Das Parlament - Nr. 4-5 - 20. Januar 2024 DAS POLITISCHE BUCH 11 KURZ REZENSIERT Simon Parkin: Die Insel der außergewöhnlichen Gefangenen. Deutsche Künstler in Churchills Lagern. Aufbau, Berlin 2023; 576 S., 30,00 € Was für eine irre Geschichte. So irre, dass vielleicht nur das wahre Leben sie schreiben konnte. Simon Parkins „Die In- sel der außergewöhnlichen Gefange- nen“ wirft einen Blick auf eine unver- traute, eine andere Geschichte über den Zweiten Weltkrieg, in der die angebli- chen Bösen die Opfer waren und die an- geblichen Helden die Täter. Worum geht es in dem akribisch recher- chierten, spannend erzählten histori- schen Sachbuch? Um das Schicksal von rund 73.000 vor den Nazis geflüchteten Deutschen und Österreichern in Großbri- tannien. Als vor Kriegsbeginn das Ge- rücht sich verbreitete, unter den Flücht- lingen habe sich eine „Fünfte Kolonne“ von Nazi-Sympathisanten gebildet, die in England Anschläge planten, war es der neu ins Amt gekommene Premiermi- nister Winston Churchill persönlich, der anordnete, alle männlichen „feindlichen Ausländer“ (enemy aliens) im Alter von 16 bis 60 Jahren zu internieren. Ohne Anklage, ohne Prozess wurden sie in Ge- fangenenlager eingesperrt, viele fühlten sich an Umstände erinnert, denen sie zu entfliehen gehofft hatten. So im Hut- chinson Camp auf der Isle of Man, auf das sich Parkins‘ Buch fokussiert. Zwi- schen den Geflüchteten und Nazi-Sym- pathisanten wurde dabei kein Unter- schied gemacht. Zu den Internierten ge- hörten Natur- und Geisteswissenschaft- ler, Schriftsteller, Journalisten, Regisseure und Schauspieler, Bildhauer und Künstler wie Kurt Schwitters. Schnell bekam Hut- chinson den Namen „The Artist Camp“. Es gab auch Privilegien. Eine Fußball- mannschaft wurde aufgestellt, ein Chor gegründet, Schach-, Bridge- und Boxtur- niere wurden organisiert, es gab Konzer- te und Lesungen. Schnell entstand, was Parkin, ein „Mikrokosmos der Zivilisati- on“nennt. Bis zum März 1941 kamen in England die meisten Internierten wieder frei. Sie blickten teils mit Zorn, teils mit Erleichterung – teils aber auch mit Nos- talgie auf die Zeit in der „Universität hinter Stacheldraht“zurück. mis T Thomas Sparr: »Ich will fortleben auch nach meinem Tod.« Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank. S. Fischer, Frankfurt/M. 2023; 336 S., 25,00 € Das Interesse am Tagebuch von Anne Frank ist nach wie vor ungebrochen. Noch immer bewegen die zwischen 1942 und 1944 entstandenen Aufzeich- nungen des damals 13-jährigen jüdi- schen Mädchens Leser in aller Welt. Wie kein zweites Buch zeigt es, mit welchen Ängsten und Hoffnungen Anne Frank, die schließlich im Konzentrationslager Bergen-Belsen starb, die Verfolgung durch die Nationalsozialisten in ihrem Versteck in Amsterdam wahrgenommen und verarbeitet hat. Der Autor und Lektor Thomas Sparr zeichnet in seiner „Biographie des Tage- buchs“ ebenso spannend wie kenntnis- reich nach, wie ihr Vater Otto Frank die- se Erinnerungen für die Nachwelt be- wahrt, bearbeitet und verbreitet hat. Sparrs besonderes Interesse gilt dabei nicht nur den verschiedenen Variationen der Bearbeitungen und Übersetzungen der Tagebücher, sondern vor allem der Rezeption, Deutung und den medialen Inszenierungen des Tagebuchs weltweit. Anhand der Reaktionen von Verlagen, Publikum, Künstlern und Intellektuellen zeigt er, welche Vorbehalte es in der Nachkriegszeit gegenüber der Veröffent- lichung der Tagebücher gab, aber auch welche Botschaften bis heute damit ver- mittelt werden. Die „Faszination“ und Bedeutung