ERSTE REDEN IM PARLAMENT Am 7. September 1949 konstituierte sich der erste Bundestag in Bonn SEITE 3 STARKE REDEN IM PARLAMENT Rhetorische Höhepunkte und wichtige Debatten im Plenum SEITE 5 W andelderZeit B u n d esta g S o n d erth e m a: D asParla m entim 75 Ja hre Berlin, 31. August 2024 www.das-parlament.de 74. Jahrgang | Nr. 36-37 | Preis 1 € | A 5544 JUBILÄUM Seit 75 Jahren sorgt der Bundestag für Stabilität. Doch sein ziviler Konsens steht unter Druck Der Kodex in Bedrängnis Das Urteil des Souveräns Vertretung des Volkes VON HELMUT STOLTENBERG Mit ihren 75 Jahren ist die Bundesrepublik äl- ter als das Kaiserreich von 1871, die Weimarer Republik und das nationalsozialistische „Drit- te Reich“ zusammen. Anders als im dreiviertel Jahrhundert zuvor durften die Deutschen die zurückliegenden 75 Jahre trotz Ost-West-Kon- flikt ohne Krieg erleben, nachdem die NS- Herrschaft den Wert von Frieden und Freiheit drastischer denn je vor Augen geführt hatte. Freilich konnte sich die DDR-Bevölkerung erst nach 40 Jahren die Freiheit erkämpfen, die den Deutschen im Westen schon in den Nach- kriegsjahren ohne eigenen Verdienst zuteilge- worden war. An den Bundesbürgern indes lag es, dass sich in der Bundesrepublik eine ge- festigte Demokratie und zunehmend offenere Gesellschaft entwickelte, in parlamentari- schen wie außerparlamentarischen Kontrover- sen. Den Rahmen dafür gab das Grundgesetz vor, während der Bundestag diese Entwick- lungen widerspiegelte, inhaltlich wie in seiner Zusammensetzung, in Debatten und Geset- zesbeschlüssen. Dabei handelten und han- deln die Abgeordneten, wie es in der Verfas- sung heißt, als „Vertreter des ganzen Vol- kes“, legitimiert in mittlerweile 20 freien, de- mokratischen Wahlen mit Beteiligungswerten zwischen 91,1 Prozent (1972) und 70,8 Pro- zent (2007). Eine Rekordbeteiligung von 93,4 Prozent gab es 1990 in der DDR bei der freien Volkskam- mer-Wahl, die damit auch ein Plebiszit für die parlamentarische Demokratie war; vier von fünf der dabei gewählten Abgeordneten stimmten für den Beitritt zum „Geltungsbe- reich des Grundgesetzes“. Beeindruckende Zahlen, wie auch das seither trotz aller Ver- werfungen in Ostdeutschland Erreichte beein- druckt. Doch ist solche Zustimmung lange her, und nicht nur in Deutschland waren in den letzten Jahren ganz andere Kräfte im Aufwind. Dabei sind Parlamente wie der Bundestag mit ihrem Ringen um Kompromisse auch Werk- stätten der Demokratie, die trotz aller Kontro- versen divergierende Kräfte zusammenzufüh- ren sucht. Gelingen kann ihr dies freilich nur bei einem grundsätzlichen Einverständnis über Grundlegendes wie etwa die Menschen- würde, die Minderheitenrechte, die Gewalten- teilung. Ein solches Einverständnis in demo- kratisch gewählten Volksvertretungen zu stär- ken, liegt in der Hand des Volkes, sprich: der Bürger. Er ist der Souverän, er hat die Wahl. Pragmatischer Brauch Jahrzehnte politi- scher Bildungsbemühungen haben daran so wenig geändert wie das Parlamentsfern- sehen. Vielleicht trägt die Live-Übertragung sogar manchmal zur Irritation bei: Warum ist es im Plenarsaal oft so leer? Sind die al- le faul? Nein, sie folgen einer stillschwei- genden Abmachung. Müssten für jedes der gut 100 Gesetze im Jahr immer alle Abge- ordneten anrücken, kämen sie zu wenig anderem mehr. So stimmt meist nur die paar Handvoll Experten ab, die an dem Gesetz gearbeitet haben – und die Opposi- tion versucht