Das Parlament - Nr. 6-8 - 03. Februar 2024 IM BLICKPUNKT 9 Gemeinsames Gedenken: Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (v.l.), die Ehefrau des Bundespräsidenten, Elke Büdenbender, die Zeitzeugin Eva Szepesi und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Plenum des Bundestages. © picture-alliance/photothek/ThomasTrutschel HOLOCAUST-GEDENKEN Rednerinnen und Redner im Bundestag erinnern an die Befreiung des KZ Auschwitz 1945 Wenn Schweigen tödlich wird So gut gefüllt und gleichzeitig so Mittelpunkt der Gedenkstunde im Bundes- tag, die seit 1996 jährlich am oder um den 27. Januar stattfindet. Zu Beginn ihrer Re- de grüßt Szepesi ihre Töchter und Enkel, die sie für ihre Rede in den Bundestag be- gleitet haben. nicht. Judenhass ist kein Problem nur der Vergangenheit. Antisemitismus ist ein Pro- blem der Gegenwart.“ si. „Ich sage immer zu den Menschen: Ihr habt keine Schuld für das, was passiert ist, aber ihr habt die Verantwortung für das, was jetzt passiert.“ Sie stehe im Bundestag, um Zeugnis abzulegen, sagt die 91-Jährige am Schluss ihrer Rede. „Es war nie wichti- ger als jetzt, denn ‚Nie wieder!‘ ist jetzt!“ Elena Müller T sein, darf nur sein, muss sein: gelebte un- verrückbare Wirklichkeit!“ Was daneben jedoch auch Wirklichkeit ist, das macht neben Reif und Szepesi auch Bundestagspräsidentin Bas in ihrer Eröff- nungsrede deutlich: Man müsse sich über die Verantwortung des „Nie wieder!“ im- mer wieder neu verständigen, so Bas. „Deutsche haben sechs Millionen Jüdin- nen und Juden ermordet. Lange hatten wir gehofft: Die nachfolgenden Generationen müssten mit diesem Wissen immun sein gegen Antisemitismus. Wir merken in die- sen Tagen leider deutlich: Das stimmt »Schande für Deutschland« Bas geht auf den Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 ein und sichert in diesem Zusammenhang dem anwesenden israeli- schen Botschafter, Ron Prosor, die Solidari- tät des Bundestags zu. Die steigende Ge- walt gegenüber Jüdinnen und Juden sei ei- ne Schande für Deutschland, sagt Bas. Über 2.000 antisemitische Straftaten seien seit dem 7. Oktober begangen worden; das sei fast eine Straftat pro Stunde. „Deutschland darf und wird dazu nicht schweigen“, be- tont die Bundestagspräsidentin. „Lassen Sie uns alle den Mut haben, nicht zu schwei- gen, sondern Hass und Menschenfeind- lichkeit entschlossen entgegenzutreten.“ Im Bezug auf den zunehmenden Antisemi- tismus in Deutschland mahnte auch Sze- pesi: „Wer schweigt, macht sich mitschul- dig.“ Sie sei dankbar für die Menschen, die nach dem 7. Oktober auch ohne viele Worte für die Jüdinnen und Juden dagewesen seien. „Aber warum nur so wenige?“, fragt Szepe- »Judenhass ist kein Problem nur der Ver- gangenheit. Antisemitismus ist ein Problem der Gegenwart.« Bundestagspräsidentin Bärbel Bas liegt kurz, absolut still ist der Plenarsaal des Deutschen Bundestages nur sehr selten. Als die Holocaust- Überlebende Eva Szepesi am Mittwochmorgen am Arm des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmei- er das Plenum betritt, ist außer dem Kame- raklicken der Pressefotografen kein Laut zu vernehmen. Das andächtige Schweigen an- lässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus aber schwer über dem Hohen Haus, bis ein Stück von Ferenc Weisz, dargeboten von Studieren- den der Universität der Künste, den weiten Saal mit Musik füllt. So angemessen diese Stille ist, so wenig gilt das für das Schweigen gegenüber dem alten und dem neuen Anti- semitismus in Deutsch- land: Das betonen sowohl Szepesi als auch Marcel Reif, der als zweiter Gast- redner in diesem Jahr wäh- rend der Gedenkstunde spricht. „Die Shoah begann nicht in Auschwitz. Sie begann mit Worten. Sie begann mit dem Schwei- gen und dem Wegschauen der Gesell- schaft“, mahnt Szepesi, die als Zwölfjährige bei der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz gerettet wor- den war. Vor dem Bundespräsidenten, dessen Ehe- frau Elke Büdenbender, Bundeskanzler Olaf Scholz, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, der Vizepräsidentin des Bundesverfas- sungsgerichts, Doris