des Tagebuchs beruht denn auch nicht allein auf seiner kunstvollen, reflektierten und lebensnahen Form, sondern darin, dass es keiner Gattung zugeordnet werden und auf viele Arten gelesen und interpretiert werden kann. Sparr kann und möchte keine Antwort darauf geben, ob es sich um ein histori- sches Dokument oder ein literarisches Werk handelt. Er zeigt mit seiner Rekon- struktion des Lebens und Nachlebens des Tagebuchs, dass die Geschichte(n) von Anne Frank ein einzigartiges Zeug- nis der Verfolgung der Vernichtung der europäischen Juden sind. Vor allem aber, dass es eine eindrückliche Mahnung für die Zukunft und ein Plädoyer für die Hu- manität darstellt. Jörg von Bilavsky T Lesen, streiten, Kaffee trinken: Das Café Griensteidl, hier verewigt von Reinhold Völkel, war Treffpunkt aufstrebender Wiener Schriftsteller. © picture-alliance/akg-images/ErichLessing KULTURGESCHICHTE Dirk Liesemer taucht in die Welt der Kaffeehäuser ein Wohnzimmer der Boheme K arl Kraus hatte eine spitze kam an Kaffeehäusern nicht vorbei. Es wa- ren Informationsbörsen, lagen doch etliche Zeitungen und Zeitschriften aus, hier knüpf- te man Kontakte, stritt, diskutierte bis spät in die Nacht, stellte Werke vor, wärmte sich auf, wenn das Zuhause zu kalt war, ließ sich eventuell auch mal von einem Ober aushal- Feder. Der 1874 geborene Schriftsteller, Journalist und Publizist schrieb gerne schar- fe Kritiken, die als „Erledi- gungen“ bekannt wurden. Das gefiel nicht jedem, wie Kraus auch kör- perlich zu spüren bekam. Kaum zwei Mona- te, nachdem der 25-Jährige Anfang April 1899 seine Zeitschrift „Die Fackel“ gegrün- det hatte, wurde er zusammengeschlagen. Der Täter war der Dramatiker Oskar Fried- mann. Kraus hatte eines seiner Stücke als „drastischen Beleg für die Erbärmlichkeit“ des Theaterbetriebes kritisiert. Er beließ es nicht bei der Stückkritik, sondern wurde persönlich: Friedmann werde „der einzige Wiener Schriftsteller bleiben, bei dem der Schwachsinn gerichtlich erhoben ist“. Drohbriefe und ein Überfall Der so Ge- scholtene stürmte tags darauf mit einigen Freunden das Café Imperial in der Wiener Innenstadt und prügelte den Kritiker blutig, wie er später dem Komponisten Arnold Schönberg auf der Straße zurief. Die Sache landete vor Gericht. Friedmann bekam we- gen leichter Körperverletzung zehn Tage Ar- rest aufgebrummt, und Kraus vermerkte den „Überfall“ neben 236 anonymen Schmäh- briefen und 83 Drohbriefen im ersten „Re- chenschaftsbericht“ seiner Zeitschrift. Ein- schüchtern ließ sich der 1936 verstorbene Publizist dadurch nicht. Mehr als 20.000 Seiten in über 900 „Nummern“ der Fackel veröffentlichte der Herausgeber bis zu sei- nem Lebensende, die meisten Texte schrieb er selbst. Das Aufeinandertreffen von Kraus und Friedmann ist ei- ne der zahlreichen Anekdo- ten, von denen Dirk Liese- mer in seinem „Buch „Café Größenwahn“ zu berichten weiß. Er taucht ein in die Zeit um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, das Buch endet im Jahr 1915, und nimmt insbesondere in drei Kaffeehäusern Platz. Das „Café Griensteidl“ in Wien, das „Café Stefanie“ in München und das „Café des Westens“ in Berlin, eigentlich im damaligen Charlottenburg, verbindet, dass sie spöttisch bis anerkennenden jeweils als „Café Größen- wahn“ bezeichnet wurden. Das liegt an ihrer Klientel: aufstrebende Schriftsteller, Drama- tiker, Künstler, überwiegend Männer, gele- gentlich auch Frauen. Wer damals etwas als Bohemien bezie- hungsweise Bohemienne auf sich hielt, der »Wer erfahren wollte, wohin sich die Welt bewegt, musste ins Kaffeehaus.