2 MENSCHEN UND MEINUNGEN Das Parlament - Nr. 21 - 18. Mai 2024 GASTKOMMENTARE STRAFRECHT VERSCHÄRFEN? Mit allen Mitteln PRO Um eines vorwegzunehmen: Die Ver- g n u t i e Z r e n i l r e B / g n i l ö r F i e k M © Markus Decker, Redaktionsnetzwerk Deutschland t a v i r P © Daniel Goffart, »Wirtschaftswoche«, Düsseldorf schärfung von Strafen allein trägt sel- ten dazu bei, Kriminalität einzudäm- men – geschweige denn, Taten ganz zu unterbinden. Die Verhängung von Todesstrafen ist dafür ein herausragendes Beispiel. Verschärfun- gen können aber durch Abschreckung einen Bei- trag leisten. Und angesichts der zunehmenden An- griffe auf Politiker sind sie allemal angebracht. Denn es ist ein grundlegendes Missverständnis, zu behaupten, damit sei eine Privilegierung der Be- troffenen verbunden. Wer so spricht, ist der Rede von der egoistischen Politikerkaste und damit den Tätern längst auf den Leim gegangen. Politiker be- werben sich nämlich entweder darum, von Bür- gern gewählt zu werden und diese anschließend zu vertreten – oder sie tun dies bereits, weil die Wahl stattgefunden hat. Jedenfalls stehen Politiker nie für sich allein, sondern sind Repräsentanten von Gruppen sowie letztlich des Ganzen, also des Systems. Wer sie angreift, greift das System an – und daher letztlich alle. Das ist nicht nur Theorie, sondern seit Jahren grau- same Praxis. Angegriffene ziehen sich vor allem aus kommunalen Ämtern immer öfter zurück. Im- mer öfter mangelt es auch an Bewerbern. Genau darin besteht ja das Ziel der Angreifer. Sie wollen Ängste schüren, so dass Demokraten von Kandi- daturen Abstand nehmen und lediglich den An- greifern genehme Kandidaten übrigbleiben. Hart- gesottene mögen es in diesem Klima noch aushal- ten. Die Sensibleren gewiss nicht mehr. So wird die Auswahl der Besten unterbunden. Kein Zweifel, dieser Entwicklung muss der demo- kratische Rechtsstaat mit allen Mitteln entgegen- treten, weil sie seine Existenz gefährdet. Und Strafverschärfungen sind eines davon. auf Politiker auch sind – eine Verschärfung der einschlägigen strafrechtlichen Bestim- mungen würde das Problem der zuneh- menden gesellschaftlichen Verrohung nicht verrin- gern, geschweige denn lösen. Erstens gibt es im geltenden Strafrecht genug Möglichkeiten: von Körperverletzung, Beleidigung, Bedrohung bis hin zur Nötigung reicht das juristische Instrumentari- um. Auch die in diesen Paragrafen vorgesehenen und recht weit gefassten Strafrahmen lassen emp- findliche Sanktionen zu. Bei der Strafzumessung können Schutzgüter wie das freie Mandat oder das demokratische Engagement ja besonders her- vorgehoben werden und sich auch in entspre- chend harten Sanktionen niederschlagen. Weder der Staat noch der Politiker als Spezies sind also schutzlos und gerade die Vertreter des Volkes in den Parlamenten sollten sich genau überlegen, ob sie etwa beim Tatbestand der Körperverletzung ein Sonderrecht beanspruchen wollen. Zweitens sollte man die Ursachen für die Angriffe auf Politiker genauer in den Blick nehmen, anstatt reflexhaft nach Gesetzesverschärfungen zu rufen. Die Hetze und die vielen kruden Behauptungen, Verdächtigungen und Verschwörungserzählungen in den sogenannten sozialen Medien bilden näm- lich sehr häufig den Nährboden für Angriffe aller Art. Dass bei den Tätern auch zunehmend Men- schen anzutreffen sind, deren geistige Zurech- nungsfähigkeit mindestens zweifelhaft ist, macht die Verhinderung solcher Taten noch schwieriger. Wenn der