8 EUROPA UND DIE WELT Das Parlament - Nr. 47-48 - 18. November 2023 In Reichweite UKRAINE Die Union dringt auf mehr Hilfen im Krieg gegen Russland und die Lieferung des Marschflugkörpers »Taurus«. In der Koalition gibt es Bedenken dagegen – aber auch Befürworter den Die Gegenoffensive hat nicht erhofften Durchbruch gebracht, die USA als größter Unterstüt- zer sind mit sich selbst be- schäftigt und die Auf- merksamkeit der Weltöffentlichkeit hat sich auf den Krieg im Nahen Osten verlagert: 20 Monaten nach Beginn des russischen An- griffskrieges ist die Ukraine in einer beson- ders schwierigen Lage. Daran ändert die Aussicht auf die Aufnahme von Verhand- lungen über einen EU-Beitritt ebenso wenig wie die Berichte über einen militärischen Vorstoß am Ostufer des Dnipro. Die Union im Bundestag setzt sich in diese Situation dafür ein, die diplomatische, mili- tärische und logistische Hilfe Deutschlands für die Ukraine substanziell zu erhöhen. Dazu gehört für sie insbesondere Forderung, dem von Russland angegriffenen Land rasch den Marschflugkörper „Taurus“ aus Bestän- den der Bundeswehr zur Verfügung zu stel- len: Eine Reizthema in der Koalition aus SPD, Grünen und FDP, bei denen es Eskala- tionssorgen genauso gibt wie entschiedene Befürworter für die Lieferung dieses Waffen- systems. Unabhängig von der „Taurus“-Fra- ge plant die Bundesregierung, die Militärhil- fen für die Ukraine im kommenden Jahr auf acht Milliarden Euro zu verdoppeln. Zwei Anträge (20/9313, 20/9143) der CDU/CSU- Fraktion überwies das Bundestagsplenum am Donnerstag zur weiteren Beratung an den federführenden Auswärtigen Ausschuss, ein weiterer Antrag der Union zum Wieder- aufbau der ukrainischen Landwirtschaft (20/7189) scheiterte am Votum der übrigen Fraktionen. Florian Hahn (CSU) kritisierte in der De- batte die Zögerlichkeit der Koalition. Seit Mai gebe es den Hilferuf der Ukraine nach abstandsfähiger Präzisionsbewaffnung wie dem „Taurus“-Marschflugkörper, Partnerna- tionen wie Großbritannien, Frankreich und die USA lieferten bereits ähnliches. Der Bundeskanzler aber zögere und zaudere wie schon in der Vergangenheit bei der Liefe- rung von Panzern. Begründet würden die Bedenken damit, dass „Taurus“ in Reichwei- te und Wirksamkeit hocheffizient sei. Eine „fadenscheinige Doppelmoral“, befand Hahn. Das Ziel, die territoriale Integrität wiederherzustellen, werde die Ukraine nur erreichen, wenn sie den Stellungskrieg mit unterschiedlichen Waffensystemen aufbre- chen und die russischen Truppen zum Rückzug zwingen könne. Panzer-Allianz Michael Roth (SPD) erinner- te daran, dass der russische Präsident sein „erbärmliches, imperialistisches, neokolo- nialistisches Ziel“ nicht erreicht habe, und das habe mit der westlichen Unterstützung, vor allem aber mit dem Willen der Men- schen in der Ukraine zu tun. „Diese Ukrai- nerinnen und Ukrainer werden sich nie- mals einem Diktatfrieden unterwerfen.“ Roth bemängelte, dass die EU der angekün- digten europäischen Allianz zur Lieferung von „Leopard“-Panzern und Munition kaum Taten habe folgen lassen. Die Bundes- regierung hingegen „hat vielleicht nicht al- les versprochen, aber sie hat alle Verspre- chen gehalten“, sagte Roth betonte aber auch: „Wir müssen mehr tun, wir müssen es schneller tun.