10 EUROPA UND DIE WELT Das Parlament - Nr. 13-15 - 23. März 2024 M ehr Druck auf Israel und mehr Hilfe für die Ukraine: Auf ih- rem Gipfeltreffen ha- ben die Staats- und Regierungschefs der EU am Donnerstag angesichts der dramati- schen Notlage der Zivilbevölkerung im Ga- zastreifen eine sofortige Feuerpause gefor- dert. Neben dem Nahost-Konflikt bestimm- te der Abwehrkampf der Ukraine gegen Russland den ersten Gipfeltag in Brüssel. Die EU kündigte an, milliardenschwere neue Mi- litärhilfen für das Land vorzubereiten. So soll die Nutzung von Zinserträgen aus dem eingefrorenen russischen Zentralbank-Ver- mögen vorangetrieben werden. Allein dieses Jahr könnten bis zu drei Milliarden Euro zu- sammenkommen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte, das Geld solle vor allem zum Kauf von Waffen und Munition ver- wendet werden, die die Ukraine für ihren Verteidigungskampf brauche. Zusammenhalt In seiner Regierungserklä- rung vor dem EU-Gipfel am Mittwoch im Bundestag hatte Scholz einmal mehr den Zusammenhalt der EU-Mitglieder bei der Unterstützung der Ukraine beschworen: „Wir stehen zusammen.“ Scholz betonte, dass er sich mit dem französischen Präsiden- ten Emmanuel Macron und dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk nochmals auf drei Prinzipien verpflichtet habe. „Wir werden die Ukraine so lange unterstützen, wie das nötig ist“, sagte Scholz. Gemeinsam werde man dafür sorgen, dass die Nato nicht Kriegspartei werde. „Und: Wir werden kei- nen Diktatfrieden zulasten der Ukraine ak- zeptieren.“ Scholz warb zudem für eine engere EU-Ko- operation bei der Beschaffung von Rüstungs- gütern. „Wir brauchen eine engere Zusam- menarbeit in der Verteidigungswirtschaft, ei- ne Kooperation unserer Länder bei der Rüs- tung.“ Es müsse bei den wichtigen Waffen- systemen in Deutschland und Europa ge- währleistet sein, dass man „eine ständige, skalierbare Produktion“ habe, „auf die wir uns für unsere eigene Verteidigungsfähigkeit verlassen können“. Friedrich Merz (CDU) griff die umstrittenen Worte des SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich zu einem „Einfrieren“ des Kriegs in der Ukraine auf. „Friedfertigkeit kann das Gegenteil von Frieden bewirken“, sagte der Vorsitzende der Unionsfraktion. Einem Kriegsverbrecher wie Putin könne man „nicht mit Feigheit begegnen, sondern nur mit Klarheit und Entschlossenheit“. Merz ging auf die Aussage des Kanzlers ein, die Debatte über die deutsche Unterstützung für die Ukraine sei „an Lächerlichkeit nicht zu überbieten“. Die Debatte sei nicht lächerlich. „Diese Debatte ist gefährlich. Sie ist gefähr- lich für den Frieden in Europa, und sie ist gefährlich für die Ukraine.“ Diese müsse den Eindruck gewinnen, dass die deutsche Hilfe befristet sei „und wir längst schon ein ande- res Ziel im Auge haben“. Katharina Dröge (Bündnis 90/Die Grünen) plädierte für eine noch stärkere Unterstüt- zung der Ukraine durch die Ampel-Koaliti- on. „Wir sind bislang gemeinsam einen rich- tigen Weg gegangen, aber wir sind ihn nicht weit genug gegangen. Die Ukraine braucht dringend mehr Unterstützung.“ Union und auch der SPD warf die Grünen-Fraktions- chefin eine verfehlte Russlandpolitik in frü- heren Regierungsjahren vor. „Dieses Land wurde viel zu lange von Großen Koalitionen regiert, die blind und taub waren angesichts der Warnungen unserer europäischen Part- ner, angesichts der Warnungen der USA.