« Dirk Liesemer ten. Kaffeehäuser waren die Denk-, Diskurs- und Le- bensorte ihrer Zeit. „Wer an der Wende zum zwanzigs- ten Jahrhundert erfahren wollte, wohin sich die Welt bewegt, musste ins Kaffee- haus“, Liesemer gleich zu Beginn. Mehr noch: In den Kaffeehäusern finden „permanente Revolu- tionen im Denken, Fühlen und Empfinden statt“. Und nirgends „ging es tollküh- ner, inspirierender, bissiger und gnadenlo- ser zu“ als den drei Cafés Größenwahn, die im Fokus seines Buches stehen. schreibt Illustre Stammgäste Das ist ob der Viel- zahl an Kaffeehäusern allein in Wien si- cherlich eine gewagte These, aber Liese- mer erstaunlichen Stammgästeliste aufwarten, die in seinen kann mit einer Lokalitäten die Runde machte. Das „Café Griensteindl“ etwa ist Treffpunkt der Grup- pe Jung-Wien um Hermann Bahr. Zu der Gruppe gehören unter anderem die Autoren der Wiener Moderne wie Hugo von Hof- mannsthal, Felix Salten und Arthur Schnitz- ler. Den Jungliteraten gelingt es, die österrei- chische Literaturszene zu prägen. Im „Café Stefanie“ in München konnte man seinerzeit etwa auf Frank Wedekind treffen. Auch ihm war eine spitze Feder in die Wie- ge gelegt, auch er hatte deswegen Probleme. 1896 veröffentlichte er unter dem Pseudo- nym „Hieronymus“ das Spottgedicht „Im heiligen Land“ im „Simplicissimus“ über die Palästinareise von Kaiser Wilhelm II. Das Kaiserreich hatte allerdings noch kei- nen Sinn für Humor und so musste Wede- kind einige Monate in der Festung König- stein einsitzen. Der Auflage der Zeitschrift schadete es hingegen überhaupt nicht, wie Liesemer feststellt. Lebendig erzählt Das Buch ist lebendig er- zählt, man reist mit den Charakteren, man erlebt ihre Familiengeschichten. Immer wie- der streut der Autor, sachte dossierte, politi- sche Zusammenhänge ein: das Erstarken des Antisemitismus in Wien etwa, den politi- schen Größenwahn des deutschen Kaiserrei- ches und natürlich den aufziehenden Ersten Anzeige Weltkrieg. Ästhetische Diskussionen werden aufgegriffen, aber es menschelt auch. Das prekäre Leben manches Künstlers wird aus- führlich beschrieben. Diese Nähe führt indes dazu, dass der ganz große Blick auf das „System Kaffeehaus“ et- was kurz kommt, ohne dass das als Vorwurf an den Autor begriffen werden sollte. Gern hätte man auch erfahren, was eigentlich nach 1915 mit den Kaffeehäusern passierte und wo der geneigte Größenwahnsinnige denn heute Kaffee trinken und streiten wür- de. Sind es virtuelle Foren, wie Liesemer kurz im Vorwort andeutet, oder vielleicht WG-Küchen und Eckkneipen? Das sind Fra- gen, mit denen man sich nach der Lektüre des Buches bei einer Tasse Kaffee gut be- schäftigen kann. Sören Christian Reimer T Dirk Liesemer: Café Größenwahn 1890–1915. Als in den Kaffee- häusern die Welt neu erfunden wurde. Hoffmann und Campe, Hamburg 2023; 384 S., 25,00 € Verteidigung der Schönheit KULTUR Claire Dederer ergründet die Schwierigkeit, Künstler und Werk zu trennen Sag, wie hältst Du es mit Gérard Depardieu? Nach Vorwürfen sexuellen Missbrauchs und Anzeigen wegen Vergewaltigung ist in Frank- reich ein Kulturkampf entbrannt. Soll der Schauspieler und gewissermaßen auch Säu- lenheilige der Nation angesichts solch schwerer Vorwürfe von Bildschirmen und Leinwänden verbannt werden? Oder soll er gegen eine prüde „Wokeness“, ein rigides „Canceln“ verteidigt werden und mit ihm ei- ne Errungenschaft der Republik, das Prinzip der Unschuldsvermutung? Flecken Wer sich in dieser Frage und in ver- gleichbaren Fällen nicht immer in