“ Sein Fraktionskollege Jörg Nürnberger kritisierte hingegen die Forde- rung der Union: Sie vermittle mit dem „Taurus“ das Bild einer „Wunderwaffe, die allein den Krieg entscheiden kann“ , das je- doch sei „falsch“. Robin Wagener (Grüne) räumte ein, dass die Ukraine mit einer schnelleren und enga- gierteren Unterstützung des Westens erfolg- reicher gewesen wäre. Er erinnerte daran, dass ein gemeinsamer Beschluss der Koaliti- on mit der Union zur Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine kein Waffensystem heraushebe, aber auch keines ausschließe. „Niemand hier im friedlichen Berlin sollte Ukrainische Soldaten bei der Schulung an einem „Leopard“-Kampfpanzer am Bundeswehrstandort Klietz © picture-alliance/dpa/Gabbert sich über die ukrainischen Bedarfe auf dem Gefechtsfeld hinwegsetzen“, sagte Wagner. Man müsse der Ukraine alles zur Verfügung stellen, „was erfolgreich Munitionsdepots, Kommandoposten und Versorgungslinien bekämpfen kann.“ Matthias Moosdorf (AfD) warf Union und der Koalition vor, in Kauf zu nehmen, dass die Ukrainer zum „geopolitischen Kano- nenfutter in einem verlorenen Krieg“ gewor- den seien. „Sie alle hier sind mit Ihrer rhe- torischen Eskalation und der Lieferung im- mer schwererer Waffen nicht nur krachend gescheitert, Sie haben auch wider besseres Wissen erhebliche Schuld an der jetzigen Si- tuation.“ 400.000 Tote seien zu beklagen. Es sei Zeit, dem „Frieden und den Men- schen auf beiden Seiten wieder eine Chance zu geben“, sagte Moosdorf. Patt-Situation Auch Gregor Gysi (Die Lin- ke) wandte sich gegen weitere Waffenexpor- te: Die Lieferung von „Streubomben und Raketen eröffnet keine Chance auf Frieden“. Der langjährige Generalstabschef der US-Ar- mee Mark Milley habe erklärt, dass keine Seite diesen Krieg militärisch gewinnen könne, der ukrainische Armeechef Walerij Saluschnyj spreche von einer Patt-Situation. „Wollen Sie wirklich statt Waffenstillstand einen jahrelangen, einen jahrzehntelangen Krieg?“ Alexander Müller Getreidetransporte (FDP) lenkte den Blick hingegen auf die Si- tuation im Schwarzen Meer. Putin setze dort Hunger als Waffe ein. Es sei der Ukraine aber gelungen, die russische Schwarzmeer- flotte auch dank westlicher Waffensysteme zu verdrängen und Getreidetransporte wie- der zu ermöglichen. „Das zeigt, es macht ei- nen Unterschied, ob die Ukraine Waffen hat oder nicht.“ Müller erinnerte nochmals an die langwierigen Diskussionen um die Liefe- rungen von Panzern. Der Westen insgesamt sei zu spät gewesen, der russische Aggressor habe sich in Stellungen eingraben können, die heute unüberwindbar seien. „Wir sollten diesen Fehler bei anderen Waffensystemen nicht wiederholen.“ Alexander Heinrich T > S T I C HW O RT Unterstützung der Ukraine > Ertüchtigungshilfe Sie beläuft sich 2023 auf insgesamt 5,4 Milliarden Euro, für 2024 sind acht Milliarden Euro ge- plant. Im Jahr 2022 waren es noch zwei Milliarden Euro. > Schweres Gerät Unter anderem wur- den bisher 30 Kampfpanzer vom Typ „Leopard“ 1 A5 und 18 vom Typ 2 A6 geliefert, außerdem 60 „Marder“-Schüt- zenpanzer sowie Minen- und Brückenle- gepanzer und Mehrzweckfahrzeuge auf Ketten. > Luftverteidigung Zum Schutz vor russi- schem Raketenbeschuss hat Deutschland der Ukraine die Luftverteidigungssysteme IRIS-T SLM und PATRIOT zur Verfügung gestellt, des Weiteren Bodenüberwa- chungsradare und Aufklärungsdrohnen. Unsicher in Sindschar MENSCHENRECHTE Kritik an Abschiebungen von Jesiden Noch immer erschweren Minen, zer- störte Häuser, Straßen und Schulen die Rückkehr. Nach Protesten gegen Abschiebungen von Jesiden in den Irak hat der Menschen- rechtsausschuss am Mittwoch Lage und Rückkehrperspektiven der Jesiden erörtert. Dabei hinterfragten Abgeordnete die ge- sunkene Schutzquote von irakischen Jesi- den und erinnerten an den Beschluss des Bundestags, die Verbrechen des sogenann- ten Islamischen Staates (IS) gegen Jesiden als Ge- nozid anzuerkennen. Vor dem Hintergrund einer weiterhin fragilen Sicher- heitslage seien Abschie- bungen nicht hinnehmbar, kritisierten einzelne Aus- schussmitglieder. Ende Ok- tober hatten vor dem Bun- destag Angehörige der reli- giös-ethnischen Minder- heit, die unter anderem in Syrien und im Nordirak beheimatet ist, gegen dro- hende Abschiebungen mit einem Hunger- streik demonstriert. 