“ Deutschland sei regiert worden von Koali- tionen, die lieber Geschäfte gemacht hätten mit billigem russischem Öl und Gas. AfD-Fraktionschefin Alice Weidel verteidigte das Nein des Kanzlers zur Lieferung von Mehr Munition EUROPA Die EU will russische Zentralbank-Milliarden für den Abwehrkampf der Ukraine mobilisieren Kampfübungen, während Russlands Krieg weitergeht: Ukrainische Soldaten in der Oblast Donezk © picture-alliance/Anadolu/Wolfgang Schwan Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine. „Es wäre nicht im deutschen Sicherheitsinte- resse, unsere Streitkräfte von einem weiteren wichtigen Waffensystem zu entblößen.“ Die Abgabe dieses Waffensystems, das weit nach Russland hineinwirken und selbst den Kreml erreichen könne, „wäre eine ganz kla- re Kriegsbeteiligung“, weil sie zwangsläufig den Einsatz deutscher Soldaten zur Bedie- nung nach sich ziehen würde. Weidel mo- nierte eine „schwarz-grüne Koalition der Kriegstreiber“, die sich in martialischer Rhe- torik gefalle und anderen „Defätismus“ vor- werfe. Der „kriegerische Überbietungswett- bewerb“ sei umso absurder vor dem Hinter- grund des desolaten Zustands der Bundes- wehr. FDP-Fraktionschef Christian Dürr nutzte sei- ne Rede für scharfe Kritik an der AfD und machte auf Glückwunschadressen aus deren Reihen an Wladimir Putin nach dessen Schein-Wiederwahl aufmerksam. AfD-Vertre- ter sprächen von „freien Wahlen“ und emp- den Putins Regierungsstil fählen für Deutschland. „Welche Partei sitzt hier ei- gentlich, die eine Politik der unmittelbaren Bedrohung als Regierungsstil für Deutsch- land empfiehlt? Das ist nicht nur unglaub- würdig, das ist unpatriotisch.“ Die AfD handle nicht im Interesse des deutschen Vol- kes, sie schade Deutschland. Aufrüstung Sören Pellmann (Gruppe Die Linke) forderte „mehr Diplomatie statt Auf- rüstung“. „Mehr Munition, mehr Waffen, Wunderwaffen – eine Wahnsinnsaufrüs- tungsspirale.“ Sie sichere bestenfalls das Durchhalten und verlängere diesen Krieg. „Waffenstillstand heißt nicht Akzeptanz des Unrechts; es heißt Beenden des Sterbens.“ Sahra Wagenknecht (Gruppe BSW) kritisier- te, dass selbst das letzte Tabu, die Entsen- dung von Bodentruppen, in Frage gestellt werde. „Die EU, die mal ein Friedensprojekt sein sollte, schlafwandelt Schritt für Schritt in Richtung Krieg.“ Alexander Heinrich T > S T I C HW O RT Ergebnisse des EU-Gipfels > Waffen und Munition Zinserträge aus dem eingefrorenen russischen Zentral- bank-Vermögen sollen der Ukraine für ih- ren Abwehrkampf gegen Russland zur Verfügung gestellt werden. > Sanktionen Die EU-Kommission schlägt vor, Zölle auf russisches Getreide zu erhöhen. So soll auch verhindert wer- den, dass aus der Ukraine gestohlenes Getreide in die EU verkauft wird. > Beitrittsgespräche Grünes Licht gibt es außerdem für EU-Beitrittsgespräche mit Bosnien und Herzegowina. Dahinter steht auch die Sorge, dass sich das Bal- kanland andernfalls Richtung Russland oder China orientieren könnte. Carte blanche für Putin Einsätze im Südsudan und im Mittelmeer BUNDESWEHR Bundestag verlängert Mandate Der Bundestag hat den Weg frei gemacht für die Fortsetzung der Bundeswehreinsät- ze im Mittelmeer und im Südsudan. Am Donnerstag votierten 563 Abgeordnete in namentlicher