Das Parlament - Nr. 18-20 - 27. April 2024 IM BLICKPUNKT 9 Auf der Agenda EINSAMKEIT Anfang des Jahres hat das Bundesfamilienministerium seine »Strategie gegen Einsamkeit« veröffent- licht. Ursachen und Folgen von Einsamkeit sind so komplex, wie die Initiativen vor Ort verschieden sind Momente von Einsamkeit gehören zum Leben, erst wenn jemand über längere Zeit keinen Ausweg sieht, wird es kritisch. © picture-alliance/Westend61/AngelSantana Garcia A nfangs wurde Michael Di- xon von seinen Kollegen spöttisch „Der Pfarrer“ ge- nannt: Weil der Allge- meinmediziner die Krank- heiten seiner Patienten nicht nur mit den üblichen Medikamenten behandelte, sondern ihnen Wandergrup- pen, Kunst -oder Schreibkurse vermittelte und dafür extra eine Mitarbeiterin einstell- te. So begann vor rund 15 Jahren im süd- englischen Cullompton, einer kleinen Ge- meinde mit rund 8.000 Einwohnern, so et- was wie eine Revolution. Dixon vermutete, dass hinter den sichtbaren Leiden vieler seiner Patienten ein anderes steckte: Die zunehmende Einsamkeit, die er beobach- tete. Also verordnete er ihnen „soziale Me- dizin“ und stellte fest, dass sich bei jenen, die seine Praxis am häufigsten besuchten und die er mit „sozialer Medizin“ behan- delte, die Krankenhausbesuche und Haus- arzttermine um 20 Prozent reduzierten. 2019 erkannte der britische Gesundheits- dienst NHS diese Behandlungsmethode of- fiziell an. „Social Prescribing“, also „Sozia- le Medikation“, ist seitdem auf Rezept er- hältlich. Auch zahlreiche Studien belegen: Chroni- sche Einsamkeit kann krank machen. Sie steigert das Risiko für Herz-Kreislauf-Er- krankungen, für psychische Erkrankungen wie Depressionen oder für neurodegenera- tive Erkrankungen wie Demenz und senkt sogar die Lebenserwartung. Das alles belas- tet das Gesundheitssystem und wird auch für Arbeitgeber ein Problem, denn die An- zahl der Fehltage wegen psychischer Er- krankungen steigt seit Jahren. Im Oktober hatte der „DAK-Psychreport“ für 2022 ei- nen neuen Höchststand bei den Versicher- ten der Krankenkasse festgestellt: 301 Fehl- tage je 100 Versicherte. Frauen sind deut- lich häufiger betroffen als Männer. Politische Teilhabe in Gefahr Dass Ein- samkeit, wenn sie über längere Zeit andau- ert, krank machen kann, wirkt vielleicht nicht überraschend. Überraschend ist eher die Tatsache, dass es sich um ein Phäno- men handelt, das längere Zeit unter dem Radar der Öffentlichkeit existierte und nun offenbar einen kritischen Punkt erreicht hat. Erkennbar ist das daran, dass es seit ei- nigen Jahren auf der politischen Agenda angekommen ist: Großbritannien hat schon 2018 die weltweit erste Strategie ge- gen Einsamkeit veröffentlicht und eine Stabsstelle beim Staatssekretariat für Digi- tales, Kultur, Medien und Sport eingerich- tet. Im selben Jahr startete auch in den Niederlanden das Programm „Vereint ge- gen Einsamkeit“. In Frankreich, Japan und Australien gibt es ähnliche Initiativen, bei denen es in erster Linie darum geht, vor- handene zivilgesellschaftliche und politi- sche Akteure vor Ort zu vernetzen, einzel- ne neue Projekte zu finanzieren und Wis- sen zu vermitteln. Mit der Präsentation der Einsamkeitsstrate- gie durch das Bundesfamilienministerium Anfang des Jahres ist das Thema auch in Deutschland auf der (bundes-)politischen Tagesordnung gelandet. Darin verweist die Regierung nicht nur auf gesundheitliche Risiken für Einzelne, sondern auch auf die negativen Folgen für die soziale Teilhabe und politisches Engagement. „Klar ist, dass nicht jede einsame Person Ressentiments entwickelt. Aber nachweislich nehmen bei- de Gefühle in unserer Gesellschaft zu, und in vielen Fällen verbinden sie sich mitei- nander. Menschen können in der Einsam- > S T I C HW O RT Einsamkeit > Definition Einsamkeit wird definiert als ein subjektives negatives Gefühl, das entsteht, wenn die Kluft zwischen den gewünschten und tatsächlichen sozialen Beziehungen groß ist. > Zahlen In Deutschland fühlten sich nach einer Auswertung des „Deutschland-Ba- rometer Depression 2023“ im vergange- nen Jahr 25 Prozent der Erwachsenen sehr einsam. > Gefährdete Gruppen Armut und Krankheit, aber auch wenig Freizeit be- günstigen Einsamkeit. Alleinerziehende, Erwerbslose, chronische Kranke, pflegen- den Angehörige oder Menschen mit Be- hinderungen sind besonders gefährdet. keit extreme Haltungen entwickeln und das geht mit einem Vertrauensverlust in unsere Demokratie einher“, resümiert der Verfassungsrechtler Jens Kersten in seinem Buch „Einsamkeit und Ressentiment“. Nicht zuletzt wegen des Anstiegs der Zahl der Betroffenen seit der Covid-19-Pande- mie nennt auch die Bundesregierung Ein- samkeit „eine gesamtgesellschaftliche und politische Herausforderung zugleich“. Ziele der Strategie sind: Sensibilisierung der Öf- fentlichkeit, Stärkung des Wissens und der Praxis, bereichsübergreifendes Agieren und Unterstützung der Betroffenen. Im Kern geht es darum, eine Fülle von Maßnah- men, Projekten und Initiativen aus den Be- reichen Wohnen, Ernährung, Gesundheit und Familienpolitik, die zum größten Teil schon Jahre existieren, zu bündeln und das Thema aus der Tabuzone zu holen. Denn solange es schambehaftet bleibe, betonen Experten immer wieder, seien Lösungen kaum möglich. „Es ist gut, so einen Überblick zu haben, das zeigt die Wertschätzung für die Projek- te“, sagt Lydia Seifert, Geschäftsführerin der Telefonseelsorge Deutschland über die Strategie. Gleichzeitig würden viele der Projekte permanent um ihre Finanzierung kämpfen müssen. Angesichts wegbrechen- der Kirchensteuern sehe auch die Telefon- seelsorge, die in erster Linie von den bei- den großen christlichen Kirchen finanziert wird, ungewissen Zeiten entgegen, erläutert sie. „Die Nachfrage nach Telefonseelsorge ist enorm hoch, wir können die eigentlich kaum decken. Aber die Mittel werden im- mer knapper.“ Für Seifert ist deshalb klar: „Die Gesellschaft insgesamt muss sich die Frage stellen: Sind wir für Menschen in Kri- sensituationen da und sind wir bereit, da- für auch Geld auszugeben? Diese Bereit- schaft sehe ich in der Einsamkeitsstrategie bisher noch nicht.“ Ländern und Kommunen reagieren, be- dingt durch die Pandemie, schon seit eini- gen Jahren auf das Problem und entwi- ckeln Projekte. So hat das bevölkerungs- reichste Bundesland, Nordrhein-Westfalen (NRW), im Januar 2020 eine Enquetekom- mission „Einsamkeit und soziale Isolation“ eingesetzt, die in ihrem Bericht unter ande- rem fordert, Fachkräfte in Kitas, Schulen, am Arbeitsplatz und im Gesundheits- und im Sozialbereich sowie Politiker für die Themen zu sensibilisieren, damit sie als Multiplikatoren zur Entstigmatisierung beitragen können. „Dabei ist es besonders wichtig, die strukturellen Zusammenhänge zwischen Einsamkeit, Bildung, Armut, Ar- beitslosigkeit, direktem Migrationshinter- grund und vulnerablen Gruppen sowie nachbarschaftlichen Strukturen und feh- lendem Engagement in den Fokus zu neh- men“, betont die Kommission. Armut ist ein wichtiger Faktor Tatsäch- lich weisen Studien immer wieder auf ei- nen starken Zusammenhang zwischen Ar- mut und Einsamkeit hin. Alleinerziehende sind hier eine der gefährdetsten Gruppen, aber auch ältere Menschen und Jugendli- Jugendliche mit che. Auf Letzteres wies jüngst eine im No- vember 2023 vorgestellte Einsamkeitsstu- die aus NRW hin, für die rund 2.200 Ju- gendliche befragt wurden. Die Zahlen sind alarmierend, denn 16 bis 18 Prozent der Jugendlichen zwischen 16 und 20 Jahren gaben an, sehr einsam zu sein. Auffallend auch hier: finanziellen Problemen im Haushalt fühlen sich öfter einsam. „Je niedriger die Einkommensklas- se, desto höher ist die Einsamkeitsrate und umgekehrt“, stellt die Enquetekommission aus NRW fest und führt aus, dass in Haus- halten mit einem Monatseinkommen un- ter 500 Euro jede dritte Person einsam ist, in Haushalten mit mehr als 2.000 Euro ist es nur jede 20. Person. So komplex die Ursachen von Einsamkeit sind, so verschieden sind die Handlungs- ansätze vor Ort. Frankfurt (Oder) startete schon vor Jahren das Projekt „Gegen Ver- einsamung“, das sich vor allem an Senio- ren richtete und diese durch „aufsuchende Sozialarbeit“ aus ihrer Einsamkeit heraus- holen sollte. In Frankfurt am Main ver- suchte man es dagegen mit Kunst: Das Ge- sundheitsamt der Stadt startete Ende 2022 das Projekt „Kultur auf Rezept“, das Men- schen, die sich einsam fühlen, Museums- führungen, Theaterkurse oder Workshops anbot. „Unter den Teilnehmenden sind die Einsamkeitsgefühle gesunken und das Wohlbefinden gestiegen. Das ist eine sehr positive Bilanz“, freute sich Gesundheits- dezernentin Elke Voitl Ende März, als das Projekt zu Ende ging. Claudia Heine T »Ohne Investitionen wird sich am Status quo nicht viel ändern« INTERVIEW Die Einsamkeitsforscherin Maike Luhmann betont die Bedeutung privater lokaler Initiativen und fordert deren systematische Förderung Frau Luhmann, Hotels in den Bergen werben gern damit: „Genießen Sie die Einsamkeit der Natur!“ Werden Einsam- keit und Alleinsein oft verwechselt? Im Alltag ja. Aber es ist nicht dasselbe. Al- leinsein kann etwas Freiwilliges und Ange- nehmes sein. Einsamkeit aber ist ein unan- genehmer, schmerzhafter Zustand, der ein- tritt, wenn Sozialbeziehungen nicht so vor- handen sind, wie man es sich wünscht. Das kann mit Alleinsein zusammenhän- gen, muss es aber nicht. Man kann auch einsam sein, obwohl man ständig von Menschen umgeben ist. Jeder kennt sicher Gefühle von Ein- samkeit. Ab wann wird es kritisch? Einsamkeit ist keine Krankheit und nicht etwas, was man hat oder nicht hat. Son- dern man muss sich Einsamkeit als ein Spektrum vorstellen. Der Punkt, ab wann es kippt, ist schwer zu definieren, weil es sehr von individuellen Gegebenheiten und Rahmenbedingungen, also wirklich von vielen Faktoren abhängt. Aber wenn je- mand über längere Zeit stark einsam ist und für sich keinen Weg findet, da rauszu- kommen, dann wird es kritisch, das heißt, es fängt an, sich auf die Gesundheit auszu- wirken. Erschwert diese Komplexität es, poli- auf die Politik keinen Einfluss hat. Gleich- zeitig ist Einsamkeit in der Bevölkerung stärker verbreitet, wenn bestimmte Rah- menbedingungen existieren oder eben nicht. Deshalb gibt es auf struktureller Ebe- ne durchaus Handlungsspielraum für poli- tische Maßnahmen. Seit Corona rückt die Einsamkeit von Jugendlichen verstärkt in den Fokus. Die Lockdowns sind lange vorbei, wie groß ist das Problem immer noch? Neue Zahlen aus Nordrhein-Westfalen zei- gen, dass Jugendliche sehr viel stärker un- ter Einsamkeit leiden als vor der Pandemie. Es hat sich also etwas verändert. Zwar gibt es natürlich auch dafür verschiedene Ursa- chen. Aber ich denke, dass die Pandemie einen Anteil daran hat. Denn bei Jugendli- chen gibt es einfach besonders sensible Phasen, in denen Freundschaften wichtiger werden, erste romantische Erfahrungen ge- macht werden. Wenn Jugendliche wieder- holt davon abgehalten werden, kann das langfristige Folgen haben. Daneben ist es durchaus möglich, dass auch die Nutzung des Internets den Alltag der Jugendlichen so verändert hat, dass Einsamkeitstenden- zen zunehmen. Aber für diese Kausalität fehlt momentan noch eine gute Daten- grundlage. tisch Handlungsansätze zu entwickeln? Oft liegen die Dinge in der Person und be- stimmten Lebensumständen begründet, Einsamkeit geht mit einem Rückzug einher, mit wenig Vertrauen in Andere. Die Chance, dass diese Menschen aktiv ein Hilfsangebot in der Nähe aufsuchen, ist relativ gering, oder? Das ist in der Tat eine der größten ungelös- ten Fragen. Für Menschen, die sich schon sehr lange zurückgezogen haben, braucht es deshalb aufsuchende Angebote, die zu ihnen kommen. Es gibt da, auch interna- tional, viele Ideen und Projekte. Zum Bei- spiel wurden Paketboten in den Niederlan- den geschult, um Anzeichen von Einsam- keit bei Menschen in ihrer Gemeinde bes- ser zu erkennen, um dann Hilfen zu orga- nisieren. Oder das Verschreiben sozialer Aktivitäten per Rezept wie in Großbritan- nien kann