UKRAINE IM KRIEG Eindrücke ein Jahr nach Beginn des russischen Überfalls KINDER IM KRIEG »Red Hand Day« setzt Zeichen gegen Einsatz von Kindersoldaten SEITE 12 SEITE 9 m ach e n Schnellere Gerichtsverfahren geplant S o n d erth e m a: w illTe m p o K o alitio n Berlin, 13. Februar 2023 www.das-parlament.de 73. Jahrgang | Nr. 7-9 | Preis 1 € | A 5544 RECHT Gerichtsverfahren zu Infrastrukturprojekten sollen verkürzt werden An der Schraube gedreht V on besorgten Kolleginnen KOPF DER WOCHE Joe Biden überlegt / e c n a i l l I a S S E R P D E T A C O S S A Joe Biden Noch ist unklar, ob der US-Präsi- dent nächstes Jahr zur Wiederwahl antritt. In einem Fernsehinterview sagte der 80-Jährige vergangene Woche, er habe noch keine endgültige Ent- scheidung gefällt, tendiere aber in die Richtung. Passend dazu hielt er bei der traditionellen „State of the Uni- im US-Kon- on“ gress eine kämpfe- rische Rede. Den Republikanern, die im Repräsentantenhaus Januar die Mehrheit stellen, reichte er die Hand zur Zu- sammenarbeit, sparte aber auch nicht mit Kritik an ihren sozialpolitischen Vorstellun- gen und ihrer Haltung im Streit um die Schuldenobergrenze. Auch China attackierte Biden scharf. Die Posse um einen mutmaßli- chen Spionageballon Chinas im US-Luftraum prägte in den vergangenen Tagen die Debat- scr T te im Land. e r u t c i p © seit ZAHL DER WOCHE 430 Milliarden US-Dollar schwer ist der „Infla- tion Reduction Act“ der US-Regierung. Ein Großteil davon, rund 370 Milliarden Dollar, soll in den Klimaschutz und die Energiesi- cherheit klimaschädliche CO2-Ausstoß soll um rund 40 Prozent im Vergleich zum Jahr 2005 reduziert werden. fließen, der ZITAT DER WOCHE »Wir haben noch Zeit, zu Lösungen zu kommen.« Wirtschaftsminister Robert Habeck nach Gesprächen in Washington zum US-Inflati- onsbekämpfungsgesetz. Die EU fürchtet Nachteile für ihre Wirtschaft. IN DIESER WOCHE WIRTSCHAFT UND FINANZEN 49-Euro-Ticket Flatrate soll kommen Bundesweite Nahverkehrs- Seite 4 WIRTSCHAFT UND FINANZEN Wohnungsbau zuweisungen bestimmen Debatte Gegenseitige Schuld- Seite 6 und Kollegen am Telefon oder vor seiner Tür hatte Robert Seegmüller, Richter am Bundesverwaltungsge- richt und Vorsitzender des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen, vor einigen Wo- chen in einer Anhörung im Bundestag be- richtet. Grund für die Sorgen: Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf zur Beschleunigung verwaltungsgerichtli- cher Verfahren. Ob das wirklich so gemeint sei oder ob das vielleicht noch verbessert werden könne, hätten sie gefragt, sagte der Richter. Auch die übrigen Sachverständigen ließen Mitte Januar wenig Sympathien für die Vorlage aus dem Justizministerium er- kennen. Auf die Kritik hat die Koalition reagiert – der am vergangenen Freitag mit Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP sowie der Linken verabschiedete Ent- wurf (20/5165, 20/5570) wurde im parla- mentarischen Verfahren wesentlich geän- dert (siehe ausführlich auf Seite 3). Ob er damit auch besser geworden ist, war natur- gemäß zwischen Koalition und Opposition umstritten. Man habe aus einem „sehr gu- ten Regierungsentwurf ein noch besseres Gesetz gemacht“, befand Thorsten Lieb (FDP). Lukas Benner (Bündnis 90/Die Grünen) sagte, es sei natürlich, dass es Kri- tik gebe, wenn man neue Wege beschreite. „Progressive Rechtspolitik erfordert Mut – das gibt auch mal Gegenwind, aber das müssen wir wagen, wenn wir beschleuni- gen wollen.