Gesetzgeber also irgendwo Nachholbe- darf sieht, wäre eine stärkere Regulierung der so- zialen Medien sicher sinnvoller als erhöhte Strafen oder neue Tatbestände im Strafgesetzbuch. Wenig sinnvoll CONTRA So bedauerlich und alarmierend Angriffe Mehr zum Thema der Woche auf den Seiten 1 bis 3. Kontakt: gastautor.das-parlament@bundestag.de Herausgeber Deutscher Bundestag Platz der Republik 1, 11011 Berlin Fotos Stephan Roters Mit der ständigen Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte ISSN 0479-611 x (verantwortlich: Bundeszentrale für politische Bildung) Anschrift der Redaktion (außer Beilage) Platz der Republik 1, 11011 Berlin Telefon (0 30) 2 27-3 05 15 Telefax (0 30) 2 27-3 65 24 Internet: http://www.das-parlament.de E-Mail: redaktion.das-parlament@ bundestag.de Chefredakteur Christian Zentner (cz) V.i.S.d.P. 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Frau Magwas, etliche Abgeordnete, da- runter auch Sie, haben nach dem brutalen Überfall auf den SPD-Europawahlkandida- ten Matthias Ecke die „Striesener Erklä- rung“ unterschrieben. Darin wird unter an- derem körperliche Gewalt im Wahlkampf verurteilt. Was läuft schief im Land, wenn es inzwischen so eine Erklärung braucht? Das sollte doch selbstverständlich sein. Ja, eigentlich sollte, muss das selbstverständlich sein. Es ist erschreckend, dass es so einer Erklä- rung bedarf. Was läuft schief? Ein Stück weit können wir auch im Deutschen Bundestag se- hen, dass sich die Debattenkultur verändert hat. Sie ist viel rauer geworden, Ordnungsrufe werden von AfD-Abgeordneten quasi als Tro- phäen betrachtet, mit Diffamierungen werden die Grenzen des Sagbaren verschoben. Es hat viel damit zu tun, dass die AfD das massiv be- treibt und zu oft ein Stück weit andere dann auf den Zug aufspringen. So kommt es zu ei- ner überhitzten Diskussionskultur. Und aus Worten werden leider folgend auch Taten. Sind die Fälle, über die nun berichtet wird, ein neues Phänomen oder wird gerade nur genauer hingeschaut? Ich glaube schon, dass es eine bisher unge- kannte Dimension erreicht hat. Klar, auch in früheren Wahlkämpfen wurden Plakate be- schädigt. Aber dass es direkte Übergriffe auf Wahlkämpfende und Politikerinnen und Poli- tiker gibt, das hat deutlich zugenommen. Glei- ches gilt für Einschüchterungsversuche, für Be- drohungen, Beleidigungen und Sachbeschädi- gungen. Früher haben wir oft nachts plaka- tiert, weil es da viel weniger Verkehr gibt und das ja auch die Freizeit der Ehrenamtler ist. Heute muss man der Polizei Bescheid sagen, wenn man plakatiert, egal wann, damit sie si- cherheitshalber regelmäßig eine Streife vorbei- schickt. Das ist eine neue Qualität. Das ist im Grunde völlig irre! Ihre Partei ist in Sachsen im Kommunal- und Europawahlkampf. Was geben Sie den Ehrenamtlichen mit? Ich gebe unseren Leuten Vorsichtsmaßnahmen mit auf den Weg. Am besten nicht allein ge- hen, am besten nicht nachts plakatieren – aber bitte dennoch plakatieren! Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen. Denn das ist das perfide Ziel der Angreifer und der Hetzer. Es ist wichtig, dass im Wahlkampf politische Par- teien Bürgerinnen und Bürgern ihre Positionen an Infoständen und auf Plakaten deutlich ma- chen und veranschaulichen – davon dürfen wir uns nicht abbringen lassen. Wie gehen Sie selbst mit verbalen An- griffen um und was macht das mit Ihnen? Ich nutze die Instrumente des Rechtsstaates. Wir sind eine wehrhafte Demokratie und da- rum sollte man sich mit Strafanzeigen wehren. Wie geht man damit um? Manchmal bewegt es einen mehr, manchmal weniger. Ich mache mir vor allem Sorgen um die Signalwirkung solcher Angriffe. Was meinen Sie damit? Das sind keine Angriffe auf die Person, das sind Angriffe auf die Demokratie, Angriffe auf staatliche Institutionen und Verfassungsorga- ne. Mir macht viel mehr Angst, wie sich das auf das zukünftige Engagement von Kommu- nalpolitikern oder Wahlkämpfenden auswirkt. Ich weiß, wie schwierig es immer wieder ist, die Kandidatenlisten der Partei für die Stadt-, Gemeinde- und Ortschaftsräte aufzustellen. Viel zu wenige wollen sich engagieren. Nun sagen diese sich: Mich dann auch noch an- schreien oder anpöbeln zu lassen, das muss ich mir nicht antun. Das ist nachvollziehbar, aber zutiefst fatal! Was kann die Politik im Allgemeinen tun, um das Problem anzugehen? Es gibt Vorschläge, das Strafrecht zu verschärfen. Die Vorschläge muss man sich genau anschau- en, ich bin da grundsätzlich nicht abgeneigt. Es muss aber vor allem schnellere Verfahren geben. Ich habe selbst schon einige Anzeigen »Eine neue Qualität« YVONNE MAGWAS Die Bundes- tagsvizepräsidentin fordert schnellere Verfahren gegen Gewalttäter und eine Verschärfung des Ordnungsrechts im Parlament © Tobias Koch wegen Beleidigung und dergleichen gestellt. Wenn ich dann sehe, dass es bis zur Vergabe eines Aktenzeichens schon ein halbes Jahr dauert, ist das zu lang. Dazu braucht man mehr Personal in der Justiz und bei der Poli- zei, das ist mir bewusst. In Baden-Württem- berg gibt es beispielsweise Schnellverfahren. Das könnte auch ein Rezept für andere Bun- desländer sein. Ebenso könnten Schwerpunkt- staatsanwaltschaften ein wichtiges Instrument sein. Und die Strafrahmen müssen zudem aus- geschöpft werden gerade in solchen Fällen. Es geht aber auch um den Umgang von uns De- mokratinnen und Demokraten untereinander. Wir müssen einen ordentlichen Umgangston behalten, müssen achtsam miteinander sein. Nun lebt ein Wahlkampf von Attacken und Zuspitzungen. Welche Grenzen sehen Sie für politische Auseinandersetzungen? Wenn es beleidigend wird oder demokratische Wettbewerber zu Feinden erklärt werden, wird es zum Problem. Der zugespitzte Wahlkampf, den man vor vielen Jahren im Bierzelt gemacht hat, ist vielleicht auch nicht mehr das Mittel der Wahl. Die aufgeheizte Stimmung, die es zum Teil in der Bevölkerung gibt, sollte nicht noch mehr befeuert werden: Sie erwähnten den raueren Ton im Bun- destag, für den die AfD-Fraktion verantwort- lich gemacht wird. Haben Sie das Gefühl, dass Ordnungsmaßnahmen des Präsidiums noch eine Wirkung entfalten? Es hat schon noch eine gewisse Wirkung. Wir sehen aber auch, dass wir das Ordnungsrecht verschärfen müssen. Ich glaube, man muss bei- spielsweise viel mehr mit dem Instrument des Ordnungsgeldes arbeiten statt mit dem Ord- nungsruf. Die Geschäftsordnungsnovellierung läuft gerade. Koalition und demokratische Op- position sind im Austausch dazu, wir als Präsi- dium haben Vorschläge vorgelegt. Die Gesprä- che sind inzwischen in einer sehr konkreten Phase. In Thüringen und Sachsen liegt mit der AfD eine Partei in Umfragen vorne, die je- weils vom Landesamt für Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingeschätzt wird. Die Bundespartei gilt als rechtsextre- mer Verdachtsfall. Trotzdem sind die Umfra- gen so, wie sie sind. Wie steht es um die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie? Ein Großteil der Menschen