König, und der amtie- renden Präsidentin des Bundesrates, Ma- nuela Schwesig, sowie den Abgeordneten des Bundestages und vielen Ehrengästen erzählt Szepesi mit fester Stimme ihre Ge- schichte. Mahnung für die Nachfolgenden Sie ha- be 50 Jahre über das Geschehene geschwie- gen, sagt die 91-Jährige, dann habe sie langsam angefangen, ihre Geschichte auf- zuschreiben. Seitdem nimmt sie wie viele andere Zeitzeugen die Aufgabe wahr, den nachfolgenden Generationen von den Ver- brechen der Nationalsozialisten zu berich- ten und zu mahnen, dass sich etwas wie die Schreckensherrschaft des NS-Regimes und das größte Menschheitsverbrechen der Geschichte, der Holocaust, niemals wieder- holt. Die generationenübergreifende Aufarbei- tung des Holocaust steht in diesem Jahr im der ich vor 79 Jahren, am 27. Schweigen als Schutz „Ich bin sehr glück- lich, dass meine lieben Töchter, Enkel und Urenkel hier anwesend sind. Euch gibt es, weil Januar 1945, von der Roten Armee als Zwölfjähri- ge in Auschwitz-Birkenau befreit wurde.“ Weil sie überlebt hat, gibt es diese nächste Generati- on. Für diese spricht nach Sze- pesi renommierte Sportjournalist Marcel Reif. Er habe erst vor wenigen Jahren die ganze Schick- salsgeschichte seines Vaters erfahren. Dieser habe geschwiegen, so Reif, um seine Kinder davor zu schützen, „Unsag- bares hören, Unfassbares erfassen und Unerträgliches ertragen“ zu müssen. Seine Schwester und er hätten ei- ne fröhliche und liebevolle Kindheit und Jugend ver- bracht. „Fröhlich und sorgenfrei nicht zu- letzt – das weiß ich heute –, weil mein Va- ter schwieg.“ sorgenfreie, Eine zweite Chance Erst nach dem Tod des Vaters habe seine Mutter ihm erzählt, was Leon Reif, ein polnischer Jude, im Ho- locaust erlebt hatte: Wie er auf der Flucht einen fremden Jungen zurückließ, in der Hoffnung, ihn zu retten, und ihn damit dem Tod preisgab. Wie er einem anderen Jungen das Leben rettete, als er ihn auf sei- nen Schultern durch den Wald trug. Reif erzählt im Bundestag, dass ihm seine Mutter bestätigte, was sein Vater gewollt und geschafft habe: „Es durfte nicht sein, dass auch noch seine Kinder von den furchtbaren Schatten heimgesucht, gequält werden, die seine Kindheit und Jugend ver- dunkelt, zerstört hatten.“ Reif bedankte sich bei Szepesi dafür, dass sie in den Bundestag gekommen war, um zu erinnern und zu mahnen. „Damit ge- ben Sie diesem neuen, anderen Deutsch- land mit ihrem unfassbar großen Herzen eine Chance, es anders, besser, richtig zu machen“, sagte Reif in Richtung der Zeit- zeugin. Aber diese zweite Chance dürfe nicht – „niemals und nirgends“ – vertan werden. „‚Nie wieder!’ ist mitnichten ein Appel“, sagte Reif, „‘Nie wieder!‘ kann nur Die Reden von Bärbel Bas, Eva Szepesi und Marcel Reif finden Sie im Wortlaut in der Debattendokumentation dieser Ausgabe. »Mir soll kein Deutscher erklären, dass es reicht« MARCEL REIF IM INTERVIEW Ein Gespräch über den Terror der Hamas und Antisemitismus in Deutschland Herr Reif, man kennt Sie vor allem als Sportjournalist. Jetzt haben Sie im Bun- destag zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus gesprochen. Wie kam es dazu? Es gab eine Anfrage aus dem Büro der Bun- destagspräsidentin. Ich habe, wie Sie rich- tig sagen, einen Beruf – und ich habe ein Leben. Ein Leben, zu dem ein Vater gehört, der den Holocaust überlebt hat. Ich denke deshalb hat man mich kontaktiert. Aber ich habe mich zunächst sehr schwer getan, zuzusagen. Warum? Mein Vater hat über diese Zeit nicht ge- sprochen. Und jetzt soll ich hingehen und mich im Bundestag wichtigmachen? Das war eine große Hürde für mich. Sie waren dann aber doch da. Erstens sagt man der Bundestagspräsiden- tin nicht einfach: Mach ich nicht. Zweitens habe ich angefangen darüber nachzuden- ken und habe in einem Vorgespräch er- klärt, wie ich meine Rolle sehe und wie nicht. Ja, Würden Sie sagen, dass es jetzt an Ih- nen ist, dass es Aufgabe der zweiten Ge- neration ist, das Gedenken lebendig zu halten? Eine sehr gute Frage – und eigentlich leicht zu beantworten: selbstverständlich! Aber Hallo! Mein Vater würde