Abstimmung für einen An- trag (20/10161) der Bundesregierung zur weiteren Beteiligung an der „Nato-geführ- ten maritimen Sicherheitsoperation Sea Guardian“ im Mittelmeer, 109 Abgeordne- te votierten mit Nein, es gab zwei Enthal- tungen. Damit können wie bisher bis zu 550 Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten eingesetzt werden, um im Mittelmeerraum einen Beitrag zur Seeraumüberwachung, zum Lagebildaustausch, zum maritimen Kampf gegen den Terrorismus und zur Be- schränkung des Waffenschmuggels im ma- ritimen Umfeld zu leisten. Das Einsatzge- biet umfasst den Angaben zufolge das Mit- telmeer außerhalb der Küstenmeere, die Straße von Gibraltar und ihre Zugänge und den darüber liegenden Luftraum. „Ein Ein- satz in Küstenmeeren erfolgt nur nach Zu- stimmung durch den jeweiligen Anrainer- staat und, sofern dieser nicht Mitglied der Nato ist, auf Beschluss des Nordatlantikra- tes und nach Zustimmung des Deutschen Bundestages.“ Ebenfalls am Donnerstag gaben 611 Abge- ordnete ihr Plazet zum Antrag (20/10160) der Bundesregierung für die Bundeswehr- Beteiligung an der von den Vereinten Na- tionen geführten Friedensmission im Süd- sudan (UNMISS). 48 Abgeordnete votier- ten in der namentlichen Abstimmung da- gegen, zwei enthielten sich. Somit können unverändert bis zu 50 Soldatinnen und Soldaten entsandt werden, die „Führungs-, Verbindungs-, Beratungs-, Beobachtungs- und Unterstützungsaufgaben“ überneh- men und bei der technischen Ausrüstung und Ausbildung truppenstellender Natio- nen helfen sollen. Aufgabe der UN-Missi- on im Südsudan ist laut Antrag der Schutz von Zivilpersonen, die Beobachtung der Menschenrechtslage, die Absicherung der Bereitstellung humanitärer Hilfe und die Unterstützung bei der Umsetzung des Friedensabkommens und des Friedenspro- zesses. Waffenembargo Ein Antrag (20/10508) der Bundesregierung zur Beteiligung an der EU-Mission EUNAVFOR MED Irini im Mit- telmeer wurde am Freitag zur weiteren Be- ratung in die Ausschüsse überwiesen. Wie es darin heißt, zielt die Operation darauf, das Waffenembargo der Vereinten Natio- nen (VN) gegen Libyen durchzusetzen und einen Beitrag zur Unterbindung von Men- schenschmuggel und illegalen Öl-Exporten zu leisten. Die Bundeswehr soll Aufgaben wie die Seeraumüberwachung und -aufklä- rung übernehmen und dafür wie bisher bis zu 300 Soldatinnen und Soldaten entsen- den können. ahe T Baerbock wirbt für Waffenruhe GAZA Bedenken gegen israelische Rafah-Offensive Außenministerin Annalena Baerbock (Grü- ne) hat ihre Bedenken gegen einen israeli- schen Angriff auf Rafah im Süden des Gaza- streifens bekräftigt. In einer Aktuellen Stunde im Bundestag „zur Lage in Israel und den pa- lästinensischen Gebieten“ äußerte sie am Donnerstag Zweifel, „wie bei einer mögli- chen Offensive in Rafah der Schutz von Zivi- listinnen und Zivilisten überhaupt ermög- licht werden kann“. Schließlich könnten sich die 1,5 Millionen Menschen dort „nicht ein- fach in Luft auflösen“. Baerbock warb für ei- nen humanitären Waffenstillstand mit dem Ziel, dass die israelischen Geiseln aus den Händen der Hamas freikommen und dass Hilfslieferungen den Gazastreifen erreichen. „Uns muss es darum gehen, dass dieses Dra- ma für beide Seiten endlich vorbei ist.