fühlt sich unserer Demokratie sehr eng verbunden. Darum bleibe ich dabei: Wir haben eine wehrhafte Demokratie. Nichtsdestotrotz müssen wir sehr genau schauen, welche Instrumente die- se an die Hand gegeben bekommen hat, um dem entgegenzutreten und zu sagen: Stopp! So nicht weiter! Das heißt beispielsweise auch Prüfung des Entzugs der staatlichen Parteienfinanzierung oder eines Verbotsver- fahrens. In ihrem sächsischen Wahlkreis ist die AfD stark. Was sagen Sie Wählern und Wäh- lerinnen vor Ort? Schaut euch an, was sie wollen, etwa den EU- Austritt oder das antiquierte Frauen- und Fa- milienbild. Das kann doch nicht das Ziel ver- nünftiger Menschen sein. Man muss auch deutlich festhalten, dass es eine rechtsextreme Partei ist – ganz grundsätzlich. Und ich will ganz ehrlich sagen: Man wählt keine rechtsex- treme Partei. Auch nicht, wenn man Sorgen hat. Deutschland feiert am 23. Mai 75 Jahre Grundgesetz. Haben wir angesichts der Lage Grund zu feiern? Ja, das haben wir: 75 Jahre Grundgesetz, knapp 34 Jahre Grundgesetz auch für die neu- en Bundesländer. Oftmals wird immer noch davon gesprochen, was Ost und West trennt. Ich bin dafür, mehr darüber zu sprechen, was uns verbindet. Und das tut das Grundgesetz: Als Kompass, als eine Handreichung des ge- sellschaftlichen Zusammenlebens. Die Frei- heit, die Werte, die Rechte und auch die Pflich- ten, die in der Verfassung kodifiziert sind – das kann man wahrlich feiern. Noch nie in unse- rer Geschichte haben wir Deutschen so lang in Frieden, Freiheit und breitem Wohlstand um- geben von Freunden gelebt. Wenn Sie sich zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes etwas wünschen dürften, was sollte denn noch in die Verfassung? Ich würde mir eher wünschen, dass man viel früher mit der Vermittlung des Grundgesetzes beginnt, in den Schulen zum Beispiel. Warum machen wir nicht einen Aktionstag zum Grundgesetz an Schulen?! Der 23. Mai würde sich dafür anbieten. Denkbar wäre auch, dass alle 15- oder 16-Jährigen das Grundgesetz in einer für Jugendliche aufgearbeiteten Form mit einem Anschreiben der Bundestagspräsidentin erhalten. Wir sollten den jungen Menschen noch stärker nahebringen, was das Grundge- setz ausmacht, was Demokratie lebendig macht – und, dass sie von aktiven Demokra- tinnen und Demokraten lebt. Die Fragen stellte Sören C. Reimer. Yvonne Magwas ist seit 2021 Vize- präsidentin des Deutschen Bundestages. Die sächsische Christdemokratin sitzt seit 2013 im Parlament. PARLAMENTARISCHES PROFIL Die Beharrliche: Renate Künast R enate Künast war in ihrem politischen Leben Expertin für vieles, sie war Sozialarbeiterin im Gefängnis und Anwältin für Ausländerrecht und Bürgerrecht, sie hielt die Flügel ihrer Partei zusammen und managte Koali- tionen, wurde schließlich Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Dass sie aber nun, nach nicht we- nigen Jahren in der Legislative, Expertin für Hate-Crime und Cy- bermobbing wird, hatte sie auch nicht auf dem Zettel. „Es war der Winter 2015/2016“, erinnert sich die 68-jährige Grü- nen-Bundestagsabgeordnete aus Berlin, „ich hatte im Fernsehen über die Kölner Silvesterkrawalle diskutiert, und plötzlich waren da diese Beleidigungen auf Facebook – eine endlose Reihe.“ 270 Posts, nur zwei bis drei mit seriöser Kritik, die anderen nicht. „Ich fragte mich: Was ist das eigentlich?