8 LEIPZIGER BUCHMESSE Das Parlament | Nr. 13 | 22. März 2025 Welche Rolle Kinder und Familien in unserer Gesellschaft spielen Unverzichtbare Außenseiter Kinder sind zahlenmäßig in der Minderheit und auch ihre Familien als Wählergruppe zu klein. Deshalb spielen ihre Belange in der Gesellschaft eine untergeordnete Rolle. Dies kritisieren zwei Bücher auf sehr erhellende Weise und fordern ein Umdenken – für die Zukunft Es ist seit dem ersten PISA- Schock 2001 regelrecht eine alte Leier: „Wir müssen mehr in die Bildung investieren und dafür sorgen, dass Herkunft nicht mehr über den Bildungserfolg entscheidet.“ Das Ergebnis: Seit Jah- ren sinkende Kompetenzen schon der Viertklässler und steigende Zah- len von Schulabbrechern. Der Hand- lungsbedarf ist akut. In der Debatte taugt er aber leider zu oft nur für den kurzen Skandal, dann verschwindet das Thema schnell wieder. Um so besser, dass es nun zwei Bü- cher gibt, die hier den Finger in die Wunde legen und Lösungsansätze formulieren. „Kinder. Minderheit oh- ne Schutz“ tut dies sehr sachlich und soziologisch fundiert. Den drei Auto- ren, allesamt Professoren für Soziolo- gie und Politikwissenschaften, gelingt ihre Analyse in einem so bemerkens- wert unakademisch lockeren Tonfall, dass man dieses Buch problemlos mit an den Strand nehmen kann – und mit einem großen Erkenntnis- gewinn wieder nach Hause geht. Es analysiert zunächst in einer Art Grundkurs Soziologie, wie es in der Arbeitsteilung moderner Gesellschaf- ten dazu kommen konnte, dass Kin- der eine Außenseiterrolle einnehmen und wie die demografische Entwick- lung diesen Umstand dramatisch ver- stärkt – gesellschaftlich und im Hin- blick auf politische Teilhabe. Auch El- tern würden in der modernen Gesell- schaft im beruflichen und gesell- schaftlichen Leben, faktisch überall außerhalb der Familie, weitgehend wie kinderlose Erwachsene behan- delt, weshalb der Alltag von Eltern und Kindern eine ständige Heraus- forderung sei, schreiben die Autoren. Diese, so die mit Studien unterfütter- te, traurige Erkenntnis, gelinge im- mer mehr Familien immer schlech- ter. Überfordert seien aber nicht nur Familien im Spagat zwischen Arbeits- und Familienzeit. Überfordert seien auch die für Kinder zuständigen In- stitutionen wie Kitas und Schulen. Rolle für die Zukunftsfähigkeit eines Landes, schreibt Schulz. Sein Buch ist eher ein, manchmal po- lemischer, Essay, der schon mit der Forderung beginnt, das Familienmi- nisterium abzuschaffen. Begrün- dung: Dort werde keine Politik für Fa- milien, sondern letztlich für Arbeitge- ber gemacht, die wollen, dass ihnen die Arbeitskraft der Eltern möglichst umfassend zur Verfügung steht. Das ist zweifellos ein Einwand, über den man nachdenken kann. Er rechnet vor, welche enorme Brut- towertschöpfung die Care-Arbeit in Familien jedes Jahr erwirtschaftet, und wie wenig sie dafür von der Ge- sellschaft zurückbekommen. Seine Lösung des Problems fängt bei einer anderen Steuerpolitik an, geht über zu konkreten Familienleistungen, um Köche und Putzhilfen zu bezahlen, bis hin zu mehr Investitionen in Ganztagsbetreuung. „Wir brauchen ein neues Nachdenken über Familien als vielleicht wichtigsten Teil der mo- dernen Gesellschaft“, so Schulz. Auch er konstatiert also eine Überfor- derung, streift dabei jedoch so viele Aspekte, von der sinkenden Gebur- tenrate, über das Scheitern der Kin- dergrundsicherung und die Erfin- dung der romantischen Liebe bis zur Familienpolitik in Russland, das der rote Faden beim Lesen mitunter ver- schwindet. Aber er taucht dann auch wieder auf: Familie kann mehr sein als die traditionelle Kernfamilie und sollte auch jenseits davon mehr Un- terstützung erfahren. Claudia Heine T Stefan Schulz: Die Kinderwüste. Wie die Politik Familien im Stich lässt. Hoffmann und Campe, Hamburg 2025; 160 S., 22,00 € Die Bruttowertschöpfung der