“ Zudem habe die Koalition die Kritik und Vorschläge der Sachverständigen aufgenommen und umgesetzt, es gebe also keinen Grund für die Union, nicht zuzu- stimmen. »Gut gemeint, schlecht gemacht« Dem widersprach Stephan Mayer (CSU) aus- drücklich. Zwar hätten die Koalitionsfrak- tionen den „vollkommen mangelhaften und unzureichenden“ Regierungsentwurf nachgebessert, der Entwurf sei aber „noch lange nicht gut“ und „allenfalls gut ge- meint, mit Sicherheit schlecht gemacht“. Er hoffe, dass er bestenfalls keine Wirkung er- ziele, befürchte aber, dass einige der Rege- lungen die Verfahren weiter verzögerten. „Wenn das das neue Deutschlandtempo ist, dann schwant mir wirklich Übles für unser Land und für die Zukunft der verwal- tungsgerichtlichen Verfahren“, sagte Mayer über den Entwurf, der von der Unions- so- wie der AfD-Fraktion abgelehnt wurde. Ziel des Entwurfes ist es, durch Änderun- gen in der Verwaltungsgerichtsordnung Verhandlung zur Elbvertiefung vor dem Bundesverwaltungsgericht 2016: Große Infrastrukturvorhaben landen häufig vor Gericht, diese Verfahren sollen künftig priorisiert und be- schleunigt werden können. © picture-alliance/dpa/ZB/Sebastian Willnow Verfahren zu bedeutsamen Infrastruktur- maßnahmen zu priorisieren und zeitlich zu straffen sowie dem Vollzug von Maß- nahmen den Vorrang zu geben. Das gilt für etwa für Verkehrswege, Stromtrassen oder Windkraftanlagen. Grund: Die Umsetzung solcher Vorhaben dauert zu lange. Es sorge für „Frust und Verärgerung bei Bürgerinnen und Bürger, bei Unternehmen, aber auch bei den Kommunen“, wenn es „zig Aktenordner“ für die Genehmigung einer einzel- nen Windkraftanlage brau- che, landauf, landab Brücken zerfielen und für eine neue Bahnstrecke 30 Jahre benö- tigt würden, sagte Grünen- Abgeordnete Benner. Aus Sicht des Liberalen Lieb ist die Beschleunigung daher ei- ne „Frage des Vertrauens in Politik und der Handlungsfähigkeit des Staates“. Kaweh Mansoori (SPD), sagte, die Menschen müssten sich darauf verlassen können, dass man bei den wichtigen Pro- jekten zügig entscheide, zügig Rechtssicher- heit schaffe und zügig umsetze, sagte der Sozialdemokrat. „Das ist kein Selbstzweck, »Wenn das das neue Deutsch- landtempo ist, schwant mir wirklich Übles für unser Land.« Stephan Mayer (CSU) sondern das ist die notwendig Bedingung für den Erhalt unser natürlichen Lebensbe- dingungen und für den Wohlstand in unse- rem Land.“ Wie auch andere Rednerinnen und Redner gab Mansoori zu, dass die größ- ten Beschleunigungspotentiale nicht in den verwaltungsgerichtlichen Verfahren liegen würden, sondern etwa bei der Personalausstattung in den Planungsbehörden oder in leichter anwendba- ren Gesetzen. Darauf verwies auch Su- sanne Henning-Wellsow (Die Linke). Sie drückte zwar Unterstützung für das Koalitionsvorhaben aus, gab aber zu beden- ken, dass es nicht schnel- ler werde, „wenn man beim Versuch, Blockaden zu lösen und Geschwin- digkeit aufzunehmen, nicht ausreichend mutig an allen Stellenschrauben dreht oder sehr wichtige Stellenschrauben ver- gisst“. Sie forderte, die Länder auch bei der personellen Ausstattung zu unterstützen. Tobias Matthias Peterka (AfD) kritisierte, dass die Leistungsfähigkeit des Staates über Jahre hinweg „von Seiten des eher linken Spektrums bis weit in die Mitte hinein“ für unbegrenzt gehalten worden sei. Nun gehe nichts mehr im