fairerweise nicht, die Regie- rungsfraktionen zu überstimmen. Das Parlament Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH & Co. KG 64546 Mörfelden-Walldorf 6 3 7 3 5 4 194560 401004 Der Autor war von 1988 bis 1997 Parlamentskorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters und anschließend bis 2023 in gleicher Funktion beim Berliner „Tagesspiegel“. Wahlplakate in Düsseldorf zur ersten Bundestagswahl im August 1949 © picture-alliance/dpa Weiterführende Links zu den Themen dieser Seite finden Sie in unserem E-Paper KOPF DER WOCHE Die erste Frau am Rednerpult f f l o W / / Z S / e c n a i l l l des r e h c s t i r T & Helene Wessel Die Fraktionsvorsitzende des Zentrums ergriff am 22. September 1949 als erste Frau im Plenum des Bundes- das Wort. tages Jahrgang 1898, hatte sie vor der NS-Zeit bereits dem Preußischen Landtag angehört und war als Mit- glied Parla- mentarischen Rats eine der vier Müt- ter des Grundge- setzes, dem sie in- des ihre Zustimmung versagte. 1952 trat sie aus der Zentrumspartei aus, gründete mit dem späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann die Gesamtdeutsche Volkspartei und trat nach deren Scheitern bei der Bun- destagswahl 1953 der SPD bei, für die sie von 1957 bis zu ihrem Tod im Jahr 1969 dem Parlament angehörte. Es dauerte mehr als vier Jahrzehnte, bis nach ihr 1983 mit zwei Grünen-Politikerinnen wieder Frauen sto T an der Spitze einer Fraktion standen. a - e r u t c i p © ZAHL DER WOCHE 410 Abgeordnete gehörten dem ersten Deut- schen Bundestag an, der sich am 7. Septem- ber 1949 konstituierte. Darunter waren acht nicht direkt gewählte Berliner Abgeordnete. Sie verfügten über ein Rederecht, aber kein Stimmrecht im Parlament. ZITAT DER WOCHE »Das erreicht man aber nicht durch die ver- logene Hetze!« Heinz Renner (KPD) erntete für einen Zwi- schenruf während der 1. Regierungserklärung Adenauers in der 5. Sitzung des Bundestages am 20. September 1949 den allerersten Ordnungsruf. IN DIESER WOCHE 75 JAHRE BUNDESTAG Gesetzgebung Abgeordneten hinter den Kulissen Seite 6 So arbeiten die Kontrolle gelten als scharfes Schwert Untersuchungsausschüsse Seite 7 Karlsruhe dem Bundestag wichtige Impulse Das Verfassungsgericht gibt Seite 8 Nah dran den Petitionsausschuss um Die Sorgen der Bürger treiben Seite 9 Bundeswehr bis zur Wehrbeauftragten Vom Parlamentsvorbehalt Seite 10 MIT DER BEILAGE fällt über den Jubilar leicht widersprüchlich aus. Immer wenn Demo- skopen das Volk befra- gen, ob es seinen Institu- tionen vertraut, landet der Bundestag im Mittelfeld. Meist geht nur die Hälfte der Daumen nach oben, manchmal weniger. Ein bedenklicher Befund für die Demokra- tie, könnte man meinen, doch der Fall scheint komplizierter. Denn wer ganz nor- malen Leuten zuhört, wenn sie sich über Politik erregen, der hört sie auf Kanzler oder Ministerinnen schimpfen, auf Partei- en oder, wenn der Urheber des Missfallens nicht genauer auszumachen ist, pauschal auf „die da in Berlin“. Das Parlament als solches aber bleibt in al- ler Regel unbeschimpft. Es zu stürmen, kommt bloß Wirrköpfen in den Sinn. Und nur der alte Reichstagsbau erinnert sich noch daran, dass er sich in jungen Jahren als „Reichsaffenhaus“ (Wilhelm II.) und „Schwatzbude“ (derselbe, in der Weimarer Republik zitiert von ihren Totengräbern) verunglimpfen lassen musste. Der Bundes- tag hingegen gehört nach 75 Jahren für die meisten Bürger offenkundig schlicht zum Inventar