unbezahlten Care-Arbeit innerhalb von Familien liegt bei knapp 990 Milliarden Euro jährlich. © picture-alliance/dpa Das ist freilich keine neue Erkennt- nis, weshalb sich die Autoren damit auch nicht lange aufhalten, sondern stattdessen fragen: Was brauchen Kinder? Was brauchen Familien? Und wie sollten die Bildungsinstitutionen ausgestattet sein, um den Herausfor- derungen gerecht zu werden? Das Wohltuende an der Analyse: Sie ist keine Anklage, sondern an Lösun- gen orientiert, sie denkt von den Be- dürfnissen der Kinder aus. Und die sind nicht unerfüllbar: Sie brauchen, erstens, eine Familie, die Zeit hat. In den Niederlanden zum Beispiel sei es sehr verbreitet, dass beide Eltern ihre Arbeitszeit so reduzieren, dass mehr Zeit für die Familie bleibe und steuer- lich auch keine Nachteile aus diesem Modell entstünden. Es steigere statis- tisch messbar das Wohlbefinden aller Kinder, wenn die Familie regelmäßig zusammen esse, so die Autoren. Und weil es ihnen nicht darum geht, Generationen gegeneinander auszu- spielen, sehen sie in den Senioren ein wichtiges Potenzial dafür, „dass Kin- der mit ihnen verbundenen Erwach- senen (auch außerhalb der Familie) regelmäßig die richtigen Dinge tun können, bei denen sie wichtige Er- fahrungen für ihr Leben machen“. Neben der Familie, die Zeit hat, ent- scheiden, zweitens, die Erfahrungen in Kitas und Schulen über das Wohl- befinden. Sind dies Orte, an denen Kinder sich gesehen und wertge- schätzt fühlen, geht es ihnen messbar besser. Aber wie sollen sie gesehen werden, wenn 31 Schüler in einer Klasse sitzen? Da Kinder sehr viel Zeit in der Schule verbringen, sei es nötig, diese „zu einer Lebenswelt umzuge- stalten, die endlich gut für Kinder und ihre Gesundheit ist“, fordern die Autoren. Kitas und Schulen könnten „multifunktionale Orte“ in diesem Sinne sein, wenn die Prioritäten an- ders gesetzt würden. Ein anderer Ansatz, aber die Kritik ist die gleiche Aladin El-Mafaalani, Sebastian Kurtenbach, Klaus Peter Strohmeier: Kinder. Minderheit ohne Schutz. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025; 278 S., 24,00 € Schon der Titel „Die Kinderwüste. Wie die Politik Familien im Stich lässt“ zeigt, dass der Journalist Stefan Schulz einen anderen Tonfall an- schlägt. Die Kritik ist freilich dieselbe: Politisch müssten sich die Belange von Familien stets anderen, ver- meintlich wichtigeren Belangen un- terordnen. Dies verkenne aber deren Globales Bevölkerungswachstum Der exponentielle Trend ist gestoppt Dana Schmalz beschreibt die Folgen des Alarmismus in der Demografie – und gibt für die Zukunft Entwarnung Spätestens zu Beginn des 22. Jahr- hunderts, sagen neuere Extrapolatio- nen voraus, dürfte die Zahl der Erd- bewohner sinken. Die Versorgung von dann rund zehn Milliarden Men- schen mit Nahrungsmitteln ist durch Fortschritte in der Landwirtschaft gut gesichert. Trotz starker Ungleichge- wichte und Katastrophen vor allem im subsaharischen Afrika haben sich frühere „Hungerprognosen“ als weit- gehend falsch herausgestellt. So be- sehen gibt es gute Gründe für die ent- spannte Betrachtung eines Themas, das aber vor allem in den 1960er und 1970er Jahren als bedrohliches Sze- nario diskutiert wurde. Dana Schmalz, Referentin am Heidel- berger Max-Planck-Institut für aus- ländisches Recht und Völkerrecht, analysiert, wie „die Sorge vor zu vie- len Menschen Politik beeinflusst“. Ihr zufolge nutzen manche Regierungen bis heute das „Bevölkerungsargu- ment“, so der etwas umständliche Buchtitel, um zum Beispiel die repro- duktiven Rechte von Frauen einzu- schränken. Auch rechtspopulistische Kreise verweisen häufig auf angeblich zu hohe Geburtenraten anderswo. Soziale verteilungspolitische Probleme werden auf ein übermäßi- und ges Bevölkerungswachstum in ent- fernten Weltregionen zurückgeführt, das reicht bis zur rassistischen