um als blinder Passagier die Landung der Alliierten in der Normandie zu beobachten. Undercover war auch Clare Hollingworth unterwegs und landete prompt einen „Scoop“: Der Britin gelang es, deutsche Truppen an der polnischen Grenze auszu- kundschaften und am 29. August 1939 als Erste den unmittelbar bevorstehenden Aus- bruch des Zweiten Weltkriegs zu melden. So erfolgreich der Einsatz der Frauen, so ungewöhnlich und unerwünscht war er letztlich doch: Die längste Zeit des Krieges blieb den Reporterinnen vor allem mit Ver- weis auf die ungelöste „Toilettenfrage“ der Zugang zu den Kampfzonen verwehrt. Nach dem Krieg wurden sie gefeiert, sahen sich aber dennoch mit Arbeitslosigkeit konfrontiert. Redaktionen wurden verklei- nert, Aufträge wieder an männliche Kolle- gen vergeben. Sandra Schmid T Judith Mackrell: Frauen an der Front. Kriegsreporterinnen im Zweiten Weltkrieg. Insel, Berlin 2023; 541 S., 28,00 € Das Rätsel Erich Kästner BIOGRAFIE Warum blieb der Autor 1933 in Deutschland? Thomas Mann, Bertolt Brecht, Kurt Tuchol- sky, Stefan Zweig, Erich Maria Remarque, Anna Seghers, Carl Zuckmayer – diese Schriftsteller und Schriftstellerinnen und viele, viele mehr gingen nach der Machter- greifung der Nationalsozialisten in die Emigration. Erich Kästner nicht. Warum der Erfolgsautor („Emil und die De- tektive“, „Das fliegende Klassenzimmer“) sich entschied, in Nazi-Deutschland zu blei- ben, das ist die Frage, die Tobias Lehmkuhl auf Spurensuche gehen ließ. Das ist das Rät- sel, das auch nach der Lektüre von dessen lesenswertem Buch „Der doppelte Erich“ nicht gelöst ist, aber doch wohl einer Lö- sung so nahe kommt, wie es eben geht. Kästner blieb – dabei kann es an seiner Hal- tung zum Regime keinen Zweifel geben: Er hatte ein Spottgedicht über Hitler geschrie- ben, sich in seinem Roman „Fabian“ über das Fußvolk der NSDAP lustig gemacht, galt als links, war Antimilitarist und allein schon deswegen den Nazis ein Dorn im Au- ge. Kästner blieb nicht nur, er schrieb auch weiter, publizierte im Ausland. Die Gründe für den Entschluss „waren vielfältig und komplex“, schreibt Lehmkuhl. Er sucht, mutmaßt, so gewesen sein?), um Fairness bemüht, keinem vorge- fassten Urteil folgend nähert er sich Grün- den und Begründungen, prüft sie auf Wahr- scheinlichkeit und Plausibilität, benennt Widersprüchliches. Weder verurteilt Lehm- kuhl noch schont er den Gegenstand seiner Untersuchung. Drei Punkte sind es vor allem, die Lehm- kuhl aufgreift. Da ist zum einen das sehr spezielle Verhältnis zur Mutter, der er bis zum ihrem Lebensende täglich einen (Lie- bes-)Brief schrieb, für die er sorgte, die er (könnte es fragt in jüngeren Jahren mehrmals davon hatte abhalten müssen, sich das Leben zu neh- men. Da ist zum anderen die Notwendig- keit, Geld zu verdienen. Kästner war im Jahr der Machtergreifung 34 Jahre jung, auf dem Höhepunkt seines Ruhms – und es fiel ihm, wie Lehmkuhl vermutet, „si- cherlich schwer, mit einem Schlag aufzu- geben, was er sich in den letzten fünf Jah- ren aufgebaut hatte“, zumal er sich als nicht dezidiert politischer Autor weniger persönlich gefährdet sah als andere. Und da ist Kästners Selbstaussage aus dem Jahr 1933, dass er in Deutschland bleiben wol- le, um Augenzeuge zu sein und den Ro- man der Nazidiktatur zu schreiben. Dann frage man sich, schreibt Lehmkuhl, „wie- so dieser Augenzeuge bis 1941 kein Tage- buch geführt und sich, soweit wir wissen, auch sonst keine Notizen“ für einen Ro- man gemacht hat “ Auch das will der Au- tor nicht als Vorwurf verstanden wissen: Wer Kästner unterstellen wolle, dass er sich hier und da