“ Gemeinsam mit der „Spiegel“-Journalistin Britta Stuff machte sie einige Perlen der Beleidigung ausfindig und besuchte ihre Ab- sender daheim. Und strengte auch Gerichtsverfahren an. Damit war sie ihrer Zeit voraus, wird doch aktuell wieder diskutiert, den Schutz für Politiker vor Beleidigungen, Mobbing und tätlichen Angriffen zu erhöhen – nach den jüngsten Angriffen im Wahl- kampf zum Europäischen Parlament. „Das ist in Wahrheit das, was seit Jahren aus rechtsextremen Kreisen systematisch betrie- ben wurde“, sagt Künast am Telefon, es ist Donnerstag um kurz nach acht in der Früh; sie sitzt im Auto auf dem Weg zum Bun- destag. „Druck und Aggression sind angeschwollen, nun schlägt die verbale Gewalt in physische um.“ Bei ihren Recherchen fand Künast heraus, dass es nicht nur Frus- trierte und Abgehängte sind, die Hass verbreiteten, „sondern einer- seits viele, die schlicht meinten, ihnen würde schon nichts passie- ren, andere waren klar rechtsextrem orientiert.“ Damals, 2016, musste Künast in der Justiz Überzeugungsarbeit leisten. „‘Das müssen Politiker schon aushalten können‘, sagte man mir.“ Doch dann dränge sich die Frage auf, schließt sie an, wer sich dann noch politisches Engagement antun wolle. „Die Justiz musste erst die ..................................................................................................................................................... »Es ist im öffentlichen Interes- se, dass Persönlichkeitsrechte von Menschen, die sich fürs Gemeinwohl engagieren, geschützt werden.« e c n a i l l a - e r u t c i p / a p d © Methodik verstehen, die Unterschiede zur Beleidigung im analo- gen Raum, die Verbreitungsmöglichkeiten und Reproduzierbarkeit im Netz.“ Mit ihren Gerichtsverfahren hatte Künast Erfolg. Nach einer Verfas- sungsbeschwerde von ihr hob das Bundesverfassungsgericht vor- herige Urteile auf und bahnte den Weg hin zu neuen Berücksichti- gungen. „Es ist im öffentlichen Interesse, dass Persönlichkeitsrech- te von Politikern und Menschen die sich fürs Gemeinwohl engagie- ren, geschützt werden. Nur so werden sich auch in Zukunft Men- schen für das Gemeinwesen engagieren.“ Und in der Abwägung müsse dann die Meinungsfreiheit weniger gewichtet werden. Mittlerweile ist einiges passiert. Die Polizei zum Beispiel hat Schwerpunktabteilungen für Internet-Hass gegründet, wie bei Dro- gen oder Wirtschaftskriminalität. Und die Polizeiakademie Nieder- sachsen lud Künast als Expertin ein. Da schaute sie schon auf ein längeres Politikerinnenleben zurück. In einer Recklinghausener Ar- beiterfamilie aufgewachsen, hatte Künast Sozialarbeit studiert, war nach Berlin gezogen und sattelte die Ausbildung zur Volljuristin auf. 1979 trat sie der Alternativen Liste bei, die sich dann den Grü- nen anschloss. Künast gehörte wie die AL zum linken Flügel der jungen Partei. Wurde 1985 ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt und 1990 Fraktionsvorsitzende. 2002 dann der Einzug in den Bun- destag, da war sie schon Co-Bundesvorsitzende der Grünen gewor- den. Längst wurde sie für höhere Ämter gehandelt, galt sie doch als aktenkundig und menschennah zugleich. Sie ist eine, der man zuhört. Und 2001 schließlich die Berufung als Ministerin in die Bundesregierung. Damit war dann 2005 Schluss, es folgten weitere Ämter – und das Bundestagsmandat blieb bis heute. Ist sie nach all dem ein bisschen müde? „Einige Themen müssen von langer Hand nach oben gezogen werden“, antwortet sie und verweist auf den für die ganze EU verabschiedeten Digital Services Act. „Darum beneidet man uns doch.“ Wirklich nicht müde? „Nee!“ Jan Rübel T