Ver- schwörungstheorie vom „großen Austausch“. Die „Verdächtigung der Unerwünschten“, so eine Kernthese der Autorin, bilde den latenten Hin- tergrund vieler Kontroversen um das Thema Migration. Rapides Bevölkerungswachstum in Europa ab 1800 Alarmismus in demografischen Prog- nosen ist nichts Neues. Schon 1798 schrieb Thomas Malthus seinen be- rühmten „Essay on the principle of population“. Der britische Pfarrer und spätere Professor für Ökonomie machte pauschalisierend „die Ar- men“ für das Bevölkerungswachstum verantwortlich, diese hätten einfach zu viele Kinder. Das Privatleben der Menschen moralisch zu bewerten und zu verurteilen wurde im 19. Jahr- hundert zu einem weit verbreiteten Deutungsmuster – und der Prediger Malthus damit zu einer zentralen Fi- gur der sich etablierenden Wissen- schaft von der Demografie. Die diesen Diskurs prägende „Unru- he“, wie Dana Schmalz es nennt, hat- te handfeste Ursachen. Bessere Le- bensbedingungen durch die Indus- trialisierung sowie der medizinische Fortschritt bewirkten ein rapides Sin- ken der Kindersterblichkeit. Die Be- völkerung weltweit, die im Mittelalter und auch noch zu Beginn der Neuzeit relativ konstant geblieben war und zudem immer wieder durch Seuchen wie die Pest dezimiert wurde, wuchs ab ungefähr 1800 rasant – anfangs vor allem im vergleichsweise reichen Europa der Kolonialmächte. Schmalz liefert dazu anschauliche Statistiken: In England und Wales stieg die Zahl der Einwohner im Lau- fe des 19. Jahrhunderts von knapp neun auf 32 Millionen. Deutschlands Bevölkerung nahm im selben Zeit- Dana Schmalz: Das Bevölkerungs- argument. Wie die Sorge vor zu vielen Menschen Politik beeinflusst. Suhrkamp, Berlin 2025; 184 S., 18,00 € raum von 18 auf 55 Millionen zu. Die- se Beispiele sind umso bemerkens- werter, weil allein von 1850 bis 1913 rund 40 Millionen Europäer nach Amerika emigrierten. Die ersten Einwanderungsgesetze zur rassistischen Steuerung der Migrati- on erließen nicht zufällig die Siedler- kolonien in Nordamerika und Austra- lien. Willkommen waren dort vorran- gig nordische Nationen wie Briten, Deutsche oder Skandinavier. Italie- ner, Osteuropäer und erst recht Asia- ten und Afrikaner – wenn sie nicht zuvor als Sklaven verschleppt worden waren – sollten draußen bleiben. Afrika ist der am schnellsten wachsende Erdteil „Nicht nur das Wachstum der Welt- bevölkerung insgesamt, sondern be- sonders die regionalen Verschiebun- gen machten Bevölkerungsfragen zu einem so intensiv diskutierten The- ma”, resümiert Schmalz. Das gilt erst recht für die Entwicklung der letzten Jahrzehnte, die durch niedrige Fertili- tätsraten in den meisten westlichen Staaten, aber weiterhin hohe Kinder- zahlen im globalen Süden gekenn- zeichnet ist. Gemessen an der Bevöl- kerungszahl ist inzwischen Afrika der am schnellsten wachsende Erdteil. Derzeit leben dort rund 1,5 Milliar- den und damit 17,5 Prozent aller Menschen weltweit, im Jahr 2050 werden es bereits 25 Prozent sein. Mit Hinweisen auf die Zuwanderung nach Europa und auf den Klimawan- del wird vor dieser Entwicklung ge- warnt – und dabei vergessen, dass die afrikanischen Fluchtbewegungen überwiegend im eigenen Kontinent stattfinden und für die Erderwär- mung vorrangig die Emissionen der Industriestaaten verantwortlich sind. Der exponentielle Trend bei der Welt- bevölkerung nach oben ist jedoch ge- stoppt. Dazu beigetragen haben vor allem Maßnahmen in den beiden einwohnerstärksten Ländern welt- weit, in denen zusammen alleine drei Milliarden Menschen und damit mehr als ein Drittel der Bevölkerung leben: China propagierte weltweit über sogenannte „Ein-Kind-Politik”, die mittlerweile etwas weniger rigide praktiziert wird. Und in Indien führte eine breite Auf- klärung über Verhütungsmittel und der wachsende Wohlstand zu einer demografischen Umkehrung Trends. Thomas Gesterkamp T Jahrzehnte die des