Infrastrukturbereich, der „Rechtsstaat als Lastentier“ drohe zusam- menzubrechen. Die Antwort der Koalition sei aber wiederum „mehr Last auf die Schultern von Verwaltung und Gerichten“, kritisierte Peterka. Der Abgeordnete spotte- te darüber, dass die Koalition im Rechts- ausschuss noch einen Entschließungsan- trag mit weiteren Vorschlägen und Prüfauf- trägen eingebracht hatte. Das sei eigentlich ein Instrument der Opposition und zeige, dass sich die Koalition wohl nicht einig ge- worden ist, meinte Peterka. „Das hat weni- ger etwas von handlungsfähiger Bundesre- gierung, sondern sehr viel von einer Ehe- beratung im Endstadium.“ Das sahen die Koalitionsvertreter wiederum nicht so. FDP-Vertreter Lieb verwies auf sie- ben schon beschlossene Beschleunigungsge- setze und kündigte mindestens noch genau- so viele an. Sozialdemokrat Mansoori ver- wies auf ebenfalls auf weitere Gesetzge- bungsvorhaben in dem Bereich und be- schied dem verabschiedeten Entwurf: „Lie- ber den Spatz in Hand als die Taube auf dem Dach.“ Sören Christian Reimer T ED I TO R IA L Verfahren mit Wert VON CHRISTIAN ZENTNER Es gibt wenige Abgeordnete, die den parla- mentarischen Alltag auch ein Jahrzehnt nach ihrem Tod noch prägen können. Der im Jahr 2012 verstorbene Peter Struck (SPD) war so ein Abgeordneter. Sein „Strucksches Gesetz“ besagt, dass nichts so aus dem Bundestag he- rauskommt, wie es hineingekommen ist. Ge- setzesvorlagen werden oft von der Bundesre- gierung formuliert, die zentrale Rolle hat aber das Parlament. Bei der nun beschlossenen Straffung des Rechtsschutzes gegen bedeutsa- me Infrastrukturvorhaben hat sich gezeigt, dass dies nicht nur demokratisch bedeutend ist. Das Parlamentsverfahren kann entschei- dend sein, Fehler zu vermeiden. Die Lorbeeren hat sich dort der Rechtsaus- schuss verdient. Sein Beschluss, eine öffentli- che Anhörung zu diesem Gesetz durchzufüh- ren, war ausschlaggebend dafür, den Entwurf der Bundesregierung umfassend zu ändern. Die Kritik annähernd aller Sachverständigen konnte nicht ohne Folgen bleiben. Eine Exper- tin äußerte sogar ganz offen die Hoffnung, dass das Gesetz geändert werden möge. Der Obmann von CDU/CSU im Ausschuss, Carsten Müller, brauchte in der anschließenden Plenar- debatte kaum eigene Worte für seine Kritik. Er zitierte sechs Minuten die Sachverständigen und holte sich hierfür den Hinweis der Bundes- tagspräsidentin ab, dass der überwiegende Teil einer Rede im Plenum eigentlich aus eigenen Ausführungen bestehen sollte. Verfahren sollen die Entscheidungsfindung si- chern, indem sie alle Belange berücksichtigen. Das Dilemma besteht darin, besonders bedeut- same Infrastrukturvorhaben mit möglichst viel Tempo umzusetzen, selbst wenn diese in tat- sächlicher wie rechtlicher Hinsicht besonders schwierig sind. Längst nicht alles hängt dabei an nationalen Vorschriften, oft gibt es zusätz- lich Vorgaben des Unions- und Völkerrechts sowie des Europäischen Gerichtshofes. Das Gefühl, dies sei alles überbürokratisiert, kann dabei leicht bedient werden. Von „lang- wierigen Genehmigungen von gestern“ ist dann die Rede. Doch der neue Geschwindig- keitsrausch birgt Gefahren, nicht nur in der Gesetzgebung. Autofahrer wissen: Wer zu schnell unterwegs ist, bekommt die Kurve nicht. Das Parlament hat jetzt gezeigt, dass in der Politik manchmal beides geht: Geschwin- digkeit und ordentliches Verfahren. Zwischen der ersten Beratung und der