“ Ulrich Lechte (FDP) argumentierte, es sei un- vermeidlich, dass Israel nach dem Hamas- Terror vom 7. Oktober 2023 diesen Verteidi- gungskrieg führe. „Israels völkerrechtlich ver- ankertes Recht auf Verteidigung seiner Bevöl- kerung und seines Staatsgebietes, seiner De- mokratie und seiner Freiheit gegen Terroris- mus ist für uns selbstverständlich.“ Die ho- hen Opferzahlen seien vor allem darauf zu- rückzuführen, dass die „Hamas Zivilisten als menschliche Schutzschilde missbraucht und Waffen unter zivilen Einrichtungen ver- steckt“, sagte Lechte. „Was um alles in der Welt haben Waffen in einem Krankenhaus zu suchen?“ Johann David Wadephul (CDU) sagte, die katastrophale Situation dieses Krieges „geht einzig und allein auf das Konto der Hamas“. Es sei richtig, Israel darauf hinzuweisen, dass es mehr humanitäre Hilfen in Gaza ermögli- chen müsse. Aber Israel sage zurecht, dass sich in Rafah vier Bataillone und die militäri- sche Führung der Hamas aufhielten. Diesen Sicherheitsinteressen müsse man entspre- chen, „ansonsten wird man keiner Regierung – Netanjahu hin oder her – in Israel erklären können, dass wir zu einer friedlichen Lösung kommen“. Waffenstillstand Auch Gabriela Heinrich (SPD) betonte, dass Israel das Recht habe, sich selbst zu verteidigen. Die humanitäre La- ge in Gaza sei „absolut katastrophal“, die Menschen hungerten, es fehle an medizini- scher Versorgung. Nötig sei ein Waffenstill- stand, der sicherstelle, dass alle Geiseln zu ih- ren Familien heimkehren können und viel mehr humanitäre Hilfe die notleidenden Menschen in Gaza erreicht. Heinrich wies drauf hin, dass eine Offensive in Rafah die humanitäre Katastrophe verschärfen und Isra- el international noch mehr isolieren könnte. Diese Einschätzung teilte Joachim Wundrak (AfD). Er sprach von einer „schrecklichen Katastrophe, zu der der Nahostkonflikt in den letzten Monaten im Gazastreifen eska- liert ist“. Die hohe Zahl ziviler Opfer sei schwer erträglich. Für die Zustände in Gaza sei die Hamas verantwortlich, die Hilfsgelder missbraucht habe, um Tunnel zu bauen und Raketen anzuschaffen. Israel habe das Recht, Angriffe der Hamas zurückzuschlagen. ahe T Bereit zum Risiko RUSSLAND Oppositionelle Experten machen massive Fälschungen bei der Präsidentschaftswahl aus AFGHANISTAN Bundesregierung wollte Botschaft halten Sergej sagt, er habe „Putin ist ein Mörder!“ auf seinen Stimmzettel geschrieben. Der Manager gehört zu den Moskauern, die am Sonntag um 12 Uhr mittags zum Wahllokal gegangen sind, um in langen Warteschlan- gen gegen Wladimir Putin und seine Präsi- dentschaftswahlen zu demonstrieren. Er sei hingegangen, weil er Putins Herrschaft been- den wolle, sagt er. Nach den Präsidentschaftswahlen vom 15. bis zum 17. März stellten Oppositionelle Dutzende Fotos von Stimmzetteln mit die- sen Worten ins Internet. Laut dem Rechts- schutzportal OWD-Info wurden allein am Sonntag über 89 Personen festgenommen. Es erwischte auch Wahlbeobachter, die we- gen des stapelweisen Einwurfs von Stimm- zetteln Alarm geschlagen hatten. Die Wahl- betrüger selbst blieben unbehelligt. So wie die Chefs der Staatsbetriebe, die über die neue App „Dobrinja“ das Wahlverhalten ih- rer Belegschaften kontrollierten. Oder die Programmierer des digitalen Wahlsystems, das es in 29 Regionen den Online-Wahlbe- obachtern unmöglich machte, Stimmabgabe und Auszählung zu kontrollieren. Drei op- positionelle