helfen, gerade an Menschen he- ranzukommen, die schon sehr stark zu- rückgezogen sind. Zum Arzt gehen sie dann meistens doch noch, gerade Ältere. Gibt es im Verlauf einer Biografie Phasen, in denen man anfälliger ist, in Einsamkeit abzurutschen? Die gibt es. Auch im internationalen Kon- text konnten wir feststellen, dass zum ei- nen Jugendliche sehr stark betroffen sind. Das ist auch plausibel, weil sich im Ju- gendalter Beziehung neu sortieren und das Selbstwertgefühl stark davon abhängt, ob man Freunde hat. Zum anderen sind es die „Hochaltrigen“, also nicht die 70-Jährigen, sondern deutlich ältere, die stark unter Ein- samkeit leiden. Wenn also irgendwann die Gesundheit so nachlässt, dass sie die Mobi- lität einschränkt und das soziale Netz im- mer kleiner wird. Kann man in einer anonymen Groß- stadt leichter einsam werden als auf dem Dorf, wo jeder jeden kennt? Nein, das kann man so nicht sagen. Es ist zwar nicht egal, wo man wohnt, es gibt ei- ne Reihe von Studien, die zeigen, dass Merkmale des Wohnortes auch einen Ef- fekt haben. Aber sowohl Städte als auch Dörfer haben ihre Vor- und Nachteile. Ei- nerseits ist es vielleicht als Neuankömm- ling in einer großen Stadt schwerer, ande- rerseits hat man dort eine größere Auswahl an Menschen und mehr Angebote zur Ver- fügung. Deshalb: Entscheidend ist nicht der Ort an sich, sondern, ob ich dort mit meinen Bedürfnissen gut hinpasse. t d r a u q r a M , B U R © Maike Luhmann Wir leben in einer sehr stark indivi- dualistischen Gesellschaft. Begünstigt das Einsamkeitstendenzen eher als in mehr kollektivistisch geprägten? Interessanterweise sieht man in Studien eher den gegenteiligen Effekt: Das Einsam- keitsempfinden ist in kollektivistischeren Gesellschaften höher. Einsamkeit ist ja der Abgleich zwischen dem, was man erwartet und dem, was man hat. Es kann sein, dass man in diesen Gesellschaften tatsächlich ein dichteres soziales Netz hat. Aber gleich- zeitig sind die Erwartungen auch deutlich höher, gerade an familiäre Beziehungen. Wenn der Kontakt zu den eigenen Kindern dann nicht so eng ist, wie gewünscht, emp- findet man eventuell schneller Einsamkeit als in einer Gesellschaft, wo eher klar ist, dass die Kinder woanders wohnen. Ist das Thema mit der Einsamkeits- strategie der Bundesregierung politisch dort angekommen, wo es hingehört? Das auf jeden Fall. Es hat inzwischen alle Ebenen erreicht. Auch in den Ländern und auf kommunaler Ebene passiert enorm viel, ebenso auf EU-Ebene. Das ist gut, denn Einsamkeit kann letztlich nur mit Unterstützung der Politik angegangen wer- den, auch wenn es nicht die eine Lösung gibt, sondern nur ein ganzes Potpourri aus Maßnahmen erfolgreich sein kann. Ein solches Potpourri präsentiert die Einsamkeitsstrategie und man hat den Eindruck, es passiert schon sehr viel. Es passiert auch viel und die Strategie ent- hält sehr viele gut durchdachte Maßnah- men. Etwas enttäuschend ist aber, dass kei- ne zusätzlichen Mittel eingeplant sind. Stattdessen werden viele Maßnahmen auf- gezählt, die es ohnehin schon gibt und die nun unter dem Label Einsamkeit zusam- mengefasst werden. Ganz ohne Investitio- nen wird sich am Status quo jedenfalls nicht viel ändern. Ist der Bund überhaupt der richtige Akteur? Begrenzt, denn natürlich müssen die Pro- jekte letztlich lokal umgesetzt werden. Dort gibt es unglaublich viele gute Ideen und Initiativen, die auch durch privates Engagement entstehen. Aber die haben oft noch nicht mal Vereinsstrukturen und erst recht kein Geld. Auf diese Initiativen kön- nen wir nicht verzichten, das ist genau, was wir brauchen. Wenn wir es schaffen, hier systematisch zu fördern, wären wir schon einen Schritt weiter. Und da könnte durch- aus auch der Bund mit ins Boot kommen. Das Interview führte Claudia Heine Maike Luhmann ist Professorin und Dekanin der Fakultät für Psychologie an der Ruhr Universität Bochum. Sie ist eine der bekanntesten Einsamkeits- forscherinnen Deutschlands und berät sowohl Bundes- wie auch Landespolitiker.