2014 waren die Jesiden Opfer von brutalen Angriffen des IS gewor- den. Tausende waren von der Terrormiliz umgebracht, verschleppt und versklavt worden. Anerkennung des Völkermords Die aus dem Bundestagsbeschluss erwachsende Verpflichtung, sich für Rückkehrperspekti- ven einzusetzen, nehme die Bundesregie- rung sehr ernst, betonten Vertreter von Auswärtigem Amt (AA), Bundesinnenmi- nisterium (BMI) und Bundesentwicklungs- ministerium (BMZ) in der Sitzung. Bun- desaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sei im März in den Nordirak ge- reist. Gegenüber der irakischen Zentralre- gierung und der kurdischen Regionalregie- immer rung dringe die Bundesregierung auf Um- setzung des 2020 geschlossenen Sindschar- Abkommens, das die Bedingungen für Wiederaufbau und Rückkehr der vertriebe- nen Jesiden schaffen soll. Doch die Umset- zung komme nur schleppend voran, räum- te der AA-Vertreter ein. Deutschland helfe beim Wiederaufbau über Programme zur Wie- derinstandsetzung von Wohnraum und Infrastruk- tur, und unterstütze zudem die Jesiden, die noch zu Hunderttausenden in Camps lebten, mit psycho- sozialer Betreuung, Beschäf- tigungsmaßnahmen sowie Wirtschaftsförderung, er- klärte die BMZ-Vertreterin. Noch hinderten aber Minen und Sprengfal- len, zerstörte Häuser, Stra- ßen, und Schulen die Menschen an der Rückkehr. Auch die Sicherheitslage sei weiterhin un- beständig. Dennoch gehe das BMI nicht mehr von ei- ner Verfolgung der Jesiden als Gruppe im Irak aus, erklärte dessen Vertreter. Die Schutzquote für irakische Jesiden habe 2022 bei 48,6 Prozent gelegen. 2023 seien bislang 135 Personen in den Irak abge- schoben worden. Wie viele Jesiden aller- dings darunter gewesen seien, dazu könne das BMI keine Angaben machen. Der Bund erfasse die Religionszugehörigkeit selbst nicht, so der BMI-Mitarbeiter. Dass eine solch entscheidende Information nicht erfasst werde, kritisierten einzelne Abgeordnete scharf. Andere thematisierten einen Abschiebestopp oder eine Stichtags- regelung für Jesiden. sas T Strommasten »Für Männer gemacht« ENTWICKLUNG Anhörung zur Mobilität von Frauen »Das Trans- portwesen kann eine Frage von Leben und Tod sein.« Cyprine Odada, Stadt- planerin aus Kenia Die kenianische Stadtplanerin und Berate- rin für nachhaltige Mobilität, Cyprine Odada, hat am Mittwoch im Entwick- lungsausschuss eine stärkere Berücksichti- gung der Bedürfnisse von Frauen bei Stadt- und Verkehrsplanungsprojekten an- gemahnt. Zahlreiche Untersuchungen hät- ten gezeigt, dass Frauen Verkehrswege anders nut- zen als Männer, weil sie sich in Afrika neben dem Job auch überwiegend um Kinder und Haushalt küm- merten, sagte sie in der öf- fentlichen Sitzung. Frauen würden häufiger als Männer kleine Wege erledi- gen, und dies in erster Li- nie zu Fuß oder mit öffent- lichen Verkehrsmitteln. Aber die Infrastruktur sei „von Männern für Männer gemacht“, urteilte Odada. So seien viele Bürgersteige zu schmal für Kinderwägen, Wege würden abends nicht oder nur un- zureichend beleuchtet, was sie für Frauen unsicher mache. Weil Frauen öfter öffent- liche Transportmittel nutzen müssten, sei es für sie teurer, außerdem seien Möglich- keiten zum Festhalten dort zu weit oben angebracht. „Wenn das Transportwesen nicht auf die Belange der Geschlechter eingeht, kann das eine Frage von Leben