14 DAS POLITISCHES BUCH Das Parlament | Nr. 47-48 | 16. November 2024 KURZ REZENSIERT Warum in der Spätmoderne die Verluste eskalieren die Es ist ein Wahlspruch für Verlierer – mit dem man aber das Weiße Haus gewinnen kann: „Make Ame- rica Great Again“ lautet das Motto von Donald Trump. Dahinter ver- birgt sich die Vorstellung, dass die einstige Größe Amerikas verloren- gegangen ist. Zu viele Jobs im Aus- land, zu viele Illegale im Land, ein Wokeness-Exzess an den Universi- täten und der „Deep State“, der das alles geschehen lässt, wenn nicht gar bewusst steuert – fertig ist populistisch-verschwö- rungstheoretische Erzählung eines Mannes, der das in den nächsten vier Jahren wieder ändern will. Mal wieder. Für den Soziologen Andreas Reck- witz sind Trump und Co. klassi- sche Beispiele für das „Verlustun- ternehmertum“ in der Spätmoder- ne. Das sind Kräfte, die Verluster- fahrungen der vermeintlichen Ver- lierer bündeln und zum Gegen- schlag auf die vermeintlichen Ge- winner übergehen wollen. „Wir wollen euch scheitern sehen! Wir wollen euch weinen sehen“ – das verlange die „populistische Rache“ und das bedeute auch, eben jene Institutionen der liberalen Demo- kratie zu untergraben und zu zer- stören, die die anderen so schätz- ten, wie der 54-Jährige wortgewal- tig in seinem neuesten Bestseller ausführt. Sein Interesse ist es da- bei, Populismus als „verlustbezo- gene Politik“ einzubetten in einer größeren Theorie darüber, wie Moderne und Spätmoderne mit Verlusten umgehen. Für die spätmoderne Gegenwart diagnostiziert Reckwitz nämlich eine „Verlusteskalation“. Das gilt nicht nur für den Populismus, son- dern beispielsweise auch für Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundpro- blem der Moder- ne. Suhrkamp, Berlin 2024; 463 S., 32,00 € Wachstumskritik und die Klimabe- wegung, die Debatte um die Wie- dervereinigung und die ehemalige DDR oder für Fragen rund um den Umgang mit der kolonialen Ver- gangenheit. Die eskalierenden Ver- luste sind allerdings erklärungsbe- dürftig, weil laut Reckwitz moder- ne Gesellschaften lange überwie- gend Ignoranz gegenüber Verlus- ten gezeigt hatten und sie unsicht- bar machten. Es regierte nämlich der „Fortschrittsimperativ“, der Institutionen, Gesellschaft und je- den Einzelnen prägte. Wo es im- mer besser werden sollte, ja muss- te, da war wenig Raum (abseits der Kulturkritik), um Verluste, die es natürlich weiterhin gegeben hatte, anzuerkennen und zu bearbeiten. Was Verluste soziologisch gesehen sind, wie (spät-)moderne Gesell- schaften sie verhandeln, wie sich das seit den 1970ern dramatisch geändert hat und was nun getan werden könnte, um die Moderne zu retten, das schreibt Reckwitz auf mehr als 400 anspruchsvollen, aber gut lesbaren und interessan- ten Seiten nieder – und macht sich nach der „Gesellschaft der Singu- laritäten“ einmal mehr zum Stich- wortgeber des Gegenwartsdiskur- ses in Politik und Feuilleton. scr T KURZ REZENSIERT Die defekte Integrationsmaschine des Sports Dieser Boxkampf wurde zu einem der großen Aufreger der Olympi- schen Spiele 2024 in Paris: Nach nur 46 Sekunden kniete die italie- nische Boxerin Angela Carini wei- nend im Ring und gab sich frus- triert geschlagen, weil sie ihrer Kontrahentin, der Algerierin Ima- ne Khelif, hoffnungslos unterlegen war. Es folgte eine Welle der welt- weiten Empörung und auch hass- erfüllten Beschimpfungen. Khelif, die schließlich die Goldmedaille in der Gewichtsklasse bis 66 Kilo- gramm der Frauen gewinnen soll- te, sei gar keine Frau, lautete der Vorwurf: „Das Grinsen eines Man- nes, der weiß, dass er von einem frauenfeindlichen Sport-Establish- ment geschützt wird“, twitterte die Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling ziemlich giftig zu dem Foto von Khelif