im Grab ro- tieren, wenn er wüsste, dass wir darüber re- den, wie sich antisemitische Tendenzen in Deutschland bekämpfen lassen. – Nur: Wie soll das aussehen? Mahnungen? Appelle? Aber klar: Dieses Land – gerade dieses Land! – muss weitergehen in dieser Rich- tung. Nie wieder! Das ist Nationalräson, Staatsräson, Volksräson. Wer sich nicht an diese Räson hält, der muss zur Räson ge- bracht werden. Ich weiß nicht, was die zweite, dritte Generation tun kann. Ich weiß nur, dass ich das Maul aufmachen muss. Mir soll kein Deutscher erklären, „es reicht, irgendwann ist mal gut“. An der Stelle bin ich Kämpfer. Es ist ja auch deshalb nicht vorbei, weil es nicht vorbei ist: In Deutschland gibt es Antisemitismus – das ging im Jahr 2019 bis zum versuchten Massen- mord in einer Synagoge in Halle. Wie steht es angesichts dessen um Ihr Sicher- heitsgefühl in Deutschland? Ach! Ich fühl mich sicher. Ich habe persön- lich nichts erlebt. Ein einziges kleines Brieflein in meiner ganzen Karriere mit an- tisemitischen Andeutungen. Aber allein, dass Sie mir diese Frage stellen, ist doch Wahnsinn. In diesen Wochen kann man kein Ge- spräch über jüdisches Leben führen, ohne auf den 7. Oktober 2023 zu sprechen zu kommen. Wie haben Sie den Tag des Ter- rorakts der Hamas erlebt? Ich habe eine Cousine in Tel Aviv. Die hat drei Söhne, die wissen, dass sie jederzeit einberufen werden können, und wenn die einberufen werden, dann haben die die Al- ternative: Grenze zum Libanon oder Gaza- streifen. Deswegen ist das etwas, was mich sehr berührt. Nach dem 7. Oktober habe ich Kontakt gesucht, habe viel erfahren. Es ist schrecklich. Deswegen halte ich Kon- takt, will wissen, wie sie heute ihren Tag verbringen. Dabei geht es nicht darum, ob sie am Strand sind oder nicht, sondern, ob sie im Krieg sind. War der 7. Oktober ein Moment, wie es der 11. September 2001 es für viele war: Ein Ereignis, das das Leben in ein Davor und ein Danach teilt? Das war es. Ja, natürlich. In Israel ist das 9/ 11. Und zwar, ich würde sagen, mit noch größerer Tragweite für das inner-israelische Leben als damals in den USA. David Ben- Gurion, einer der Gründerväter des Landes, hat einmal gesagt, das Schicksal Israels hänge von zwei Dingen ab: seiner Gerech- tigkeit und seiner Stärke. Über die Entwick- lung der Gerechtigkeit in den letzten Jah- ren lässt sich diskutieren. Stärke allerdings ist nicht verhandelbar, weil alternativlos. Dieser Grundpfeiler aber ist massivst be- schädigt. Israel wird innenpolitisch nicht so schnell wieder sein, was es war. Wie l r e e p p a K l e a h c i M a p d / e c n a i l l a - e r u t c i p © man jemals zusammen leben will, nach all dem Leid, das man sich gegenseitig zuge- fügt hat – ich weiß es nicht... Wie haben Sie die „Friedens“- und „Free-Palastine“-Demos erlebt? Was sich da auf deutschen Straßen abge- spielt hat, ist unerträglich. Hier ist etwas passiert, das dieser Rechtsstaat nicht hin- nehmen kann. Es darf keine Demonstratio- nen geben, auf denen das Existenzrecht Is- raels, dieses Staates mit seinen Menschen, in Frage gestellt wird. Da hätte ich gerne ei- ne klarere Reaktion gesehen. Die Zahl der antisemitischen Strafta- ten in Deutschland steigt. Was läuft da eigentlich schief trotz aller Bemühungen um Aufklärung? Einerseits wird in vielen Ecken gedacht, es ist genug bewältigt, genug aufgearbeitet. Aber aufzuarbeiten gilt es ein Leben lang, für jeden. Und dabei geht es nicht nur um Antisemitismus, sondern auch um Rassis- mus, um Fremdenfeindlichkeit in jeder Form. Und dann kommt manches von au- ßen dazu. Aus Weltgegenden, aus Lebens- kreisen, in denen Antisemitismus, Anti- israelismus Staatsreligion ist. Damit muss man sich auseinandersetzen. Was müsste sich aus Ihrer Sicht än- dern? Wenn Sie die Bundesregierung be- raten sollten… … soweit kommt es noch! Nein. Das ist nicht mein Beritt. Aber was ich sagen wür- de, ist: Auf keinen Fall nachlassen. Hilflo- sigkeit, die ich auch oft verspüre, darf nicht zu Resignation, Teilnahmslosigkeit, Läh- mung führen. Marcel Reif im Bundestag Das Gespräch führte Michael Schmidt. T