der Republik. Dahinter steckt freilich auch ein Phäno- men, das schon zum 25. Jahrestag 1974 der damalige Oppositionsführer Karl Cars- tens (CDU) beklagte: Er glaube, „dass sich ein sehr großer Teil unserer Bevölkerung immer noch eine unzulängliche Vorstel- lung von der Bedeutung und der Arbeits- weise und den Möglichkeiten und den Schwierigkeiten macht, mit denen der Bundestag zu tun hat“, konstatierte der spätere Bundespräsident in der „Zeitschrift für Parlamentsfragen“. Komplizierte Staatsform Sein Befund gilt ein halbes Jahrhundert später immer noch. Wer nicht von Berufs wegen mit den Me- chanismen des Parlaments und den Wegen der Gesetzgebung befasst ist, der kennt sie nicht. Man kann das Chantal und Otto Normalbürger nicht einmal ernsthaft vorwerfen. Die re- präsentative Demokratie in ihrer föderal-bundesdeut- schen Variante mag in der Theorie noch halbwegs ein- fach zu erklären sein. In der Praxis ist sie eine kom- plizierte Staatsform. Man muss da noch nicht mal ans Wahlrecht denken. Schon die Begriffe und for- malen Abläufe des Parla- mentsalltags stellen Außen- stehende vor Rätsel. Weder in der ersten noch in der dritten Lesung wird ja etwas vorgelesen. Beim Hammel- sprung sucht man den Bock vergebens. Dass das Grundgesetz dem Abgeordneten Gewissensfreiheit garantiert, er sich aber meist willig der Fraktionsdisziplin unter- wirft, weil alle nur gemeinsam stark sind, ist steter Quell von Missverständnissen. Selbst Grundlegendes bleibt jenseits des Regierungsviertels so gut wie unbekannt. Dass der Saal unter der Reichstagskuppel als Schauplatz der öffentlichen Debatte und Ort der Abstimmungen zentral wich- tig ist, die eigentliche Arbeit aber in den Ausschüssen erfolgt – von der Formulie- rung der Gesetze bis zur Kontrolle der Re- gierung, die dort regelmäßig Bericht zu er- statten hat – darf als Insider-Wissen gelten. Seit 75 Jahren thront der Bundesadler – hier in seiner aktuellen Version – an der Stirnseite des Plenarsaals und wacht über das Geschehen im Deutschen Bundestag: insgesamt fast 32.000 Stunden in über 4.500 Sitzungen. © picture-alliance/Daniel Kalker (editiert) Abstiegsängste, Unzufriedenheit der Re- gierten mit der Politik und ihren Akteuren. EDITORIAL Entstanden ist dieser pragmatische Brauch dort, wo der Bundestag seine ersten fünf Jahrzehnte verbracht hat, in Bonn. In der beschaulichen Residenzstadt am Rhein wurden die Grundlagen einer informellen politischen Kultur geprägt, deren Bedeu- tung für die Stabilität der Republik gar nicht überschätzt werden kann. Demokratie funktioniert nämlich zur Not auch dann noch, wenn sich alle bloß an die Regeln halten. Lebendig wird sie erst jenseits der Geschäftsordnung. Dort also, wo politische Konkurrenten sich auf ein Bier oder zum Fußballspiel treffen können, wo Presse und Politik ihr schwieriges Nä- he-Distanz-Verhältnis aus- balancieren, wo Respekt herrscht, Höflichkeit, ein gemeinsames Verständnis von Anstand und zumin- dest die leise Ahnung, dass in fast allen Streitfragen beide irgendwo weshalb Recht Kompromisse nicht faul sind, sondern nötig. still- Wie wichtig dieser ist, schweigende Kodex wusste schon Paul Löbe. Als der 73-jährige Sozialde- mokrat am 7. September 1949 als Alters- präsident die erste Sitzung des neuen deut- schen Parlaments in der einstigen Turnhal- le der Pädagogischen Akademie in Bonn eröffnete, mahnte er die Kollegen: „Wollen wir vor der deutschen Geschichte bestehen, dann müssen wir uns, ob in Koalition oder Opposition, zusammenfinden, dass Ersprießliches für unser Volk daraus erwächst.