Experten kamen unabhängig voneinander zu dem Ergebnis, 22 Millionen von knapp 65 Millionen Stimmen für Putin seien gefälscht. Und laut der Wahlbeobach- tergruppe Golos war „die Äußerung des frei- en Willens der Wähler“ bei dieser Abstim- mung unmöglich. Die Äußerung des freien Willens der Wähler war nicht möglich. Wahlbeobachtungsgruppe Golos prophezeite Putin gewann mit dem offiziellen russischen Rekordergebnis von 87,3 Prozent. Vielen Russen stellte sich die Frage, ob dieses schwindelerregende Ergebnis nicht schon dramatische Änderungen für das Land be- deutet. Sergej und andere Moskauer, die sich am Sonntag in den Minuten nach 12 Uhr in die russischen Wählerlisten eintrugen, bestätigten, sie hätten Angst, von dort auf die schwarzen Listen der Si- cherheitsorgane zu geraten. „Es wird Repressalien nach den Präsidentschaftswahlen geben“, das Exilportal Medusa. Putin selbst forderte den Staatssi- FSB cherheitsdienst am Dienstag zu „offensiven Maßnahmen“ auf. Alle Ver- suche, Unruhen und zwi- schennationale Konflikte zu schüren, seien mit Härte zu durchkreuzen. Aber ein liberaler Moskauer Politologe glaubt nicht an die Rückkehr des stalinschen Terrors. „Wenn die Behörden die zehntau- senden Teilnehmer an der 12 Uhr-Mittags- aktion einsperren wollen, fehlt ihnen dazu ganz banal das Personal“. Eher würden sich die Sicherheitsorgane wie bisher darauf be- schränken, besonders laute Oppositionelle zu verhaften, um die übrigen einzuschüch- tern. Putins Regime bleibt populistisch, er selbst kündigte Ende Februar fünf neue „National- projekte“ an: „Langes und aktives Leben“ „Fa- milie“, „Jugend Russlands“, „Kader“ und „Datenwirtschaft“. Laut einer Schätzung des Exilportals Cholod würden seine Verspre- chen zwischen umgerechnet 75 bis 170 Mil- liarden Euro kosten. Das wiederum befeuerte die Ängste vor Steuererhöhun- gen. Nach ersten Stellung- nahmen aus Regierungskrei- sen wird die Einkommen- steuer bei einem Jahresein- kommen von umgerechnet 10.000 bis 50.000 Euro von 13 auf 15 Prozent steigen, für Besserverdienende von 15 auf 20 Prozent. Das klingt glimpflich, dürfte an- dererseits aber kaum ausrei- chen, um monumentale „Nationalprojekte“zu finanzieren. Fraglich ist auch, ob sie den stagnierenden Alltag der Russen groß verändern werden. Vor allem die Provinzrussen sind es seit Jahrzehnten ge- wohnt, dass ihr Land im Staats-TV immer prachtvoller wird, die Schlaglöcher vor der Haustür aber nicht verschwinden. „Einerseits hat Putin sich mit dem Wahlergebnis selbst eine Carte Blanche ausgestellt“, sagt der Mos- kauer Politologe. „Aber andererseits hat sein Sieg nur den Status quo bestätigt.“ Putin selbst richtete am Wahlabend sein Au- genmerk auf die Ukraine: „Vor allem müssen wir die Aufgaben der Kriegsspezialoperation lösen, die Verteidigungsfähigkeit und die Streitkräfte stärken.“ Er drohte mit einer Großoffensive, um in der Ostukraine eine „Sicherheitszone“ einzurichten. Und er hält sich die Möglichkeit auf eine neue Teilmobi- lisierung hunderttausender Wehrpflichtiger offen – wie im Herbst 2022. Aber Experten wiegeln ab. Eine Mobilisierungswelle sei un- wahrscheinlich, sagt der Militärexperte Vik- tor Litowkin, Freiwillige und Vertragssolda- ten bewältigten die Aufgaben auch so. Trotz allem Propagandajubels glüht Russ- land keineswegs vor Kriegsbegeisterung. Die Leute wollten ihr Einkommen haben, ihre Rente und eine Zukunft in Ruhe, schimpft die linientreue Massenzeitung Moskowskij Komsomoljez als Antwort auf einen Artikel des Ultranationalisten Alexander Dugin, der die totale Mobilisierung fordert. „Aber man bietet ihnen Kampf und Gürtelengerschnal- len ohne Ende an, in einer antiutopischen Lewada-Meinungsfor- Gesellschaft.