und Tod sein oder dazu führen, dass Frau- en in Armut abdriften oder ihr nicht ent- kommen können“, betonte Obada. Sie forderte, die öffentliche Förderung von In- frastrukturmaßnahmen davon abhängig zu machen, dass sie geschlechtersensibel sind. Dafür müssten geschlechtsspezifi- sche Zielsetzungen definiert werden. Heike Henn vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung nannte die Stär- kung der Mobilität von Frauen in Städten ein „zentrales Thema“ für die deutsche Entwicklungszu- sammenarbeit. Es gehe um den gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Be- schäftigung und Dienst- leistungen. Aber Frauen seien auch in entsprechen- den Planungsgremien un- terrepräsentiert. Das BMZ unterstütze daher die in- ternationale „Transforma- tive Urban Mobility Initiative“ (TUMI) und habe die Initiative „Women mobilise Women“ ins Leben gerufen. „Wir wollen die Ursachen dieser Benachteiligung strukturell beseitigen“, erläuterte Henn. Dafür müssten Verkehrssysteme für alle Bevölkerungsgruppen inklusiv gestaltet werden, „barrierefrei, bezahlbar und si- cher“. Frauen sollten mehr Teilhabe im Verkehrssektor haben und stärker an der Planung von Projekten beteiligt werden. Außerdem solle es mehr Forschung geben, um evidenzbasierte Lösungen zu entwi- ckeln. Johanna Metz T Schuld haben nur die anderen ISRAEL Premier Netanjahu hat nach den Anschlägen der Hamas das Vertrauen der meisten Israelis verloren. Doch freiwillig will er seinen Stuhl nicht räumen Die Umfragen ergeben ein klares Bild: 76 Prozent der Israelis möchten, dass Pre- mier Benjamin Netanjahu sofort abtritt. 64 Prozent sagen, wenn er schon nicht jetzt abtritt, dann muss es wenigstens nach dem Krieg sofort Neuwahlen geben. Und lediglich vier Prozent glauben ihrem Pre- mier, wenn er über den Krieg spricht und seinem Volk erzählt, wie der Krieg läuft. Die große Mehrheit vertraut lieber den Aussagen des Armeesprechers Daniel Haga- ri. Nein, Benjamin Netanjahu hat in der Be- völkerung so gut wie keinen Rückhalt mehr. Die Wut auf ihn ist riesig. Seine Ver- weigerung, Verantwortung zu übernehmen, lässt ihn für viele noch perfider wirken. Denn so viel ist klar, seit Beginn des Krie- ges arbeitet Netanjahu an seinem Narrativ, dass alle verantwortlich sind – Militär und Geheimdienste – nur nicht er. Er habe auch von nichts gewusst, niemand habe ihn gewarnt. Was so nicht ganz stimmt, um es vorsichtig zu sagen. Immer wieder wird Netanjahu gefragt, ob er denn endlich einmal bereit wäre, Verantwortung für das katastrophale Versagen des gesamten Si- cherheitsapparates am 7. Oktober zu über- nehmen. Und alles, was er wie ein Mantra wiederholt, ist, dass alle sich nach dem Krieg „harten Fragen“ werden stellen müs- sen, auch er. Während die Führung des Mi- litärs und der Geheimdienste längst ihr Versagen angesichts des Hamas-Terrors ein- gestanden und damit signalisiert haben, dass sie nach dem Krieg zurücktreten wer- den, ist deutlich, dass Netanjahu nicht die Absicht hat, freiwillig seinen Stuhl zu räu- men. Ende eines Tabus Die meisten Israelis macht das noch wütender, als sie sowieso schon sind. Erst vor wenigen Tagen forder- te Oppositionsführer Yair Lapid, dass Net- anjahu sofort, jetzt mitten im Krieg, ausge- tauscht werden sollte gegen einen anderen Politiker aus der Likud-Partei. Andere for- dern ähnliches – das Tabu, dass man eine politische Führung mitten im Krieg nicht austauscht, ist zumindest im öffentlichen Diskurs gebrochen. Es war ja ausgerechnet Winston Churchill, Netanjahus großes Vor- bild, der während des Zweiten Weltkriegs das Ruder in Großbritannien übernahm, um sein Land zu