duckte, statt aktiv zu wer- den, der müsse sich fragen, wie er sich selbst in so einer Situation verhalten hät- te, schreibt Lehmkuhl. Michael Schmidt T Tobias Lehmkuhl: Der doppelte Erich. Kästner im Dritten Reich. Rowohlt Berlin, Berlin 2023; 304 S., 24,00 € Verzerrte Wahrnehmung »Die Eigenart der Südländer« RAUSCHMITTEL LSD zwischen »Wahrheitsdroge«, Hippie-Trip und Alzheimer-Medikament GESELLSCHAFT Stephan Anpalagan über den Kampf um Anerkennung in der Mitte Nazis und Drogen: Das zieht immer. Stimmt natürlich, einerseits, andererseits würde diese Erkenntnis dem neuen Buch von Norman Ohler „Der stärkste Stoff“ nicht gerecht, denn der Autor hat sich wie- der in abseitige Archive vergraben und in- teressantes Material geschürft. Dem Autor ist 2015 mit seinem Buch „Der totale Rausch“ über die Nutzung der Droge in Hitlers Pervitin (Methamphetamin) Blitzkrieg und über Aufputschmittel für den „Führer“ selbst eine beachtliche Analy- se gelungen. Nun sorgt Ohler mit einem neuen Drogenbuch für literarischen Nach- schub. Auch diesmal spielen die Nazis und der Krieg eine Rolle, aber nicht nur das. Vielmehr analysiert der Autor am Beispiel der Droge LSD (Lysergsäurediethylamid), welche Zufälle zwischen der Entdeckung von Wirkstoffen und ihrer späteren Nut- zung liegen können. LSD wurde 1943 von dem Schweizer Che- miker Albert Hofmann entdeckt, der da- mals wohl auch den ersten LSD-Rausch er- lebte. LSD ist ein Wirkstoff, der aus dem Mutterkorn gewonnen wird, einem Pilz, der in Getreideähren zu finden ist. Eigent- lich ist das Mutterkorn ein Schädling, der in der Landwirtschaft bekämpft wird, frü- her aber auch genutzt wurde, um Wehen einzuleiten sowie als blutstillendes Mittel bei Geburten. Auf der Suche nach interes- santen Mutterkornalkaloiden synthetisierte Hofmann damals auch das Lysergsäuredie- thylamid und konnte bei Tierversuchen zu- nächst keine besondere Wirkung feststel- len. Fünf Jahre später befasste sich Hof- mann erneut mit LSD und entdeckte die halluzinogene Wirkung der Substanz im Selbstversuch. So stark die psychotrope Wirkung ist, LSD macht nicht abhängig. Schon in geringen Dosierungen bewirkt LSD jedoch einen veränderten Bewusstseinszustand. Bei ei- nem LSD-Trip sehen Menschen ihre Um- welt oft in phantastischen Formen und Far- ben, Raum- und Zeitempfinden sind stark verzerrt, die Droge bewirkt Ekstase und be- fördert die Kreativität, kann aber auch Norman Ohler: Der stärkste Stoff. Psychedelische Dro- gen: Waffe, Rausch- mittel, Medikament. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023; 272 S., 24,00 € Angst auslösen und Horrortrips. Zeitweilig war es die Lieblingsdroge der Hippie-Bewe- gung. Ohler unterscheidet das LSD als Me- dikament, „Waffe“ und Rauschmittel. Sei- ne Spurensuche führt ihn zum früheren Hersteller Sandoz in die Schweiz und in die USA. Er beschreibt, wie erst die Nazis und nach dem Krieg die USA auf der Suche nach einer „Wahrheitsdroge“ mit LSD ex- perimentieren. Systemfeinde sollten zum Sprechen gebracht oder willenlos gemacht werden. Schließlich widmet sich Ohler der medizi- nischen Forschung und der hochaktuellen Frage, was psychedelische Substanzen, da- runter LSD und Psilocybin, bei der Thera- pie von psychischen Erkrankungen leisten könnten. Es geht ihm unter anderem um die Wirkung von LSD auf Patienten mit Alzheimer. Ohler spricht nachvollziehbar von einer Pandemie der Demenz und fragt sich, warum das verbotene LSD nicht ge- zielt eingesetzt wird in der Psychiatrie und bei neurodegenerativen Erkrankungen, da positive Wirkungen belegt seien. Ohler bietet spannende Fakten und inte- ressante