“ schungszentrum sind nur noch 39 Prozent der Russen für eine Fortsetzung der Kampf- handlungen. Auch als 87-Prozent-Sieger muss Putin die Stimmung der schweigenden Mehrheit einkalkulieren. Laut Der Untersuchungsausschuss hat am Don- nerstag zwei Diplomaten befragt, die eine entscheidende Rolle in der deutschen Afgha- nistan-Politik gespielt haben. Die beiden ehemaligen Afghanistan-Sonderbeauftragten Markus Potzel und Jaspar Wieck informier- ten den Ausschuss über die Interessen Deutschlands in Afghanistan, die Ziele der Bundesregierung und die Gründe ihrer Ent- scheidungen. Der Ausschuss versucht Licht in die Ereignisse nach dem Abschluss des Do- ha-Abkommens 2020 zwischen den USA und den Taliban und der chaotischen Evaku- ierung im August 2021 zu bringen. Autorität Vor allem Potzel musste teils un- angenehme Fragen beantworten. In vorange- gangenen Sitzungen hatten ihn andere Zeu- gen wegen seiner Äußerungen belastet. Pot- zel, der bis Juli 2021 als Sonderbeauftragter fungierte, sollte seine Formulierungen über den damaligen deutschen Gesandten in Ka- bul, Jan van Thiel, erklären. Potzel, wie auch sein direkter Nachfolger Wieck, der Potzel als „die Autorität in dieser Region“ bezeichnete, betonten, die Arbeit von van Thiel sei sehr geschätzt und seine Berichte seien bei den Entscheidungen berücksichtigt worden. Doch seine Informationen seien nicht die einzigen gewesen. Erörtert wurden im Ausschuss auch grund- sätzliche Fragen. Je tiefer die Abgeordneten in den Akten graben, desto deutlicher wird, dass die Bundesregierung bereit war, größere Risiken einzugehen als andere Nationen, um nach einem Machtwechsel in Afghanistan zu bleiben. Potzel sagte, Deutschland habe in Afghanistan „vielfältige Interessen“ gehabt. Ein Verbleib im Land wäre hilfreich bei der Evakuierung von Staatsbürgern und Ortskräf- ten sowie bei Rückführungen gewesen, au- ßerdem besser für die Terrorismus- und Dro- genbekämpfung. Auch um die Entwicklungs- zusammenarbeit weiterzuführen, wollte man zunächst präsent bleiben. Die Situation in Afghanistan sei in Berlin immer auch mit Blick auf die Innenpolitik betrachtet worden. Das Innenministerium habe ein Interesse da- ran gehabt, Abschiebungen fortzusetzen, es sei Wahlkampf gewesen. 2009 habe Deutschland Verbindung mit den Taliban aufgenommen, um eine politische Lösung des Konfliktes zu erreichen, sagte Wieck. Dabei sei Vertrauen aufgebaut wor- den. Aus diesem Grund, so Potzel, hätte die Botschaft nicht unbedingt evakuiert werden müssen. Doch als die USA die Green Zone und ihre Botschaft räumten, habe man Plün- derungen durch Kriminelle befürchten müs- sen. Dass die deutsche Auslandsvertretung durchaus hätte bleiben können, zeige das Bei- spiel der Türkei, sagte Wieck. Das Nato-Mit- glied habe seine Botschaft in Kabul nicht ge- schlossen. Allerdings hatte die Türkei, anders als die USA und Deutschland, keine militäri- sche Rolle in Afghanistan gespielt. Cem Sey T