Abstimmung la- gen nur drei Wochen. INNENPOLITIK Fachkräftemangel diskutieren Lage in den Kitas Abgeordnete Seite 8 Bundestag gedenkt der Erdbebenopfer EUROPA UND DIE WELT Migration besseren Grenzschutz EU-Staaten einigen sich auf Seite 10 MIT DER BEILAGE Das Parlament Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH & Co. KG 64546 Mörfelden-Walldorf 1 0 9 0 7 4 194560 401004 EUROPA Deutschland und EU mobilisieren Hilfen für das Katastrophengebiet in Syrien und der Türkei Die Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien mit mindestens 22.000 Toten (Stand Freitag) hat auch im Bundestag für Trauer und Entsetzen gesorgt. Mit einer Schweige- minute gedachten die Abgeordneten am Mittwoch vor Eintritt in die Tagesordnung der Opfer, am Freitag wurde Trauerbeflag- gung angeordnet. Der Ausschuss für Men- schenrechte und humanitäre Hilfe beriet am Freitag in einer Sondersitzung über weitere Unterstützungsmaßnahmen. „Das Ausmaß an Tod, Zerstörung und Leid erschüttert uns zutiefst“, sagte Bundestags- präsidentin Bärbel Bas (SPD). Insbesondere in Syrien, wo die Not ohnehin schon be- sonders groß sei, verschärfe sich die Lage nun weiter. Umso wichtiger sei es deshalb, dass Hilfsorganisationen „schnell überall Zugang zum Katastrophengebiet bekom- men“. Bas dankte im Namen des Hauses al- len, die im Katastrophengebiet unter schwierigen Bedingungen helfen sowie „al- len Menschen, die von Deutschland aus zu dieser Solidarität beitragen“. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) versicher- te zu Beginn seiner Regierungserklärung zum EU-Sondergipfel (siehe Seite 10), Deutschland liefere Hilfsgüter in die Türkei Die Luftwaffe der Bundeswehr schickt seit Donnerstag jeden Tag drei Maschinen mit Hilfsgütern in die betroffene Region. © picture alliance/dpa/Moritz Frankenberg und stehe zudem in engem Kontakt mit den Vereinten Nationen, um humanitäre Hilfe auch in das syrische Erdbebengebiet zu bringen. Neben dem durch das Beben beschädigten Übergang Bab el Hawa nach Idlib gibt es keinen humanitären Korridor in die Region. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sprach daher von einem „Wettlauf gegen die Zeit“. Die Öffnung aller Grenz- übergänge sei „zentral, damit die humanitä- re Hilfe dort ankommt, wo sie gebraucht wird“. Nach Angaben von Scholz waren bis Freitag mehr als 1.600 Helfer aus den 27 EU-Staa- ten in die Türkei gereist. Technisches Hilfs- werk, Deutsches Rotes Kreuz und Bundes- wehr fliegen seit Donnerstag täglich Dut- zende Tonnen an Hilfsgütern in die Region. Die Bundesregierung will ihre humanitäre Hilfe darüber hinaus um weitere 26 Millio- nen Euro aufstocken. Die EU-Kommission sagte Syrien zunächst 3,5 Millionen Euro und der Türkei 3 Millionen Euro Soforthilfe zu. Anfang März plant sie eine internationa- le Geberkonferenz. Die USA werden rund 79 Millionen Euro bereitstellen. Seit dem ersten Beben am Morgen des 6. Februar mit einer Stärke von 7,8 sind in der Region mehr als über 1.500 Nachbeben registriert worden. Wegen seines Krisenma- nagements und möglicher Versäumnisse beim Katastrophenschutz gerät Staatschef Recep Tayyip Erdogan kurz vor den Wahlen am 14. Mai unter Druck. Unterdessen gibt es für viele Verschüttete keine Hoffnung mehr. Unter den eingestürzten Gebäuden vermuten die Helfer noch Zehntausende Opfer. Johanna Metz T Weiterführende Links zu den Themen dieser Seite finden Sie in unserem E-Paper