Thesen in einem unterhaltsamen Buch. Als guter Erzähler verbindet er ge- schickt geschichtliche und aktuelle Frage- stellungen und sorgt dafür, dass seine Leser sich nie langweilen. Claus Peter Kosfeld T Wer gehört dazu, wer nicht? Wer hat wel- che Rechte? Oder auch: Wer ist das Wir, wer sind die Anderen? Dazu, wie ein reprä- sentativer Teil der Bevölkerung darauf blickt, lieferte jüngst die aktuelle Mitte-Stu- die der Friedrich-Ebert-Stiftung deutliche Zahlen: Jeder dritte in Deutschland ist der Ansicht, im „nationalen Interesse“ könnten nicht allen die gleichen Rechte gewährt werden. Jeder vierte stimmt der Abwertung als „fremd“ markierter Gruppen zu. Doch die Mitte ist nicht nur eine politische Kategorie. Sie ist vor allem ein Sehnsuchts- ort. Die allermeisten Menschen wollen da- zugehören; viele kämpfen darum, dort auf- genommen zu werden. Über diesen Kampf und diese Sehnsucht hat der Theologe und Journalist Stephan Anpalagan ein lesens- wertes Buch geschrieben. Es handelt von all jenen, die teils seit Jahrzehnten „in der Mitte dieses Landes leben“, und „sich tag- täglich anhören, sie würden nicht in die Mitte dieser Gesellschaft gehören“. Das Buch ist keine Autobiografie, es be- handelt ganz verschiedene Menschen und Gruppen, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart. Doch die Analyse des „unauf- hörlichen Sprechens darüber, wer nicht da- zugehört“ kommt mit so viel Schwung da- her, weil die persönliche Perspektive stets mitschwingt. „Fremd? Was soll das sein?“, konstatiert hier jemand, der seit seiner Kindheit in Wuppertal lebte, und dennoch das „Sri Lanka“ in seiner Biografie nie los- werden wird. Den steten Abwehrkämpfen gegenüber den „Anderen“ spürt das Buch gleich zu Beginn mit einer Geschichte nach, die den Ton für das ganze Werk setzt. „Wir riefen Arbeits- kräfte, und es kamen Menschen.“ Kaum ein Jubiläen zur Zuwanderung aus der Tür- kei kommt ohne dieses bekannte Zitat von Max Frisch aus. Denn von dort kamen mit fast einer Million Menschen nicht nur die meisten „Gastarbeiter“. Es ist offensichtlich auch immer noch geboten, stets von Neu- em zu erklären, warum Menschen mit tür- kischen Wurzeln eigentlich unter uns le- ben. Stephan Anpalagan: Kampf & Sehnsucht in der Mitte der Gesellschaft. S. Fischer, Berlin 2023; 320 S., 24,00 € Max Frisch indes bezog das Zitat auf eine Gruppe, an deren Diskriminierung sich bes- tenfalls die Generation 70+ noch erinnert: Die Italiener, und dann auch noch jene in der Schweiz. Doch auch in Deutschland wa- ren sie nach dem ersten Anwerbeabkom- men mit Italien 1955 die erste „Gastarbei- ter“-Gruppe, die ins Land geholt wurde. Und es dauerte nicht lange und ihnen schlugen Klischees entgegen, die einem – so der Autor – „seltsam bekannt“ vorkommen: Die Italiener arbeiteten schlecht, sie stellten deutschen Frauen nach, oft würden sie kri- lautete eine minell. „Läuse im Gepäck“, Schlagzeile im „Rheinischen Merkur“. In München erklärte eine Untersuchung gar das „Zücken und Zustoßen mit dem Messer“ zur „besonderen Eigenart der Südländer“. Nicht ohne Ironie, weist das Buch nach, wie all diese Stereotype verblassten, als Menschen aus einem noch ferneren Land, der Türkei zuzogen: „Ein ganzes Land ei- nigte sich quasi über Nacht auf ein neues, besseres Feindbild.“ Das liest sich nicht nur erhellend, sondern zuweilen sogar amü- sant. Anpalagan empfahl sein Buch bei ei- ner Lesung jüngst als „Urlaubslektüre“. Es ist aber auch, bis zum Schlusssatz, beklem- mend. Der lautet: „Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben. Aber man kann es lieben.“ Jeannete Goddar T