mit der weinenden Carini. Hätte der Sportjournalist Martin Krauss sein Buch „Dabei sein wäre alles“ erst nach den Spielen von Paris publiziert, er hätte den Fall sicherlich berücksichtigt. Von ei- nem „frauenfeindlichen Sport- Establishment“ hat nämlich auch er so einiges zu erzählen – aller- dings aus anderen Gründen. „Der moderne Sport, der sich bis heute als große demokratische In- tegrationsmaschine feiert, war von Beginn an zutiefst elitär“, schreibt Krauss. In der rund siebenjährigen Arbeit an seinem Buch hat der Journalist unzählige Beispiele zu- sammengetragen, die diesen trau- rigen Befund untermauern. Die Geschichte des modernen Sports, die im 19. Jahrhundert einsetzt und 1896 mit den ersten Olympi- schen Spielen der Neuzeit einen ersten Höhepunkt erlebt, ist zu- Martin Krauss: Dabei sein wäre alles. C. Bertelsmann, München 2024; 448 S., 28,00 € nächst eine Geschichte weißer, männlicher Sportler, die der obe- ren Gesellschaftsschichten ange- hören und aus dem christlichen Abendland stammen. Für Frauen, Menschen anderer Hautfarbe, an- derer Religion oder mit Behinde- rungen war wenig bis gar kein Platz. „Ihnen wollten die Herren des Sports nicht auf Augenhöhe begegnen.“ Krauss interessiert sich jedoch vor allem für jene aus- gegrenzten Menschen, die sich ih- ren Platz in der Sportwelt erober- ten, und liefert mit ihren Ge- schichten eine spannende und er- mutigende Lektüre. Ausgrenzung und Diskriminierung sind aber weiterhin ein Problem. Heute sind es vor allem homosexuelle, trans- und intersexuelle Menschen, die darum streiten müssen, den Sport diverser und letztlich auch besser zu machen, wie Krauss darstellt. Mitunter geht Krauss in der Fülle der Einzelbeispiele der rote Faden etwas verloren, und ein wenig mehr Analyse hätte dem Buch gut- getan. Vor allem die Problematik um intersexuelle und transsexuelle Sportler hätte eine vertiefte Be- handlung verdient. Die Lektüre lohnt aber in jedem Fall. aw T Teilnehmerinnen des „Women’s March“ 2020 in München. © picture-alliance/ZUMAPRESS.com/Sachelle Babbar MeToo und die Folgen Das Ende des Schweigens Die Journalistin Juliane Löffler recherchiert über sexualisierte Gewalt gegen Frauen und prangert den Machtmissbrauch von Männern an – gerade in der Medienwelt W as ist ein harmloser Flirt, was schon belästigend oder gar sexuell über- griffig? Wie kann ein Mann einer Frau signalisieren, dass sie ihm gefällt, ohne dass sein Verhal- ten gleich als „toxisch“ angesehen wird? Die enorme Resonanz weltweit auf den Hashtag #MeToo hat viele Männer verunsichert, doch hinter dieser von Feministinnen ausgehen- den Initiative steckt ein berechtigtes Anliegen. Viel zu lange wurden se- xualisierte Gewalt und Machtmiss- brauch bagatellisiert und verschwie- gen. Die fast immer weiblichen Be- troffenen brauchen enormen Mut, wenn sie sich gegen Männer in wich- tigen Positionen zur Wehr setzen wollen und ihre Erfahrungen an die Öffentlichkeit bringen. Frauen werden mit Bedrohungen und Gewaltfantasien konfrontiert „Spiegel“-Redakteurin Die Juliane Löffler beschäftigt das Thema seit Jah- ren, vor allem ihre Recherchen zu den dem früheren Chefredakteur der „Bild“-Zeitung Julian Reichelt vorge- worfenen Übergriffen erhielten große Aufmerksamkeit. In ihrem Buch führt sie uns auf der Basis zahlreicher Inter- views mit Betroffenen und Expertin- nen hinter die Kulissen ihrer investi- gativen Arbeit. Denn nicht nur die Op- fer sexueller Belästigungen, auch jene, die in den Medien darüber berichten oder sich im Internet an Aktionen be- teiligen, müssen mit massivem Ge- genwind rechnen. Sie werden zu Ob- jekten hasserfüllter Shitstorms, sind mit Bedrohungen und männlichen Gewaltfantasien konfrontiert. Aus die- sem Grund reduzierte zum Beispiel die Berliner Bloggerin