“ Löbe wusste, wovon er sprach. Seiten haben, so weit Er hatte als Reichstagsabgeordneter miter- lebt, wie die Weimarer Republik in Stra- ßenschlachten unterging. Die Bonner Republik sollte es besser ma- chen. Ihr ziviler Konsens hat brutale Machtkämpfe und harte politische Gegen- sätze nie ausgeschlossen. Aber er hat dazu beigetragen, es vielleicht erst möglich ge- macht, dass daraus keine Systemkrisen wurden. Das Land ist an Wiederbewaff- nung und Nachrüstung, an Notstandsge- setzen oder Euro-Streit nicht gescheitert und hat dem RAF-Terrorismus standgehal- ten. Es hat sich zum Staunen der Welt friedlich, wenn auch keineswegs bruchlos wiedervereinigt. Das Parla- ment entschärfte überpar- teilich Großkonflikte wie den Streit um die Abtrei- bung und wahrte auch sei- ne Rechte gegenüber der Regierung, notfalls mit Hil- fe des Verfassungsgerichts. Das ging alles nicht ohne Mühe, Verwerfungen und Querelen ab. Aber es ist ge- lungen. Große Reden sind gehalten, würdige Feier- stunden gestaltet und auf- wühlende Debatten ge- führt, Regierungswechsel als demokratische Selbstverständlichkeit vollzogen worden. Über die Jahre hinweg hat der Bundestag der Republik eine stabile rechtliche und politische Ordnung gegeben, deren Wert oft erst erkennt, wer sie mit Abstand von außen betrachtet. Und trotzdem – 75 Jahre und so recht kei- ne Feierlaune. Da wirkt gewiss auch eine allgemeine Missstimmung: Krisen überall, Das ging alles nicht ohne Verwerfungen, Mühe und Querelen ab. Aber es ist gelungen. Demokratie ist nicht aus sich heraus stabil, sondern stets eine Staatsform auf Bewährung. Neue Akteure Aber es kommt etwas dazu, was auf unangenehme Weise neu ist für die Volksvertretung. Ihr ziviler Konsens steht unter Druck, von außen wie von innen. Der Druck geht von neuen Fragen aus: Kann das langsame, in Wahlperioden ge- taktete und auf Ausgleich vieler Interessen gerichtete System auf Weltkrisen wie die Klimakatastrophe angemessen reagieren? Der Druck geht aber vor allem von neuen Akteuren aus. Das öffentliche Umfeld hat durch Smartphone und Social Media einen epochalen Umbruch erlebt: mehr Tempo, mehr Infor- mation, mehr Mitreden, auch mehr Unsinn, Lügen, Emotion. Und auch innen, im Bun- destag selbst, sind neue Kräfte am Werk. Als die Grünen 1983 als erste neue Partei ins Hohe Haus ein- zogen, kamen ihre Strick- pullis und basisdemokrati- schen Flausen den Altein- gesessenen befremdlich so wie später vor. Aber auch Die Linke akzeptierten sie den Kodex der Arbeits- und Umgangsformen, der Dis- kussionskultur. Seit die „Alternative für Deutschland“ 2017 die Rechtsaußen-Plätze unter der Kuppel besetzt hat, sehen viele den Kodex in Gefahr. Der Tonfall ist rau geworden vom Plenarsaal bis an Wahl- kampfstände. Diskutiert wird gerade eine neue Geschäftsordnung, die den zuneh- menden rassistischen und sexistischen Sprüchen einen Riegel vorschieben soll. Paul Löbe hätte sich kaum vorstellen mö- gen, dass das nötig werden könnte in dem Parlament, dem er die erste Geburtstagsre- de hielt. Aber er wusste: Demokratie ist nicht aus sich heraus stabil, sondern stets eine Staatsform auf Bewährung. 75 Jahre lang hat der Bundestag die Probe bestan- den. Im Jubiläumsjahr treibt viele der Ver- dacht um, dass die Zeit der wirklichen Be- währung erst kommt. Robert Birnbaum T