retten. Netanjahu selbst vergleicht seine Situation mit der von US-Präsidenten. Als auch eine CNN-Journalistin in einem Fernsehinter- view die unvermeidliche Frage nach der Verantwortung stellte, blaffte er zurück, ob denn Roosevelt hätte gehen müssen nach Pearl Harbor oder Bush nach 9/11. Aber er hofft, dass ein Sieg über die Ha- mas, vielleicht sogar noch ein strategischer Erfolg gegen die Hizbollah im Norden, ihm wieder etwas an Statur zurückgeben wird, sodass er an der Macht bleiben kann. Massenproteste So wie die Atmosphäre in Israel im Augenblick ist, dürfte sich das Gros der Gesellschaft aber auf den Krieg nach dem Krieg vorbereiten: die Vertrei- bung Netanjahus und seiner Koalition aus ihren Ämtern. Wäre genau jetzt der Krieg vorbei, so würden nicht nur Hunderttau- sende auf die Straße gehen, wie bei den Demos gegen die geplante Justizreform, sondern womöglich Millionen. Doch noch ist dieser Krieg nicht vorbei. Die Israelis müssen abwarten, es geht erst einmal da- rum, den Feind zu besiegen. Doch viele be- fürchten, Netanjahu könnte den Krieg be- wusst in die Länge ziehen, um sich an der Macht zu halten. So könnte es vielleicht schon während des Krieges zu Massenpro- testen gegen den Premier kommen. Und dann gibt es noch eine wichtige Kom- ponente: Generalstab und Geheimdienste vergessen Netanjahu nicht, dass er ihnen mitten im Krieg, während ihre Leute an der Front ihr Leben riskieren, in den Rücken gefallen ist und sie schlecht gemacht hat, um seine eigene Haut zu retten. Es gibt durchaus Stimmen, die Netanjahu keinen „Sieg“ gönnen möchten. Bedeutet das, dass die Armee gegen den Premier putschen würde? Nein, gewiss nicht. In Israel ist so etwas undenkbar. Aber die Generäle könn- ten sich nach Kriegsende öffentlich sehr kritisch äußern, könnten ihre Meinung wiedergeben und bei vielen Oppositions- politikern Unterstützung erhalten, allen voran von Benny Gantz, der nur für die Zeit des Krieges in die Notstandsregierung eingetreten ist. Gantz, einst selbst Verteidi- gungsminister und Generalstabschef der Armee, hat Ambitionen, Premier zu wer- den. Möglicherweise würde es ihm gut pas- sen, wenn die Armeeführung sich am „Tag danach“ mehr oder weniger deutlich gegen Netanjahu und seine Politik positionieren würde. So viel scheint jetzt schon sicher: Nach dem Krieg wird Israel eine politische Krise durchmachen, die wahrscheinlich intensi- ver und heftiger sein wird als alles, was sich seit Anfang des Jahres im Land abge- spielt hat. Premier Netanjahu sitzt womög- lich nur noch mit geborgter Zeit auf seinen Stuhl. Das Ende einer Ära könnte bereits begonnen haben. Richard C. Schneider T Der Autor arbeitet als freier Journalist in Tel Aviv. Benjamin Netanjahu schiebt die Verantwortung für das Versagen gegenüber dem Terror der Hamas am 7. Oktober auf Geheimdienste und Militär. © picture alliance/dpa/Kay Nietfeld In Israel marschieren inzwischen die Famili- en der Entführten innerhalb von fünf Tagen von Tel Aviv nach Jerusalem. Ein Protest- marsch, dem sich immer mehr Israelis an- schließen sollen. Die Angehörigen der Gei- seln sind wütend auf die Regierung, die in ihren Augen nicht genug tut, um die Ent- führten frei zu bekommen und mit ihrem Dauerbombardement das Leben der Ent- führten gefährdet. Die Solidarität mit den Familien ist riesig. Und jeder versteht die Wut auf Netanjahu, wenngleich nicht alle die Meinung vertreten, Israel müsse sich im Krieg lieber etwas zurückhalten, um die 239 Menschen in der Hand der Hamas vor Ra- keten- und Bombenangriffen zu schützen. Netanjahu weiß, wie die Stimmung in der Bevölkerung ist und er ist durchaus nervös.