Anne Wizorek, die schon 2013 den Hashtag #auf- schrei gegen sexualisierte Gewalt in Deutschland gestartet hatte, zeitweilig ihre Präsenz im Netz. Juliane Löffler beschreibt, wie MeToo seit 2017 zu einem globalen Massen- protest wurde, wie dieser den gesell- schaftlichen Diskurs veränderte und für das Thema sensibilisierte. Die Au- Abgeordneter torin erinnert in diesem Zusammen- hang auch daran, dass der Bundestag erst in den 1990er Jahren einem längst überfälligen Gesetz zuge- stimmt hatte, das die Vergewaltigung in der Ehe für strafbar erklärte – ge- gen den Widerstand vieler konserva- tiver überwiegend männlichen Geschlechts. „Die Erfahrungsberichte hinter Me- Too, teils komprimiert auf wenige persönliche Sätze auf Twitter, waren einfach zu verstehen”, schreibt Löff- ler. Was Frauenrechtlerinnen seit lan- gem bekannt war, „konnte nicht mehr übersehen werden“, Betroffene erlangten ein neues Selbstbewusst- sein: einen legitimen Grund, dass bestimmte Erinnerun- gen ein mulmiges oder auch schreck- liches Bauchgefühl auslösten, und war es vielleicht notwendig, tief ver- grabene Erinnerungen hervorzuho- len, um sie neu zu bewerten?” Die Kernthese der Autorin: Indem „Men- schen die Erfahrungen anderer wahr- nehmen, erkennen sie selbst erlebten Missbrauch überhaupt erst”. Im kol- lektiven Austausch über das erlittene Unrecht gelinge es im besten Fall, Schuld und Scham zu überwinden. Als Journalistin kennt Löffler die Strukturen ihres eigenen Arbeitsfel- des besonders gut. Akribisch hat sie die sexualisierten Machtspiele von Julian Reichelt enthüllt, der als Folge ihrer Recherchen schließlich seinen Posten von Deutschlands größtem Boulevard- blatt räumen musste. Auch in anderen großen Medienhäu- sern war MeToo nun plötzlich ein viel Chefredakteur „Hatte es als Juliane Löffler: Missbrauch, Macht und Gewalt. Was #MeToo in Deutschland verän- dert hat. DVA, München 2024; 272 S., 23,00 € diskutiertes Thema. Beim Westdeut- schen Rundfunk in Köln zum Beispiel wurde öffentlich, was zuvor nur In- sidern bekannt und tunlichst unter den Teppich gekehrt worden war: Der Leiter der Abteilung Fernsehspiel hatte sich gegenüber freien Filmema- cherinnen, die auf seine Auftragsver- gabe angewiesen waren, mehrfach übergriffig verhalten – ein klassischer Fall von Machtmissbrauch einer Füh- rungskraft. Die WDR-Verwaltung rea- gierte und beauftragte 2018 die frü- here Gewerkschaftsvorsitzende Mo- nika Wulf-Mathies mit einer Untersu- chung. Der Personalrat lud zu inter- nen Veranstaltungen ein, ein Verhal- tenskodex wurde definiert, um auf künftige Vorfälle dieser Art besser vorbereitet zu sein. MeToo hat einen Dominoeffekt ausgelöst Ohne MeToo wären die Berichte der im Sender Betroffenen vermutlich nie an die Öffentlichkeit gelangt. Auch schon vor der Kampagne hätten Frauen über sexualisierte Gewalt ge- sprochen oder geschrieben, resü- miert Löffler, aber das System dahin- ter sei „lange im Verborgenen” ge- blieben. Nun würden „Strukturen sichtbar, Stück für Stück, Branche für Branche”, es gebe einen Dominoef- fekt. Denn Missbrauch, so die Auto- rin, existiere überall, „beruflich, pri- vat und oftmals in den Grauberei- chen dazwischen” – vom Niedrig- lohnsektor bis in die „Chefetagen vie- le Stockwerke über der Stadt“. MeToo ist für Löffler mehr als ein Kampagnen-Schlagwort, es handele sich um eine Ermutigungsbewegung mit der Botschaft: „Ich höre, was du erzählst. Ich erkenne mich darin wie- der. Auch mir ist so etwas widerfah- ren.” Löffler plädiert dafür, den Be- griff sehr weit zu fassen: „Auch wenn Männer ihre Frauen krankenhausreif prügeln, ist das MeToo. Auch Stalking ist MeToo oder wenn ein Mob sich im Internet organisiert, um Frauen des öffentlichen Lebens mundtot zu ma- chen.” Thomas Gesterkamp T