der Lage sieht, zu einem entschiedenen Urteil zu kommen, für den könnte Claire Dederers Buch „Genie oder Monster“ eine lohnende Lektüre sein: Ob Ernest Hemingway, Pablo Picasso, Woody Allen, Miles Davis oder Ro- man Polanski – all diese Männer haben gro- ße Kunst geschaffen, die noch immer Men- schen berührt. Sie alle aber sind mit Mons- trösem konfrontiert, nämlich mit Vorwürfen der Gewalt gegenüber Frauen beziehungs- weise des sexuellen Missbrauchs, teils von Minderjährigen. Lassen sich Künstler und Werk, Biographie und das Geschaffene tren- nen? Das hält die US-Publizistin für eine Il- lusion. Das Schreckliche stört das großartige Werk, „befleckt“ es, lässt es in einem anderen Licht erscheinen. Verdrängen sei keine Opti- on: „Niemand von uns will über Michael Jackson wissen, was wir wissen.“ Und auch der Versuch, die „Größe des Werks gegen die Schwere der Tat“ aufrechnen, führt für Dede- rer in die Irre. Ihr Buch ist ein tastender Essay, der die Rolle des Kritikers oder der Kritikerin, ihre Prä- gungen und Befangenheiten, stets mitbe- denkt. Ein Kunstwerk zu genießen ist für De- derer schlicht „eine Begegnung zweier Bio- grafien: Die Biografie des Künstlers, die den Werkgenuss stören kann, und der Biografie des Betrachters, die vielleicht beeinflusst, wie er die Kunst in sich aufnimmt“. Es würde zu kurz greifen, ihr Buch als Kom- mentar zur MeToo-Debatte zu lesen. Das ist es auch, inklusive Seitenblicke auf Simone Claire Dederer: Genie oder Monster. Von der Schwierig- keit, Künstler und Werk zu trennen. Piper, München 2023; 320 S., 24,00 € de Beauvoir und die Radikalfeministin (und Andy Warhol-Attentäterin) Valeria Solanas. Aber Dederer führt die Leser eben auch zu den Abgründen großer Künstlerinnen wie Doris Lessing oder Joni Mitchell, denen man vorwerfen kann, ihre Kinder für die Kunst im Stich gelassen zu haben – was männlichen Künstlerkollegen selten zum Vorwurf ge- macht wird, wie die Autorin festhält. Hier wie dort schreckt Dederer vor kategorischen Verurteilungen zurück, plädiert für ein reflek- tierendes Aushalten von Ambivalenzen und Ambiguitäten. Ja, wir lieben zuweilen die Werke gefallener Genies und Monster: „Das ist vielleicht nicht ideal, vielleicht sogar de- primierend, aber das ist wahr“. Dederer gelingt es, zwei gegensätzliche Dinge in einen Zusammenhang zu stellen: Den emanzipatorischen Kern des MeToo-Auf- schreis auf der einen, die Verteidigung der Kunst und ihrer Schönheit auf der anderen Seite. Die Schönheit der Kunst sei zerbrech- lich, sie lasse sich auch nicht gegen Nutzen oder Moral aufrechnen, so die Autorin. Denkmalstürze, so lässt sich ihr Plädoyer wohl auch zusammenfassen, haben nie die Eindeutigkeit, die die Bilderstürmer mit ih- nen herausstellen wollen. Man muss vom Denkmal etwas stehen lassen, damit die Nachwelt begreift, weshalb es eines Sturzes wert gewesen ist. Alexander Heinrich T Alles, was man über Europa wissen muss Hans Jörg Schrötter Europa Das Lexikon 4. Auflage Nomos Europa Das Lexikon Von Dr. Hans Jörg Schrötter 4., überarbeitete und aktualisierte Auflage 2023, 481 S., brosch., 29,– € ISBN 978-3-7560-0810-0 E-Book 978-3-7489-1564-5 »Mit einer 15seitigen Einführung in die Geschichte der europäischen Einigung anhand von 250 Stichworten und einem dichten Netz von Querverweisen ver- spricht das Lexikon leichte Orientierung.« Prof. Dr. Wolfgang Berg, München in Forum Politikunterricht, zur Vorauflage Nomos eLibrary nomos-elibrary.de Portofreie Buch-Bestellungen unter nomos-shop.de Alle Preise inkl. Mehrwertsteuer Nomos